Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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52

In diesen wirren Monaten dachte Amalie häufig an Cornelius. Als sie einmal durch Mailand reiste, wurde sie tieftraurig. Es kam ihr vor, als ob es damals mit ihm doch sehr viel schöner gewesen sei als jetzt, wo sie frei war. Sie hoffte immer, er würde ihr einmal begegnen, sie vielleicht irgendwo in einem großen Gasthof als Weltdame sitzen sehen, mit einem »interessanten« Herrn zusammen, der sich um sie bemühte. Manchmal dachte sie mit Haß an ihn, hie und da auch wieder mit zärtlicher Bewunderung, aber ihr Hauptgefühl war der Wunsch, ihm zu zeigen, daß sie nun ohne ihn eine freie Persönlichkeit geworden sei und ihr Leben einzurichten wisse. Dazwischen durchkreuzten sie auch Gedanken an Erwin Dorn, und manchmal gestand sie sich ganz offen ein, daß sie ihn liebte. Ja, das war wirklich ein Mann, der einem etwas sein konnte, meinte sie, und es verursachte ihr eine gewisse Befriedigung, ihrem Leben einen Inhalt mit dieser »verlorenen« Liebe zu geben. Hie und da hatte sie zu Boris gesagt, als er sie noch mit seinen Anträgen bestürmte, daß davon nie die Rede sein dürfe, da sie sich das Bild eines anderen hochbedeutenden Mannes nicht aus dem Herzen reißen könne. Bei alledem aber schwoll in ihr immer mehr die Sehnsucht nach München an. Das war der einzige Ort, wo sie hinpaßte, und wenn sie sich auch immer wieder zwang, diesen Gedanken zu bekämpfen, da sie nun München und besonders Schwabing weit hinter sich gelassen hatte und in der großen Welt leben wollte, so schien es ihr doch immer verführerischer, jetzt als Weltdame nach München zurückzukehren und nun dort nicht mehr die kleine Amélie Sanders zu sein.

Inzwischen sollte sich ihre Hoffnung, Cornelius zu begegnen, der auch in der Welt herumreiste, erfüllen. Es war an einem Aprilabend in Rom im Teatro Costanzi. Die Duse trat auf. Amalie war in ihrer gelangweilten Einsamkeit einfach in eine deutsche Touristenpension gegangen, wo man ihre Ansprüche auf Persönlichkeitswert eher verstand, sei es, daß man sie bewunderte, sei es, daß man ihre Theorien bekämpfte. Jedenfalls wußte man sie als Typ einzuordnen, während sie in den internationalen Kreisen, von denen sie sich soviel versprochen hatte, der Bedeutungslosigkeit verfallen war. Mit einigen lärmenden Landsleuten, die aber das Ideal der ästhetischen Kultur hochhielten, saß sie an jenem Abend in einer Loge im Costanzitheater. Sie hatte einen guten Abend. Ihre erblühte Büste in einem dunklen, mit breiten Spitzen besetzten Samtkleid gab ihr fast etwas Großartiges. Das zwar etwas leer schauende Gesicht über dem Ausschnitt, von blondem Haar gekrönt, zog viele brennende Männerblicke aus düsteren, tiefen Augenhöhlen an. Amalie hatte inzwischen gelernt, gleichgültig daran vorbeizusehen, da sie die südländische Galanterie, die keiner Auseinandersetzungen bedarf, nicht schätzte. Die italienischen Männer, das hatte sie bereits erfahren, suchten in der Frau nicht in erster Linie den Menschen.

Da erkannte sie auf einmal im Parkett Cornelius. Sie zitterte. Er folgte aufmerksam den Vorgängen auf der Bühne. Nach einigen Minuten wurde sie ruhiger, und nun beobachtete sie ihn durch ihr Glas. Als ob er hier gar kein Fremder sei, saß er zwischen allen diesen befrackten Herren. Vor allem fiel ihr die hohe, kluge Stirn auf, die sie einst so oft angeschaut hatte. Er trug jetzt einen kurzen Schnurrbart. Ach, wenn er nur heraufsehen wollte! Im Zwischenakt verfolgte sie jede seiner Gebärden in der Hoffnung, seinen Blick zu fangen. Schließlich gelang es. Sie lachte und winkte mit der Hand. Er grüßte erstaunt und erkannte sie nicht. Plötzlich aber lächelte er, machte ein fragendes Zeichen, ob er heraufkommen solle; sie nickte. In größter Erregung stand sie auf. Ihren Bekannten sagte sie verlegen, sie habe ihren Schwager im Parkett gesehen. Alle lächelten. Im Gang begrüßte er sie.

»Amélie, welch ein Zufall!« rief er erfreut. »Wie geht es denn? Nein, wie schön du geworden bist.«

Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, so gefiel ihr diese Beherrschung der Lage, verbunden mit seiner fast knabenhaft unbefangenen Huldigung. Sie war verlegen und schüchtern, ganz die kleine Mely von einst.

»Morgen reise ich ab,« sagte er, »eine wahre Schicksalsfügung, daß wir uns noch treffen.«

Sie machten aus, nachher zusammen zu speisen. Amalie ging in ihre Loge zurück. Sie konnte kaum den Schluß der Vorstellung abwarten. Fortgesetzt beobachtete sie ihn mit ihrem Glas.

Wie einst bisweilen in München saßen sie sich eine Stunde später in einem Gasthof gegenüber, aber nun nicht mehr als das Schwabinger Pärchen, sondern als »Kavalier und Weltdame«. Er war unterhaltend, suchte aber zu vermeiden, das Gespräch auf persönliche Fragen zu bringen.

»Weißt du, die Schwabingerei habe ich gründlich überwunden,« sagte Amalie plötzlich.

»Ich auch,« erwiderte er lächelnd, »die wenigsten sind ja dort toll aus Temperament, die meisten sind es nur aus Grundsatz, aus moderner Weltanschauung, aus Freude, gegen die Ansichten der Durchschnittsmenschen aufzumucken. Wer wirklich eigenartig ist, wird schamhaft, er bemüht sich, nicht durch Aeußerlichkeiten aufzufallen. Nach außen ein beherrschter Mensch zu sein, mit einem Urgrund von unterseeischer Seltsamkeit, die die Philister – und das sind heute doch die allermeisten Künstler – überhaupt nicht merken, das schiene mir ein erstrebenswerteres Ideal.«

Wieder einmal hatte die kleine zur Bewunderung geneigte Mely das Gefühl, hier vor einem Menschen zu stehen, der ihr die Schlüssel des Lebens überreichen könnte, und sie trieb ihn immer mehr zum Reden und zum Erzählen. Als er sie dann in einen morgenländisch mit Teppichen und Diwanen eingerichteten Nebenraum führte, wo sie zwischen Kissen bei ihm saß und den süßen schwarzen Kaffee schlürfte, da war ihr, als ob sie ihn jetzt zum ersten Male liebte. Ihn freute es sichtlich, sie, um die er so lange vergebens gerungen hatte, nun doch noch von sich überzeugt zu haben und unter dem Einfluß von Champagner, Mokka und Zigaretten begann er ein wenig mit seinen neugewonnenen Erfahrungen zu prunken.

Sie ermutigte ihn immer mehr zum Reden und fragte ihn nach seinen Zielen.

»Mein Ziel ist nicht ein Ziel, das ich mir gesteckt habe, sondern alles in mir leben lassen und es nur so leiten, daß das Viele Eines wird; was dabei herauskommt, das ist mein Ziel. Diese armseligen, modernen Menschlein haben darum diese törichte Angst vor dem bewußten In-die-Handnehmen des Gebens, weil sie in ihrer Instinktarmut immer gleich zu Sklaven der Vernunft, zu Rationalisten, würden. Wenn man in die Nacht hinauswandert, dann soll man das Licht der Vernunft mitnehmen und es so weit ins Dickicht des Lebens hineintragen, bis der Weltgeist höchst selbst das Licht ausbläst. Es von vornherein ausblasen und sagen: ›So, jetzt will ich grundsätzlich unvernünftig sein‹, das führt zu nichts.«

Als er schwieg, antwortete Amalie zunächst nicht, und während er vor ihr auf und ab ging, von seinen jungen Gedanken beflügelt und berauscht, flüsterte sie plötzlich:

»Ich glaube, Paul, jetzt könntest du mich retten!« Plötzlich erfaßte sie seine Hand und rief heftig: »Du, geh doch nicht in einem fort so auf und ab, das macht mich ganz nervös.«

Er blieb stehen.

»Du mußt mich retten. Niemand kann es außer dir.«

»Nein, Amélie,« sagte er zärtlich, »ich kann niemanden retten, ich habe noch viel zuviel mit mir selbst zu tun. Vielleicht erscheine ich deshalb als Egoist, aber es war stets nur Notwehr, was mich zur Härte gegen andere trieb. Ich bin ebenso hart gegen mich selbst. Amélie, klammere dich nicht an mich und versuche nicht, mich schwach zu machen, denn ich ...«

Es war, als ob Tränen seine Stimme erstickten. Noch immer stand er vor ihr und hielt ihre Hand.

»Kannst du überhaupt noch lieben?« fragte Amalie leise.

»Ja,« erwidert« Cornelius, »ich liebe eine reife Frau, in deren klarer und harmonischer Seele ich Befreiung von mir selbst finde. Denn wenn ich auch heute einigermaßen meinen Weg weiß, so bin ich doch nicht so stark, wie ich dir scheine.«

Cornelius vergaß zeitweise fast, zu wem er sprach. Er redete für sich selbst, und nie war er sich über alles das klarer gewesen.

»Ich liebe in der Frau etwas Aehnliches, wie in der Musik: helle, klare Akkorde. Darum fliehe ich moderne Frauen ebensosehr wie die moderne, unmelodische Musik. Wenn ich liebe, dann ist mir zumute wie denen, die singen: ›Steh' ich in finstrer Mitternacht‹ oder ›Jetzt gang' i ans Brünnele‹. Das kommt dir komisch vor, nicht wahr? Sobald ich aber nicht mehr so fühle, kann ich wieder ganz scharf reden. Deshalb hast du mich manchmal für einen Verstandesmenschen gehalten. Ja, mein Geist ist recht verzwickt, aber meine Gefühle sind primitiv. Die meisten modernen Menschen sind umgekehrt. Ihr Geist ist verworren, aber sie können stundenlang ihre Gefühle und Empfindungen zerfasern, und der Spiegel dieses Zustandes ist die moderne Musik. Frauen, die ich lieben kann, haben etwas von der Seele Mozarts oder Schuberts, während mich moderne Weiberschmerzen nur schroff und kalt, ja böse machen. Nun habe ich dir eine große Generalbeichte abgelegt, Amélie. Du siehst, unsere Wege gehen weit auseinander.«

Er streichelte ihre Hände.

Gegen zwei Uhr brachte er sie nach Hause. Sie sprachen unterwegs wenig. Ehe sie sich der Pension näherten, sagte Amalie:

»Ich habe dich verstanden. Aber gib mir doch einen Rat. Was soll ich mit mir anfangen?«

»Reisen, Amélie, reisen,« erwiderte er, »das ist immer der beste Ausweg, wenn es einem im eigenen Inneren zu eng wird.«

»Ach, ich bin ja so reisemüde,« erwiderte sie.

Die nächsten Tage war sie sehr schwermütig. Immer lauter meldete sich die Sehnsucht nach München. Dort würde sie nun ja eine Frau sein, welche die Welt kennt, in Paris gewesen war, in den großen Gasthöfen der Riviera und des Engadins Erfolge gehabt hatte und nun, von den vielen Eindrücken für einige Zeit gesättigt, wieder freiwillig das ruhigere Klima Münchens aufsucht. Sie konnte dort einen Salon öffnen, empfangen, interessante Menschen bei sich sehen und ihrem Leben »einen Inhalt« geben. Es war ja ganz klar, daß man dieses ewige Herumreisen auf die Dauer nicht verträgt, man braucht auch wieder einmal eine Zeit, um Erlebtes innerlich zu verarbeiten. Wer hinderte sie daran, nach ein paar Jahren München wieder zu verlassen und etwa nach Indien zu gehen?

So kam es, daß Amalie nach einer Abwesenheit von fast zweieinhalb Jahren im Herbst nach München zurückkam, sich eine hübsche Vierzimmerwohnung in einer der neuen Straßen Schwabings mietete, ihre alten Beziehungen wieder aufnahm und neue suchte.


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