Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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20

Um vier Uhr trat Amélie mit Herrn und Frau Dr. Oesterot bei der Familie Schüler ein. Amélie war erstaunt, eine altmodische, kleinbürgerliche Wohnung zu sehen, die sie ein wenig an die Mansarde erinnerte, wo in ihrer Vaterstadt Elisabeth Schlosser mit ihrer Mutter gewohnt hatte. Es war ein gemütlicher Kaffeetisch gedeckt, mit dem beblümten und vergoldeten »Sonntag-nachmittags-nicht-ausgeh-Geschirr« der Familie, wie Oesterot lachend erklärte. Ein großer, selbstgebackener »Guglhupf« stand in der Mitte. Frau Schüler trat ein, eine schwerfällige, etwas spießbürgerlich aussehende Matrone mit freundlich lachendem und gerötetem Gesicht unter ergrauendem Haar. Sie hatte etwas gewinnend Kindliches, was in Anbetracht ihres Alters bisweilen allzu treuherzig und etwas komisch wirkte. Mit Oesterots begrüßte sie sich sehr vertraulich und war hoch erfreut, ja fast ein wenig geehrt, als ihr Amélie vorgestellt wurde.

»Der Ludwig und die Lina komme' gleich,« sagte sie in breiter hessischer Mundart, indem sie zum Niedersitzen nötigte.

Ein etwas derber Mensch mit starkem braunen Schnurrbart und roten Händen kam herein und wurde als Herr Ludwig Stehr vorgestellt. Dr. Oesterot und Frau Schüler duzten sich mit ihm. Dann kam Fräulein Lina Schüler, die Tochter des Hauses. Sie war ein großes, sich linkisch bewegendes Mädchen, mit langem, etwas vorgebeugtem Hals, etwas unordentlich gekleidet und mit einer zerfahrenen Frisur; aber ein verträumtes Gesicht mit suchenden Augen und sehnsüchtigen Lippen machte sie vorübergehend ganz reizvoll. Amélie kam sich etwas fremd und beengt vor mitten in der Vertraulichkeit, die zwischen den beiden Familien herrschte. Nachdem man mehrfach höflich an sie das Wort gerichtet hatte, verfiel man immer wieder in Gespräche von Menschen und Angelegenheiten, die sie nicht kannte. Sie war eigentlich etwas enttäuscht; die Leute schienen ihr ja ganz nett, aber sie begriff nicht, was Oesterots an ihnen Besonderes fanden. Sie kamen ihr sogar ein bißchen »gewöhnlich« vor. Nach dem Kaffee forderte Frau Schüler ihre Tochter auf, Amélie ihr Zimmer zu zeigen.

»Die junge' Mädcher hawe sich gewiß allerlei zu erzehle',« sagte sie.

Lina wollte erst den Tisch abräumen. Frau Oesterot sprach solange mit Amélie in einer Fensternische.

»Lina Schüler«, sagte sie zu ihr, »ist ein ganz seltsames Geschöpf, vor dem man große Hochachtung haben muß. Sie geht scheinbar ganz in der Pflege des Hauses und der Familie auf, und dabei findet sie Zeit, Plato zu lesen und sich mit Mystik zu beschäftigen. Aber auch darin ist sie nicht einseitig; sie hat gleichzeitig Sinn für alles Wirkliche und gehört zu den ganz freigewordenen Naturen.«

Auf Amélie machten diese Worte einen tiefen Eindruck. Sie war gewillt, alle diese großen Eigenschaften nun in Lina zu entdecken.

Als sie mit ihr allein in ihrem einfachen Mädchenstübchen saß, wo sich außer den notwendigen Möbeln eine Nähmaschine unter einem großen Büchergestell befand, kam erst kein rechter Zug in das Gespräch. Amélie griff etwas verlegen nach einem zerlesenen Buch. Es war Platos Dialog »Phädon«. Ale sie die Namen der redenden Personen las, sagte sie verwundert:

»Ach, hat der Plato auch Theaterstücke geschrieben?«

Nun nahm Lina einen mütterlich belehrenden Ton an, der Amélie Vertrauen erweckte, und erklärte ihr ihren Irrtum. Dann erzählte sie:

»Wir sind gute alte Freunde von Oesterots. Die Mutter und der Philipp sind sehr intim zusammen, sie haben vieles miteinander erlebt. Es sind herrliche Menschen, die Oesterots; Sie gehen gewiß auch gern zu ihnen?«

»Oh,« erwiderte Amélie, »ich bin ganz glücklich, diesen Verkehr gefunden zu haben.«

Nachdem Lina sich nach Amélies Plänen in München erkundigt hatte, fragte diese, um Teilnahme zu zeigen, ob Lina auch einen besonderen Beruf habe?

»Ach, im Augenblick nicht,« sagte sie, während sie gleichzeitig ein wenig im Zimmer aufräumte; »ich interessiere mich hauptsächlich für Pädagogik, aber momentan führe ich bloß hier den Haushalt. Es ist mir so wichtig, fortgesetzt mit so bedeutenden Menschen zusammen sein zu dürfen, wie die Mutter und der Ludwig, daß ich meine Berufsausbildung ein wenig aufschieben will, außerdem beschäftige ich mich viel mit Mystik.«

»Mit Mystik?« fragte Amelie, »davon habe ich gar keine Ahnung.«

Lina lächelte mit gütiger Ueberlegenheit.

»Das ist kein Mangel; wenn Sie dazu berufen sind, wird der Weg eines Tages klar vor Ihnen liegen. Gott!« fuhr sie plötzlich in einem ganz anderen Ton fort und Amélie von oben anblickend, »Sie haben es auch schließlich nicht nötig, sich über das Leben Gedanken zu machen. Wenn man in der glücklichen Lage ist ...« Lina Schüler stockte.

Diese Bemerkung berührte Amélie peinlich. Es kam ihr fast wie eine Schande vor, daß sie genug zum Leben besaß.

Hätte sie Lina zu Hause ohne jede Vorbereitung kennengelernt, so wäre sie ihr gewiß eher unsympathisch gewesen, schon wegen ihres ungepflegten Aeußeren. Ihre Worte über Mystik hätte sie als dumme Prahlerei aufgefaßt. Daß sie aber hier von Oesterots eingeführt war, veranlaßte sie, Lina gewissermaßen einen Freibrief zu geben für alle möglichen unbegreiflichen Eigenschaften. An Lina mußte ja etwas sein, und während Amélie manches an ihr gegen den Strich ging, machte sie sich selber Vorwürfe: man dürfe nicht so kleinlich sein, keine »Höhere-Töchter-Maßstäbe« an das große Leben anlegen. Dazu kam etwas wie Schuldbewußtsein: während sie sich bei Oesterots in ihrem Wesen erhöht und gestärkt fühlte, wurde sie Lina gegenüber ganz demütig und betrachtete sich selbst wie ein verwöhntes, verzärteltes Pflänzchen.

Lina erzählte, sie lebten erst seit einem Jahr in München, bis dahin seien sie in ihrer sehr kleinstädtischen Heimat gewesen. Sie erwähnte hier und da ihren Vater.

»Ihr Herr Vater ist wohl augenblicklich verreist?« fragte Amélie.

»O nein,« erwiderte Lina lächelnd. »Die Mutter ist doch von ihm weggegangen, um mit dem Ludwig zu leben.«

Sie erzählte das mit sichtlichem Stolz darauf, was sie für eine moderne Familie seien.

»Die Mutter und der Ludwig haben nämlich schon seit zehn Jahren was zusammen; als der Ludwig noch Gymnasiast war, fing es an; natürlich zuerst ganz platonisch,« fügte sie, fast frivol lächelnd, hinzu. »Das war ein entsetzlicher Kampf, bis sie vom Vater loskamen, und denken Sie nur, jetzt, wo es so weit ist, wo sie am Ziel sind, da liebt der Ludwig auf einmal mich. Wie doch das Leben mit uns spielt!«

Amélie war sprachlos.

»Wollen wir wieder hinübergehen?« fragte Lina, die ihre Wirkung auf Amélie mit Genugtuung fühlte.

Im Wohnzimmer war ein lebhaftes Gespräch in Gang.

»Man kann nicht Weinlaub im Haar tragen und dazu christliche Gebete stammeln,« rief Oesterot Frau Schüler mit Pathos zu.

»Aber warum denn nit?« sagt« diese mit behaglichem Schmunzeln, indem sie Ludwig Stehrs Hand ergriff und sich an ihn lehnte.

»Das geht ganz gut, nit wahr, Ludwig?«

»Freilich, freilich,« sagte dieser, mit der freien Hand in seinem ungeheuren Schnurrbart wühlend.

»Von was ist denn die Rede?« rief Lina dazwischen.

»Ach, der Philipp schimpft mich immer, weil ich die Erinnerung an die Konfirmationszeit nit falle lasse will und ganz gern e'mal in die Kirch' geh' un' mich an ere schöne Predigt erbau'.«

»Weil es nicht zu dir paßt, Katrine,« sagte Oesterot aufgebracht.

Es schien, daß sie Amélie zeigen wollt«, wie gut sie mit ihm stand.

»Den Philipp haw' ich nemlich gekannt, als er noch Gymnasiast war uwd grad en moderner Mensch werde wollt'. Da hawe die Primaner zusamme' en Ibse'-Klub gegrind't, der hat bei uns sei' geheime Sitzunge' abgehalte'. Sie kenne sich denke, was da in der kleine' Stadt iwer uns geschwätzt werde is. Es dehte unsittliche, nächtliche Orgie' gefeiert werde, nit wahr, Ludwig?« Frau Schüler unterdrückte ein derbes Kichern. »Ach, es ist doch recht schö' gewäse.«

»Freilich, freilich,« erwiderte Stehr und wühlte im Schnurrbart.

»Der Ludwig un' der Philipp sin nemlich Schulkamerade,« erklärte Frau Schüler weiter.

»Ja, damals trugst du noch Weinlaub im Haar,« erwiderte Oesterot.

»Ach, das war schee',« sagte sie, »awer des Frommsei' war auch schee'. Nit war, Lina? Die Lina versteht mich.«

»Ja, Mutter,« erwiderte Lina und sah mit verhimmelndem Blick zu der auf so breiter Grundlage genußfähigen Mutter auf.

»Gott, wenn die Leut' daheim uns jetz' hier beisamme seh' dehte, daß ich jetzt mit dem Ludwig in Minche' bin – die Trümmer des Ibse'-Klubs!«

»Und daß seine Königin wieder fromm werden will,« unterbrach Oesterot aufgebracht.

»Du brauchst kei' Angst für mich zu hawe, Philipp. Was ich dem Ibse' verdank', des werd' ich nie vergesse. Mir hawe daheim ganz ahnungslos gesesse un' unser indifiduelles Läwe gefiehrt, nit wahr, Ludwig? Un' manchmal hawe mer uns doch auch rechte Gewissensbiss' gemacht, weil mer noch nit ganz frei war'n von de' Vorurteile' der >anständige< Leut', und da hat der Philipp eines Dags den Ibse' gebracht, und da hawe mer geseh', daß mer ganz von selwer modern geworde wäre' un' im Recht gäche' die Philistermoral. Nit wahr, Ludwig?«

»Freilich, freilich,« erwiderte er, die Hand im Schnurrbart.

»Manchmal hawe mer doch echt Ibse'sche Stimmunge' erläbt. Weißt de noch? Wenn der Sekt auf dem Disch gestande' hat, und die Lina hinner'm Vorhang aufbasse' mußt, ob der Vatter noch nit heimkommt, das war doch wie in der »Frau vom Meer«. Solche dief läwendige Augenblicke vergißt ma' nit.«

»Wundervoll, wundervoll muß das gewesen sein,« rief Oesterot in fast kindlichem Entzücken aus. »Und daß es damals so etwas Glühendes in der langweiligen Kleinstadt gab, wer hätte das geahnt!«

»Awer e' schee' Predigt is doch auch was Scheenes,« fuhr Frau Schüler fort. »Die Lina un' ich, mir wisse' des. Der Philipp will awer immer des Kind mit dem Bad ausschitte'. Geh mir doch weg mit dei'm Heidetum, das is ja nix. Des Gemiet is doch des Scheenste, nit wahr, Ludwig?«

»Freilich, freilich,« erwiderte er, stets in derselben Stellung.

»Die Lina versteht mich, nit?« Sie ergriff die Hände Ludwigs und ihrer Tochter und weidete sich daran, daß die anderen sahen, wie glücklich und verehrt sie war. »Na, Philipp, geb mer auch die Hand,« sagte sie, »mir wolle doch die alte' Zeite' nit ganz vergesse', und dir zulieb trag ich auch noch als e'mal e' bische Woi'laub im Haar. Du bist doch immer der gute, anhängliche Freund.«

Amélie hörte dem allen mit halbem Verständnis zu. Diese Frau war doch eigentlich schon ziemlich alt, und dabei sah sie genau so aus, wie Amélie sich die von Frau Schüler so verhöhnten Spießbürgersleute in der Kleinstadt vorstellte.

Oesterots brachen auf. Als sie mit Amélie allein waren, sagte Frau Thea:

»Ich muß Sie um einen kleinen Gefallen bitten: erzählen Sie bei Schülers nichts von unserem antiken Fest. Es ist so schwer, mit vielerlei Arten Menschen zugleich zu verkehren. Wir haben die Schülers schrecklich gern; für meinen Mann verkörpern sogar Frau Schüler und Herr Stehr seine schönsten Jugenderinnerungen, aber wir können sie aus verschiedenen Gründen nicht zu dem Fest einladen. Sie müssen das verstehen. Die Menschen entwickeln sich eben in späteren Jahren so verschieden. Stehr ist ein vortrefflicher Mensch; er ist Lehrer, aber er hat zugleich einen großen Ehrgeiz als Dichter. Er schreibt ja ganz gute Sachen, aber er kann sich nun einmal mit Wartegg nicht vertragen, der auch damals zum Ibsen-Klub gehörte, und da ist er eben ein bißchen eifersüchtig. Gott! jeder hat seine Schwächen, aber die Lina hätte ich bei dem Feste doch gern dabeigehabt. Es muß eben vorsichtig gemacht werden, und da möchte ich Sie nochmals bitten, sprechen Sie bei den Leuten nichts davon. Es sind auch noch mancherlei andere Gründe, warum wir Frau Schüler und Herrn Stehr nicht einladen können.«

Das begriff Amélie freilich gut, daß diese Leute nicht auf ein antikes Fest paßten. Als sie sich von Oesterots verabschiedete, forderten sie sie auf, recht bald wiederzukommen und doch ja ihren Bruder Hermann mitzubringen.


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