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Francisco zeichnete mit Feder und Pinsel. Gerade als die Herzogin ins Zimmer trat, kam er mit dem Blatt zu Ende. Es stellte eine merkwürdige Gruppe dar: Ein Affe saß vor einer Staffelei und malte, der Gegenstand, den er mit scharfem, wichtigem Blick erfaßte, war ein aufrecht sitzender Esel, dessen hell erleuchteter Kopf sich sichtliche Mühe gab, bedeutend dreinzuschauen, dem auf der Leinwand erscheinenden Konterfei war sehr geschmeichelt, insofern es ein Halskragen und eine Amtsperücke schmückten, unter welch letzterer sich die Ohren schamhaft verbargen.
Während ihm Cayetana über die Schulter sah, setzte Francisco mit verkniffenem Mund eine Inschrift unter die Zeichnung: Ein Esel bleibt immer ein Esel, auch wenn ihm der Maler alle erdenklichen Würden hinzudichtet.
Cayetana strich ihm über das ungebärdige schwarze Haar. »Wie schön, daß du arbeitest«, sagte sie nahe seinem Ohr.
Er lachte zufrieden und vergnügt, aber es war doch ein schwerer, dunkler Unterton in diesem Lachen.
»Ich weiß selbst nicht, ob der Affe ich bin oder einer meiner Kollegen«, stellte er nach einer Pause fest und lehnte die Zeichnung an ein paar auf dem Tisch aufgeschichtete Bücher.
Auf einem andern Blatt war ein Esel zu sehen, der zufrieden die Zähne bleckend in der Kleidung eines Aristokraten auf einem Stuhl saß und mit den Hufen ein Buch voller Stammbäume durchblätterte, jedes Glied des aufgeschlagenen Stammbaumes stellte einen Esel dar und das am Tisch befestigte feierliche Wappen zeigte gleichfalls einen Esel. Bis auf den Urahn – stand darunter.
Unter einer toll, lächerlich, grausig maskierten Gesellschaft war zu lesen: Alle wollen scheinen, was sie nicht sind, dabei kennt niemand sich selbst.
Ein bocksbeiniger Riese mit stumpfer, heimtückischer Fratze saß auf der Erdkugel und hob einen lächerlichen Menschen in die Höhe, dem aus Kopf und Händen Rauch dampfte. Das Menschlein war blind dafür, daß die dumpfe Kraft, die es jetzt emporhob, im kaum verflossenen Augenblick zwei andere Glücksritter mit weitem Schwung in den Abgrund befördert hatte, während doch das Gesicht des Riesen keinen Zweifel darüber ließ, daß der dritte Absturz sogleich folgen werde. Dieses temperamentvolle Blatt trug außer seinem Titel »Steigen und Stürzen« mehrere Sätze einer grimmigen Philosophie: Das Schicksal behandelt den sehr schlecht, der ihm den Hof macht. Die Mühe, die es kostet, sich hochzubringen, geht in Rauch auf. Wer einmal hochgekommen ist, den züchtigt das Schicksal, indem es ihn wieder hinabwirft.
»Morgen beginne ich ein Bild«, sagte er, »und du sollst es nicht sehen, ehe ich fertig bin.«
Als sie dann wiederkam, hatte er das Meer gemalt – so wie es ihnen in San Lúcar erschienen war: als das gegen seine Ufer anrennende, sie überflutende ungeheure Element. Eine Gruppe verzweifelter Männer, Frauen, Kinder drängte sich auf der Flucht vor einer ringsum steigenden, stürmischen See auf dem letzten Stück trockenen Landes zusammen – Menschen in höchster Todesnot. Hat sie ein Schiffbruch auf diese Inselscholle verschlagen? Er wußte nur, daß er den Sieg der Meereskraft über die menschliche Ohnmacht malte und darin zugleich den grauenhaften Angriff des Ungeheuers Schicksal auf eine Schar Erdenbewohner, deren einige vielleicht so vermessen waren, Glück zu empfinden. Mag sein, daß sie dem Uferboden Frucht abgerungen hatten, um zu essen, zu leben – »wer einmal hochgekommen ist, den züchtigt das Schicksal, indem es ihn wieder hinabwirft« – züchtigt ihn, indem es seinen offenen Augen den Tod des Ertrinkens langsam näher kommen läßt.
Unzufrieden sagte er zu Cayetana, das Bild verbreite zuwenig Grauen, erscheine zu sehr als um des Wassers willen gemalt. Er wisse aber nun, daß es gar nicht seine Sache sei, naturgetreues Wasser darzustellen, sondern Menschen, und darum werde er vom Meer die Hände lassen. Doch wenn er kleine, elende, gequälte Menschen schildere, werde oftmals die Größe des Meeres fern dahinterstehen, eine unsichtbare Folie, von der sich Kleinheit, Elend, Qualen mit gesteigerter Schärfe abzeichnen.
Gleichsam als einen Übergang zu dem, wovon er hier sprach, schuf er, es in großen Strichen fieberhaft heruntermalend, ein unheimliches Bild: Auf dem Abhang eines breithingezogenen Hügels, der sich über Dörfern, Gehöften, Festungsmauern, einem Flußlauf sanft erhob, saß, drei Viertel der ganzen Leinwand einnehmend, ein nackter Riese, den Rücken und auch das grobe, bärtige Gesicht dem Beschauer zukehrend. Das erste Morgenlicht prallte auf ihn wie auf einen Berggipfel, während aus dem Dunkel der höheren Lüfte noch die Mondsichel glänzte.
»Auch dies ist das Meer«, erklärte er der Freundin, »oder das Schicksal, wenn du willst, oder irgendeine andere Macht, die viel stärker ist als der Mensch und ihn bedroht.«
Es kam jetzt vor, daß Francisco in der Arbeitsbesessenheit seine Umgebung völlig vergaß und Mahlzeiten versäumte, selbst wenn sie ihm ins Zimmer gestellt wurden. Auch das Kerzenlicht genügte ihm, um zu zeichnen, wenn Cayetana nicht zu ihm eindrang, sah er sie tagelang nur flüchtig oder gar nicht. Dabei gab er sich noch kaum Rechenschaft von seinem Zustand, er ließ den gedanklichen Entwürfen und dem Tätigkeitsdrang freien Lauf, ohne darüber zu grübeln, ob dies nun wirklich der Anfang von etwas Neuem sei und ob seine immerhin veränderte Art, die Welt anzublicken, ihre Wurzeln in Cayetanas Vorurteilslosigkeit habe.
Den revolutionären Gedanken zu einer seiner grimmigsten Zeichnungen lieferten ihm jene Volksgenossen, die sich über die Jakobiner entrüsteten und dabei der eigenen Schmarotzer vergaßen. Er zeichnete zwei spanische Männer einfachen Standes, deren jeder einen großen, fetten, vergnüglich schmunzelnden Esel als Reiter auf dem Rücken trug. Der eine der beiden als Reittier Mißbrauchten bückte sich geduldig, der andere stöhnte, beide wurden von den Eseln mit Sporen bearbeitet. Bis du nicht mehr kannst – schrieb er darunter.
»Wenn du das Blatt in Madrid zeigst, wirst du gehängt«, prophezeite ihm die Herzogin.
Gerade bei diesem Blatt nun kam ihm die Erkenntnis, daß es bei der Zeichnung nicht sein Bewenden haben könne, daß vielmehr Kupferplatte, Radiernadel, Säuren, Druckpresse das richtige Werkzeug seien, die künstlerische Handschrift ganz zur Geltung zu bringen. Und wenn die Gedankensprache ihre Wirkung tun sollte, blieb die Verbreitung von Abzügen das einzige Mittel.
Aber woher dieses Handwerkszeug nehmen? In den Städten des Südens wird dergleichen nicht aufzutreiben sein. Fern in Madrid, in einem Winkel des Ateliers – dort stand alles Nötige seit langen Jahren verstaubt und vergessen. Nach Gemälden des Diego Velázquez hatte er fleißig Radierungen angefertigt, ein zweckloses Unterfangen, dessen er sehr überdrüssig geworden war. Zufall, daß er nicht damals das ganze Gerümpel weggeworfen hatte, kein ernsthafter Gedanke galt bisher der Wiederaufnahme solcher auf den Reichtum der Farbe verzichtenden Arbeitsform.
In Madrid wartet Nadel und Presse...
Doch er schob den Gedanken einer vorzeitigen Rückkehr weit von sich. Mochte sich auch die Umsetzung in die andere, endgültige Technik verzögern – Zeit ging keine verloren: in der Einsamkeit dieses Hauses ließen sich, viel besser als in der Stadt und in der Nähe des Hofes, noch hundert Entwürfe für künftige Ätzplatten ausführen.
Und so sprach er auch gegenüber Cayetana nur flüchtig von der Absicht, sich später für das besondere Arbeitsgebiet der Radiernadel zu bedienen.
»Schade«, gab sie zur Antwort, »daß du nicht früher davon gesprochen hast, ich hätte jemand gewußt, unter dessen Obhut es möglich gewesen wäre, dir das Nötige hierher zu besorgen.«
»Wir haben uns in letzter Zeit zuwenig um dein Leiden gekümmert – als ob nicht das Äußerste getan werden müßte, es in Ordnung zu bringen. In den nächsten Tagen kommt ein Arzt an, den ich mir für dich aus Madrid verschrieben habe. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich dir keine Gelegenheit zum Widerspruch geben wollte. Ich denke, diesmal habe ich mich an den richtigen gewandt: er ist noch jung, hat die bei berühmten Lehrern des Auslandes gesammelte Kunst frisch und unverbraucht in sich. Du kennst ihn übrigens. Weißt du: der, den wir damals für das gemalte Knie gerufen haben ...«
Francisco trat, ohne zu antworten, ans Fenster. Der Abend dämmerte draußen. Die Fledermäuse begannen ihre Jagd.
Don Gaspar traf pünktlich ein.
Er gewann einigermaßen Franciscos Vertrauen – dadurch, daß er ihn nicht sogleich mit Redensarten und Ratschlägen überschüttete, vielmehr den Entschluß kundgab, vorerst abzuwarten und den Patienten zu beobachten, wozu ja viel günstigere Gelegenheit sei als in den meisten Fällen.
Doch schon nach wenigen Tagen mußte Francisco erkennen, daß Cayetana ihr Spiel mit dem jungen Arzt begonnen hatte. Während eines Gangs durch den Garten, in Franciscos Gegenwart, entfaltete sie eine Komödie der Lockung, deren erste Szene wohl schon vorangegangen war, entfaltete sie in anderen Schattierungen als gegenüber Costillares, weil Gaspar ein anderer Partner war: sein Gegenspiel bestand einzig in den Zeichen seiner Verliebtheit, die glücklich war, sich ermutigt zu sehen.
Francisco, im Grunde – er bekannte es sich wie in einem Wirbel – nicht eigentlich überrascht, rief alle seine Kräfte, einzeln und verbunden, zum Kampf auf gegen den Überfall der dunkelsten Gedanken. Ihre Stunde ist vorüber, rief er sich zu, später ist wieder Raum dafür, später magst du denken und fühlen – sobald du dich gerettet hast. Wie aus einem brennenden Haus, einem sinkenden Schiff mußt du dich retten – dir eine Mauer der Sicherheit bauen. Die aber baut sich nicht hier, hier droht jeder Mauer Einsturz. Nichts hilft als die einfache, klare, entschlossene Handlung der Trennung ohne jeden Verzug.
Nach der Rückkehr ins Haus eröffnete er Cayetana in so beherrschtem Ton, als handle es sich um eine fast gleichgültige Sache, seine Arbeit zwinge ihn zur sofortigen Abreise nach Madrid, er bitte, ihm noch vor Abend einen Wagen hinunter in die Stadt zur Verfügung zu stellen, von wo aus er alles Weitere selbst in die Wege leiten werde.
Ihr Blick verschleierte sich, aber sie sah ihn mit dem graziösesten Lächeln an, als sie sagte: »Irgendeinen Menschen davon abzuhalten, seinen plötzlichen Wallungen zu folgen, widerspräche allzusehr meiner eigenen Art. Impulse bändigen die Gefahr, gewisse noch so schöne Dinge zur Gewohnheit werden zu lassen... Aber« – sie reichte ihm die Hand zum Kuß – »ich hoffe, du kommst bald zurück!«
Während seiner einsamen Fahrt – Francisco reiste mit Extraposten und ließ sich nur auf einer einzigen Strecke bereit finden, seinen Wagen mit anderen zu teilen: als der Bischof von Ciudad Real für sich und seinen geistlichen Sekretär um einer eiligen Angelegenheit willen ihm die dringende Bitte übermittelte – während seiner bis auf diese kurzen Stunden einsamen Fahrt klärte sich langsam das Chaos in seiner Brust.
Aus alter Wunde quoll das Blut seines Schmerzes um die geliebte Frau: das ist ja alles schon gewesen, alles schon durchlitten – und auch der trügerische Schein der Heilung konnte keinen Bestand haben. Fast solange liegt das nun zurück wie die Krankheit, ja es ist, als seien beide Übel zur gleichen Stunde geboren. Denn sie sind ineinander verankert, unlösbar, schicksalhaft. Ob Cayetanas Abfall beeinflußt oder beschleunigt wurde durch die Erkrankung – darum handelt es sich nicht: der Zusammenhang liegt viel tiefer, ist in Wahrheit ein gemeinsamer Ursprung beider Wirrnisse aus schwindliger Tiefe, in die die Schärfe des Gedankens nicht hinabzusteigen vermag.
Von dort herauf – er täuscht sich nicht mehr darüber – quillt der neue Grundton des Lebens: das Leiden. Mit einer Art von grimmiger Freude empfängt er diese düstere Musik und fühlt sich von ihren Schöpferkräften durchströmt. Visionär steht die Erkenntnis vor ihm, daß er sich dem Leiden öffnen muß, doch sich ihm nicht unterwerfen darf, daß er es umschmelzen muß in Erkenntnis des wirklichen Lebens, das sich hinter dem glatten, fröhlichen Schein verbirgt, daß er – es ist, als wisse er frisches Blut in seinen Adern – die Lüge enthüllen, das Elend ans Licht stellen, doch niemals unfruchtbar wehklagen wird. Aus jener Tiefe herauf kommt das neue, wahrhaft einsame Schaffen, das Moratín vorausgeahnt hat in jener letzten Nacht vor dem Ausritt...
So ordneten sich denn die Arbeiten, Entwürfe, Phantasien der verflossenen Wochen, bis sie Glieder dieses einzigen großen Planes wurden: die Schwächen und Eitelkeiten der Menschen, der Kleinen und der Großen, die grauenhaften Leiden der Schwachen, Unterdrückten, das furchtbare Schicksal, als Mensch auf der Erde zu leben, die im Dunkel hausenden Mächte, die den Menschen bedrängen und verfolgen – dies alles in einem scharfen Spiegel einzufangen und die, die zu sehen vermögen, hineinblicken zu lassen, die Menschen durch solche Schöpfungen aufzurütteln, zu sich selber zu bringen, in ihnen den Drang zur inneren und äußeren Freiheit zu stärken und die Hoffnung, solcher Freiheit näher zu kommen oder sie gar zu gewinnen, die Starken zur Hilfe für die Schwachen aufzurufen.
Das wird ein Ziel, wird Künstlerarbeit und Menschenarbeit sein. Arbeit für Jahre, für den Rest des Lebens.
Wie lange, wie kurz mag das Schicksal diesen Rest bemessen? Es hat mit scharfer Pranke zugeschlagen – ist das nicht schon der Beginn des Sturzes, des Endes? Oder wird die in jenem Plan beschlossene Arbeit erst der Aufstieg sein?
Er wurde sich seiner Existenz mit solcher Stärke bewußt, als blicke er sie, ein unbeteiligter Dritter, von außen an und fühlte das zusammenhängende Fluidum seines vergangenen und zukünftigen Daseins wie etwas körperlich Greifbares um sich. Sah sich in der Mitte des Lebens stehen und viel Zeit für seine Arbeit noch vor sich. Wenn ich mich nicht täusche, redete er zu sich, und seine Augen lächelten sehr glücklich, wenn dies jetzt wirklich die Mitte ist, dann werde ich fast so alt wie Tizian ...
Brotarbeit wird dazwischen sein müssen – oh, nicht in einem drückenden Sinn: Arbeit, die mir die äußere Stellung erhält, von der aus ich wirken kann. Nicht jeder Pinselstrich, nicht jede Linie des Grabstichels wird dem großen Ziel unmittelbar dienen können. Einerlei – mögen die Wege mitunter verschlungen, verborgen, vorsichtig sein: das Ziel wird nie aus den Augen verloren werden, das ganze Schaffen in sich zusammenhängen. Auch wenn ich schöne Frauen male ... Schöne Frauen beglücken durch ihren Anblick: und mitunter werde ich zeigen, was sich hinter dieser Schönheit verbirgt ...
Die Bevölkerung des Landes, das er durchfuhr, war in Bewegung. Agenten der Regierung, von den Priestern unterstützt, riefen zum Krieg gegen Frankreich auf. Die Hilfe, die Carlos dem lebenden, eingekerkerten Vetter verweigert hatte – dem Toten wollte er sie nun leisten. Die Abneigung gegen die Königsmörder wurde zur hellen Flamme entzündet, und wer nicht selber die Waffen nehmen oder den Werbern einen Sohn ausliefern wollte, der spendete Geld.
Je näher man der Hauptstadt kam, desto kriegerischer wurde das Gesicht Spaniens. In den Gassen von Toledo drängten sich alte und neue Uniformen. Wo immer von den Franzosen geredet wurde, da waren sie eine einzige Riesenrotte von Antichristen und leibhaftigen Teufeln, wert der Ausrottung mit Stumpf und Stiel.
Es war wieder ein Sonntagmorgen, an dem Francisco, zu einem Rasttag entschlossen, aus dem Gasthaus Zum Adler von Kastilien auf die Straße schritt.
Ohne auf den Weg geachtet zu haben, sah er sich vor der Kathedrale. Und trat ein, jetzt der Wiederholung voll bewußt.
Durchsonnte Glasbilder sättigten die Dämmerung des riesigen Kirchenraumes mit Farben. Edles Gitterwerk zeichnete sich schwarz ab vor den Nischen der Kapellen. Silbern glänzten die schweren Ampeln, golden die Baldachine und Holzfiguren des mächtigen Hochalters, golden die ihn umschrankenden Gitter und die Rippen des ihn überdachenden Gewölbes, golden die Stickereien der von hoch oben herabhängenden blauseidenen Fahnen und der Meßgewänder der das Hochamt zelebrierenden Priester. Schwaden bläulichen Weihrauchs standen in der Luft und bewegten sich wie Gespenster.
Er sah wieder die gemessenen Bewegungen der Priester, die ehrwürdigen Meßbücher, die unter Kerzen funkelnde Sonne der Monstranz, die mystische Form des Kelches, hörte die ihm seit der Kindheit vertrauten, wie eine Reihe silberner Statuen vorüberziehenden Worte, die Musik der Stimmen und der Orgel. Und schlug gewissenhaft alle Kreuzeszeichen: hier kam irgendein Besinnen keinesfalls in Betracht, denn wer sie unterließ, hätte darauf gefaßt sein müssen, als Mißachter der heiligen Religion ergriffen zu werden.
Er gönnte seinen Sinnen das Fest, doch er nahm nicht nur Bilder in sich auf, sondern beobachtete die handelnden Menschen. Zwar wandten sich die zelebrierenden Priester nur selten um, aber wenn er dann ihre Gesichtszüge sah, kam ihm das jedesmal wie eine Entdeckung oder Enthüllung vor, und er suchte sich sogar ihre geheimsten Gedanken zurechtzulegen. Fast wäre ihm dabei entgangen, daß ihm einer dieser Köpfe bekannt war: breite, grobknochige Züge, die sich wenig verändert hatten seit – ja, wahrhaftig, seit Rom. Dies ist kein anderer als Juan Llorente!
Er fühlte sich gänzlich außerhalb der Verfassung, Erinnerungen auszutauschen, und trat sogar etwas zurück, um nicht seinerseits erkannt und nach Beendigung der Zeremonie angesprochen zu werden.
Doch er blieb noch geraume Zeit in der Kirche und dachte darüber nach, ob Gott in ihr wohne.
Sein Blick folgte dem Aufstieg der Pfeiler, der hoch oben wie ein Wunder sich vollziehenden, Palmkronen gleichenden Ausbreitung ihrer Rippen, dem Schwung des über die Rippen geworfenen Gewölbemantels, dem Rhythmus der Pfeilerstellung, der Schiffe, der Nischen, der Fenster. Er fühlte und sah: Die Baumeister haben in Phantasien von der Größe Gottes geschwelgt, ihn voll Begeisterung zu Gast geladen, voll Demut in der Umfriedung ihres Werks aufgenommen. Alles was sie von ihm wußten, lebt in der Kathedrale, und darum ist er da, immer da. Sie sind gewürdigt worden, daß er aus ihrem Werk spricht. Und wie sie manche der Maler, der Bildhauer, Schöpfer des Schmucks der Altäre. Von Gott gewürdigt. Zu der eigenen Anstrengung, der eigenen Kraft muß etwas hinzukommen, von außen, vom Weltall – oder vielleicht kommt es von innen, aus Bezirken, wo die Gottheit in uns eingehüllt ist.
Und nun stieg die Frage wie ein Gespenst aus dem Boden und blickte ihn an: Bist du gewürdigt worden, wirst du gewürdigt werden? Ein Schauer, ein Zittern überlief ihn.