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Javier und Gumersinda, die Francisco ungern mehr der alleinigen Obhut eines alten Dieners anvertraut sahen, schlugen ihm vor, eine entfernte Verwandte als Haushälterin aufzunehmen.
Leocadia Servilla, eine Frau anfangs der Dreißig mit unruhiger Vergangenheit, Zirkusreiterin eine Zeitlang, dann Gattin eines elsässischen Kaufmanns mit Namen Weiß, war von ihrem Mann verlassen worden und tauchte nun mit ihrem Töchterchen Maria del Rosario in Madrid auf – in der Hoffnung, daß ihr die Angehörigen der elterlichen Familien weiterhelfen würden.
Francisco erklärte sich zu einem Versuch bereit. »Das Kind kann mitkommen«, sagte er, »ich höre es ja doch nicht.«
Doña Leocadia fühlte sich unter den in die Wände gebannten Dämonen ziemlich unbehaglich, aber der schrullige, zwischen dumpfe Tage hinein plötzlich wie ein Jüngling lossprühende Vetter gefiel ihr trotz seiner Taubheit nicht übel, man sah seiner aufrechten Gestalt, den lebendigen Augen, dem wenig faltigen Gesicht mit dem vollen, kaum angegrauten Haar die nahenden Siebzig nicht an. Außerdem knauserte er mit dem Geld nicht und war, wie sie rasch erkannte, in ganz Spanien berühmt.
Als sie, nach anfänglicher Vorsicht kecker geworden, ihm eines Tages ihr Mißfallen an den Wandbildern temperamentvoll zu erkennen gab, hieß er sie Prunkkamm und Schleier anlegen und malte eine rasche Skizze von ihr. Die übertrug er dann groß auf eine Wand des Erdgeschosses – auf die, die jedem Eintretenden zuerst ins Auge fiel.
So wurde sie Herrin und Türwächterin des Grauens. Stolz auf dieses Amt unterließ sie es, über die Schreckenskammern zu murren, legte vielmehr Wert darauf, daß sie von den Besuchern in der reizvoll an einen Felsen sich lehnenden Wandfigur wiedererkannt werde. Und da Francisco nun um sie warb und sie nicht widerstand, wurde sie bald auch heimliche Herrin des Hauses.
Nur zu dem Raum, in dem er radierte und die Platten und Abzüge wohlverschlossen aufbewahrte, verwehrte er ihr für immer den Zutritt.
Wochen dünkten ihn Jahre, und Jahre lagen zusammengepreßt wie Monate hinter ihm.
Drei Einladungen des Kapitels der Kathedrale von Sevilla, ein Bild ihrer Schutzheiligen, der frühchristlichen Märtyrerinnen Justa und Rufina, zu malen, lehnte Francisco ab. Die Kathedrale war sehr reich, hohe Bezahlung wurde angeboten, aber die Arbeit hätte in Sevilla selbst geleistet werden müssen, da die gewünschten großen Verhältnisse den Transport des fertigen Werkes ausschlossen. Auch fühlte sich Francisco weit von der Möglichkeit entfernt, Kirchenheilige zu malen.
Als die vierte, dringende Bitte eintraf, schlug plötzlich seine Laune um. Mit einer grimmigen Bereitwilligkeit sprach er zu Leocadia über den Plan, zu reisen. Sie bekannte, daß ihr in der ländlichen Ruhe die Wanderlust ohne Unterlaß im Blut brenne, und erbot sich angelegentlich, ihn zu begleiten, Rosarito könne bei Verwandten unterkommen. Er aber brummte, ihm falle es nicht schwer, sich allein zurechtzufinden, eine schöne Frau als Anhang würde bei den Prälaten nur Anstoß erregen, zudem könne das Haus nicht ohne Aufsicht bleiben – und so mußte sich Leocadia seufzend bescheiden.
Er bediente sich auf Kosten des Kapitels rascher und einigermaßen bequemer Fuhrwerke.
Auch mit Cayetana war er einst, denselben Weg, rasch und bequem gereist – von Toledo ab, wo er nun gleichfalls haltmachte ...
In der Kathedrale erkannte er genau die Stelle wieder, an der die Geliebte angesichts des Hochaltars niedergekniet war. Er sank durch all die Jahre zurück wie durch eine kurze, wesenlose Leere, es war weniger als ein Schritt, sah die Kniende schattenhaft und dann plötzlich deutlich vor sich, vermeinte fast ihren Duft zu spüren. Der Altar stand in der Dämmerung ... jetzt überstrahlten ihn Kerzen ... alte Worte, alte Melodien klangen über Meßbüchern auf ... er hörte sie gesunden Ohres. Warum wendet ihm die Kniende das Gesicht nicht zu? Oh – er weiß ja, daß sie es nicht wenden wird. Sie ist mit einer Andächtigkeit in sich versunken, die er von ihr nicht begreift. Aber sie fühlen sich doch wechselseitig, auch sie fühlt ihn. Was für eine Frau! Stärker, freier als alle andern.
Daß er ein zweites Mal hier gestanden hat, ohne sie, ganz und gar ohne sie, von ihr verwundet – das ist ausgelöscht. Nein – das hat sich noch gar nicht ereignet. Braucht nicht zu kommen. Vergangene Zukunft, die man als eine Leere durchschreitet ...
Und doch hält er einen Atemzug lang im Durchschreiten dieser Leere inne ... Hier, in diesem Tempel, hat er einmal darüber nachgedacht, ob sein Werk wohl von Gott begnadet werde. Heut gibt er eine Antwort, eine schrille Antwort: Ich weiß jetzt, daß man auch von den Dämonen begnadet werden kann ...
Einige Tage später rollt sein Wagen über den Paß, auf dem sich damals das Mißgeschick ereignete ... Wie heftig hatte er doch einmal im Gespräch mit Javier die Zaragozaner Erinnerungen als überflüssig und lästig von sich gewiesen: es sei niemals gut. Altes wieder wachzurufen. Und nun – kommt er bei sich selbst in den Verdacht, diese Reise um der Erinnerungen willen unternommen zu haben ...
Das Domkapitel besorgte ihm Unterkunft in einem Gasthaus, aber er siedelte schon am zweiten Tage zu dem Maler José Maria Arango über, der dem berühmten Ersten Kammermaler des Königs seinen Besuch gemacht hatte und es sich zur Ehre anrechnete, ihn zu beherbergen und ihm sein geräumiges Atelier zur Verfügung zu stellen. Die Herren von der Kunstkommission des Domkapitels machten nicht unbedenkliche Gesichter, denn José stand im Geruch freigeistiger Ansichten, ja der Freimaurerei, aber sie waren nicht imstande, dem angesehenen Gast einen anderen seinen Anforderungen entsprechenden Arbeitsraum in Vorschlag zu bringen.
Es war der Wunsch der Besteller, den beiden heiligen Frauen möchte ein Löwe beigegeben werden als Sinnbild dessen, daß sie auf der Flucht in Bergwildnisse durch ihre Heiligkeit selbst solche Wildheit bezähmten, man einigte sich dahin, daß er zu ihren Füßen kauere, vor denen auch die Trümmer der von den beiden Schwestern einstmals im heidnischen Sevilla tollkühn niedergerissenen Bildsäule der Göttin Venus sichtbar sein sollten. Die Beziehung zur Stadt beschloß man dadurch noch deutlicher zu machen, daß im Hintergrund die Giralda, Sevillas weitbekannter, wenn auch viel später entstandener Kathedralturm, dargestellt werde. Wohl war dieser Turm ursprünglich Minarett der maurischen Hauptmoschee gewesen, aber der christliche Aufbau mit seinen vierundzwanzig dröhnenden Glocken, die ihm täglich und stündlich die Seele durchzitterten, hatte ihn genügend geweiht und gewandelt, um ihm selbst neben der auserlesensten Heiligkeit würdigen Bestand zu sichern. Schließlich wollte man es dankbar begrüßen, wenn die bescheidene Abkunft der beiden Heiligen durch einen Hinweis auf das Töpfereihandwerk ihres Vaters gefeiert würde – ein Hinweis, der, es wurde nicht ausgesprochen, angesichts so vieler heiliggesprochener Päpste, Bischöfe und Königinnen seine gute, auf Volkstümlichkeit bedachte Bedeutung hatte.
Francisco gönnte sich keine Ruhe, verschloß sich der Berührung des lauen andalusischen Frühlings. Sogleich nachdem jene Einzelheiten festgelegt waren, bedrängte er seinen Wirt, ihm zwei käufliche Mädchen als Modelle zu besorgen. Der wußte sich vor Verblüffung kaum zu fassen, glaubte aber allmählich zu verstehen, lachte in respektvoller Kollegialität und schrieb auf ein Blatt: »Ein genialer Künstlerstreich erster Ordnung!«
Doch Francisco verzog nur den Mund und schüttelte mürrisch den Kopf.
Don José wandte sich nun der Meinung zu, Señor de Goya verstelle sich vorläufig, um sich zu dem Scherz später desto lustiger zu bekennen – jedenfalls befliß sich der höfliche Gastgeber, den Wunsch zu erfüllen. Einfache Straßenmädchen hätte er nicht ins Haus genommen, und so fand er sich denn mit zwei schönen Kurtisanen gehobenen Standes ein.
Sie wurden, während José verliebt blinzelte, Francisco aber ernst und ungeduldig wartete, in antike Gewänder gesteckt, doch so, daß der Faltenwurf ihre vollen Körperformen ausreichend zur Geltung brachte, auch erhielten die eigenartigen Umstürzlerinnen der Venussäule je einen irdenen Topf in die Hand gepreßt und mußten ihre Blicke in leidenschaftlicher Pose gen Himmel richten. In dieser Haltung malte sie der Meister – das heißt: er fertigte in fast wütender Hast einige Studien an, die ihm für die Ausführung im großen als Vorbild dienen sollten, deren Zweck aber den Modellen verheimlicht wurde.
Denen war die ganze Sache nicht recht geheuer. Nur weil sie hohe Bezahlung empfingen und dazu das Versprechen, sie würden keinesfalls in Schwierigkeiten verwickelt werden, sahen sie davon ab, die ungewohnte Tätigkeit vorzeitig abzubrechen. Daß unverbrüchliches Schweigen in ihrem eigenen Vorteil liege, teilten ihnen die beiden Maler eindringlich mit.
Auf dem großen Bild wurden die Gesichter unkenntlich gemacht, ohne daß der heuchlerisch-frömmelnde, in Wahrheit sinnenfrohe Ausdruck ihrer Mienen Einbuße erlitten hätte.
Während dieses Fortschreitens der Arbeit wartete José Maria Arango vergebens darauf, daß Francisco sein Schweigen breche, wagte aber schließlich die Frage nach dem Sinn und Grund der Modellauswahl.
»Weil mir die Heuchelei zuwider ist«, stieß Francisco fast zornig hervor, »dies ist ein Schlag gegen die Heuchelei. Von den Königen und Kirchenfürsten wird oft genug für heilig erklärt, wer sich solchen Spruch durch eine verlogene Maske erschlichen hat. Und wen sie an den Schandpfahl binden, der ist zumeist der größten Ehren würdig. Ich aber erlaube mir, die Rollen zu vertauschen. Wie Sie sehen, vollführe ich die feierliche Heiligsprechung der Menschen vom Schandpfahl. Ich male ein Heiligenbild ohne Maske – nichts anderes.«
Don José schaute ihn etwas verwirrt an. Die Zusammenhänge enthüllten sich ihm nicht so ganz, und das gurgelnde Gelächter, das der Gast seinen hitzigen Worten folgen ließ, bestärkte ihn in der Besorgnis, es möchte im Kopf des Alten nicht mehr alles richtig sein.
»Ich verlange Achtung vor dem Schicksal dieser Frauen«, fuhr Francisco fort. »Ihre Leiden sind keinesfalls geringer als die, die man anerkannten Märtyrerinnen zuschreibt.«
Don José, obschon er noch immer sein Unbehagen nicht loswerden konnte, nickte respektvoll mit dem Kopf. Allerdings waren ihm bisher an den beiden Mädchen keine Spuren des Leidens aufgefallen ...
Als das Bild beendet war, kündigte Francisco an, er werde ihm eine Unterschrift großen Stils geben, damit niemand am Ernst seiner Arbeit zweifle: »Ich bin vor den Augen der Menschen Diener eines Fürsten, vor denen der Geister aber regierender Fürst und werde von meinen Rechten Gebrauch machen.«
Aus einem Rest Erinnerung an die Titulatur römischer Kaiser heraus – wobei ihm ein kleiner Sprachirrtum unterlief – signierte er dann vor Josés Augen mit einer Floskel der Feierlichkeit und des Selbstbewußtseins, die er nie zuvor angewandt hatte: Francisco de Goya y Lucientes, Caesar Augustanus und Erster Kammermaler des Königs ...
Nach Madrid zurückgekehrt – mit einer hohen Bankanweisung in der Tasche –, verströmte sich Francisco sogleich in neue Arbeit, und seine unbändige Schaffenskraft brach aus dem Natürlichen, allen Sichtbaren, das ihm längst ausgeschöpft schien, ungestümer aus als je.
Er überzog zwei weitere Wände mit dämonischen Fresken. Grub in die Kupferplatte Gruppen von Männern und Frauen, denen abscheuliche Gier, gemeiner Rausch, stumpfe Blödheit ins Gesicht geschrieben stand. Nicht jeder tausendste Mensch trägt so verworfenen Ausdruck zur Schau, Francisco aber bevölkerte damit die Erde. Zeichnete auf Papier, Kupfer und Stein in einer jenseits jeder Wirklichkeit liegenden Phantastik Szenen, die alle im Stierkampf aufgepeitschten Leidenschaften, Spannungen, Atemlosigkeiten in eine einzige Vision hineindrängten, die Zuschauer waren dabei zu einem großen bösen Tier zusammengeronnen, das die Arena umklammert und die Befriedigung seiner Blutgier erzwingt.
Um aber in die letzten Hintergründe des Verdammtseins zum Menschendasein hineinzuleuchten, schuf er sich, als sei er ein Gott oder ein Teufel, seine eigene Welt. Schuf Wesen von einem Grauen, als habe er die Macht, in die Alpträume der gequältesten Menschen der ganzen Erde zu schauen, Wesen, wie sie diese Erde nie geboren hat, Mißgeburten kosmischer Sümpfe ... schuf in solche Welten hinein Szenen von einem Schrecken, der jedem Menschen, der sie erleben müßte, das Mark in den Knochen und das Gehirn im Schädel erstarren ließe.
Dann riß die Saite.
Durch Körperschwere, Körperangst, Dumpfheit nur ein paar Stunden lang angekündigt, überfiel ihn heftiges Fieber. Er verlangte selbst nach einem Arzt und bestand darauf, daß kein anderer als Don Gaspar gerufen werde, der Cayetana in ihrer letzten Krankheit beigestanden hatte.
Don Gaspar, behutsam, grau und wortkarg geworden, fand ihn schon bei gestörtem Bewußtsein, seine Linderungsmittel prallten ab.
Ein bewährter Pfleger, Mitglied einer frommen Bruderschaft, wurde beigezogen, um sich mit Doña Leocadia in die Wartung und unablässige Beobachtung des Kranken zu teilen.