Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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51

Hermann war immer noch sehr angegriffen und bedurfte der Erholung; der Arzt hatte verlangt, daß er das Ende des Winters und den Frühling in einem südlicheren Klima zubrächte. Der Tod der Großmutter hatte die Reise nur verschoben; da Amélie gleichfalls zu reisen beabsichtigt hatte, begaben sich beide zusammen nach der Riviera.

Als die Geschwister an einem sonnigen Frühlingstag den Spielsaal von Monte Carlo betraten, waren beide durch das Treiben verwirrt. Zum erstenmal sahen sie wirkliche Eleganz; sie gingen schüchtern zwischen den belebten Spieltischen umher. Dann setzten sie sich auf ein Sofa und konnten sich nicht sattsehen an dem Gedränge um die Spieltische, an den hellen Toiletten der Damen, an ihrem sicheren Umhergehen und dem bunten Durcheinander internationaler Bräuche. Vielleicht eine Stunde saßen sie ganz schweigend; Amélie konnte ihre Augen gar nicht mehr abwenden von einer blonden, schlanken Dame, die kaum älter war als sie und mit einer unerhörten Sicherheit von einem Spieltisch zum anderen schritt. Sie setzte bisweilen auf zwei Tischen zugleich und eilte dann hin und her, um zu sehen, was das Schicksal ihrer Einsätze war. Amélie sagte zu Hermann:

»Sieh mal, diese da interessiert mich unglaublich.«

»Amerikanerin!« flüsterte Hermann. »Laß uns doch einmal etwas näher gehen und sehen, wie hoch sie setzt.«

Amélie stand hinter der Dame, während diese einen Stuhl nahm, und konnte ihr über die Schulter in das goldgewirkte Täschchen sehen, aus dem ihre schlanken, nervösen Hände immer wieder Goldstücke hervorholten. Sie mußte mehrere tausend Franken darin haben. Plötzlich sprang sie auf, Amélie trat verlegen zurück, die fremde Dame ging zu einem anderen Tisch und versuchte dort ihr Glück. Ob sie eigentlich mehr verlor als gewann, das konnte Amelie nicht feststellen, da sie die Regeln des Spieles nicht erfaßte. Verständnislos blickte sie auf mehrere bekümmert über Notizblocks gebeugte, ältliche Herren, die liniiertes Papier mit dichten Zahlenreihen füllten. Die Gebärde dieser sicheren Frau – oder war sie gar ein junges Mädchen? – die ihr als Typus unbedingt etwas ähnelte, machte ihr tiefen Eindruck. Sie war ganz weiß gekleidet und wirkte außerordentlich frei, doch ohne aufzufallen, wenn man nicht gerade ein besonderes Interesse an ihr nahm. Amélie musterte auch andere Kleider, und zum erstenmal fühlte sie nicht die geringste Auflehnung gegen diesen mondänen Geschmack, der sich vor ihr ausbreitete, vielmehr fragte sie sich im stillen, ob sie sich nicht mit ihren jetzigen Mitteln ebenso kleiden könnte.

»Weißt du, Hermann, ich bin ganz begeistert! Ich werde mir hier auch ein Kleid machen lassen. Wenn sich die Mode in einer so geschmackvollen Weise zeigt, dann hat sie Kultur. Und du solltest dir solch einen dunkelgrünen Anzug machen lassen, wie dieser Herr, der dort vorbeikommt.«

Hermann sagte:

»Ja, das kann ich tun. Ich brauche sowieso einen Frühjahrsanzug. Hättest du eigentlich Lust zu spielen?«

»Nein, davor fürchte ich mich,« erwiderte sie. »Aber ich möchte noch oft hierherkommen und zusehen.«

»Das ist auch viel künstlerischer,« antwortete Hermann.

Zufrieden verließen beide das Kasino, um in einem hübschen Spiegelrestaurant das Frühstück zu nehmen. Wieder waren sie von gut gekleideten Menschen umgeben, und Amélie war entzückt. Nur fühlte sie sich ein wenig dadurch bedrückt, daß sie beide in ihrer Münchener sogenannten künstlerischen Kleidung etwas aus dem Rahmen fielen, Hermann in einem seiner braunen Anzüge mit kropfartig verwursteltem Schlips von neuzeitlichem Entwurf, Amélie in einem sie unordentlich umflatternden, graugrünen Gewand mit bunten Dachauer Bauernbändern als Besatz.

Nachmittags gingen sie zu Schneiderinnen, Modistinnen und Herrenschneidern, aber sie waren entsetzt über die ungeheuren Preise. Das ging doch weit höher, als Amélie geglaubt hatte. Sie hätte allein niemals den Mut gehabt, wieder aus den Geschäften zu gehen, aber Hermann sagte in seiner brummigen, gleichgültigen Art:

»Nein, das fällt mir ja gar nicht ein, der Räuberbande mein Portemonnaie auszuliefern. Wir werden schon etwas anderes finden.«

Nur eines konnte sich Amélie nicht versagen, sie kaufte sich noch am selben Nachmittag einen Hut für achtzig Franken, der ihr ausgezeichnet stand. Während sie von einem jüngeren Ladenmädchen mit schwarzem Wuschelkopf, das sich ihrer aufs freundlichste annahm, bedient wurde, fragte sie, ob man ihr nicht eine gute Schneiderin empfehlen könne, die nicht so verrückte Preise mache wie die, wo sie bis jetzt gewesen seien. Das Mädchen lachte, als sie die Adressen hörte.

»Nun ja,« erwiderte sie mit jener naiven Gönnermiene, welche die kleinste Französin der Ausländerin gegenüber annimmt, »da darf sich Madame nicht wundern, das sind die Geschäfte, wo Leute kaufen, die im Augenblick ein paar tausend Franken gewonnen haben. Wenn ich Madame einen Rat geben darf, dann geht sie in Nizza zu Mlle. Antoinette, das ist meine Schwester, die schneidert ebenso elegant, wie Sie es in den teuren Geschäften finden, aber sie macht vernünftige Preise.«

Die Geschwister fuhren am nächsten Tag nach Nizza, wo auch Hermann einen ordentlichen Schneider fand, den wieder die wespenschlanke Mlle. Antoinette unter lebhaftem Spiel ihrer rabenschwarzen Augen aufs angelegentlichste empfahl. Von deren Verständnis und taktvoller Belehrung war Amelie überhaupt begeistert.

»Ah, j'entends, j'entends,« sagte sie immer wieder, »Madame n'aime pas le cliché, voilà.« Und nach dieser theoretischen Anerkennung ihrer »Eigenart« ließ Amélie sich praktisch zu allem überreden, was die kluge Mlle. Antoinette wollte.

Beim Hinausgehen sagte sie zu Hermann:

»So eine französische Schneiderin ist doch etwas ganz anderes. Die versteht wenigstens auf Ideen einzugehen, die man ihr gibt.«

Sie setzte ihre ganze Garderobe instand und erhielt gleichzeitig, ohne es zu merken, Unterricht über die Kunst der Kleidung, die sie in den letzten Jahren so gröblich vernachlässigt hatte. Ihr altes Talent für diese Dinge wurde wieder wach. Mlle. Antoinette wiederholte ein über das andere Mal, daß es ein wahres Vergnügen sei, eine Dame wie Amélie zu kleiden, die selbst einen so eigenartigen Geschmack besitze. Das gab Amélie Sicherheit; sie half auch Hermann bei der Auswahl seiner Halsbinden und Socken, und so kam es, daß nach etwa acht Tagen beide auf der Strandpromenade gar nicht mehr auffielen, und daß Amélie die Blicke vieler Vorübergehenden auf sich zog. Wie köstlich war doch nun wieder das Leben, dachte sie, und wie dumm und einfältig schienen ihr plötzlich alle diese Schwabinger Ideen!

Amélie eilte nun vom Theater zum Souper, vom Souper zum Ball und von dort in die Bars und konnte sich kaum entschließen, sich zu Bett zu legen. Hermann saß immer still beobachtend dabei; sein motziger Ausdruck war geschwunden, obwohl er keineswegs von allem so eingenommen war, wie seine Schwester.

Nach einiger Zeit drängte er, sie sollten sich nun an einem ruhigen Ort niederlassen, da ihn dieses Treiben ermüde und auf die Dauer nicht befriedigen könne. So begaben sie sich an einen kleinen Ort an der italienischen Riviera. Dort streiften sie durch die Berge wie einst, als sie zum erstenmal mit der Mutter in Italien waren, und nach wenigen Tagen begann Hermann sein Malzeug hervorzunehmen und Landschaften zu entwerfen. Es kam ihm vor, als ob er in der letzten Zeit, in der er doch gar nicht gearbeitet, trotzdem auf geheimnisvolle Weise Fortschritte gemacht hätte; das Malen machte ihm immer mehr Freude. Er sah gesund, fast rosig aus. Seine bleiche Schwammigkeit war völlig verschwunden; ein stillzufriedenes Phlegma kennzeichnete sein Wesen.

»Ich glaube, ich werde es nun doch noch zu etwas bringen,« sagte er eines Tages beim Kaffee auf dem sonnigen Balkon der Pension, »ich muß wieder nach München zurück und nun einmal ernstlich studieren. Alle die dummen Phrasen von einst habe ich mir aus dem Kopf geschlagen, wer hindert mich jetzt daran, wirklich ein Künstler zu werden?«

»Nach München«, sagte Amélie verächtlich, eine Zigarette rauchend, »bringen mich keine zehn Pferde mehr. Ich will jetzt endlich einmal die Welt kennenlernen, und wenn du nicht mitgehst, dann reise ich auf eigene Faust weiter.«

Nach einiger Zeit kam Hermann erholt und mit neuem Lebensmut, heiterer, als er je im Leben gewesen, nach München, wo er sich eifrig seinen Malstudien ergab.

 

Amélie reiste nun über zwei Jahre lang allein durch die Welt. Wenn sie mit ihrer Rente nicht auskam, so konnte sie durch den Rest ihres mütterlichen Vermögens, der ihr zur Verfügung blieb, nachhelfen. Jetzt wollte sie das Leben wirklich kosten, etwas »erleben«, eine Lebenskünstlerin werden! Erfüllte sie denn nicht alle Vorbedingungen dazu? Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie hübsch, fast schön war. Sie fühlte sich vollkommen frei, hatte den Titel einer Frau und die nötigen Mittel zur Verfügung, um von keinem Manne abhängig werden zu müssen. Daß sie auch Verstand und Geist besaß, daran konnte doch kein Zweifel sein. Was stand also noch im Wege, das Leben in vollen Zügen zu genießen und in eigenem Sinne zu gestalten? Und dennoch wollte es nicht gelingen.

Es fehlte nicht an Männern, die sich der jungen, alleinreisenden Frau anschlossen. Aber die meisten von ihnen waren ihr widerwärtig oder flößten ihr Furcht ein. Sie hatte – außer wenn sie davon las – eine unbeschreibliche Angst vor Abenteurern, und das veranlaßte sie zu heilsamer Vorsicht. Erschien sie irgendwo in Rom oder in St. Moritz in einem Gasthof und fand sie einmal einen Mann, der durch die Halle ging, reizvoll oder »interessant«, so gelang es ihr selten, gerade diesen auf sich aufmerksam zu machen, vielmehr war sie immer wieder von einer Sorte Männer umgeben, die sie schon in München etwas kennengelernt hatte, von zweifelhaften Südamerikanern oder Rumänen, sogenannten »rastas«, deren sie sich kaum erwehren konnte. Das machte sie manchmal so nervös, daß sie sich den ersten besten Landsleuten anschloß, die sie im stillen verachtete. So begann sie hie und da den konventionellen deutschen Assessor, ja, einmal sogar einen ungepflegten Professor der Botanik aus Leipzig zu schätzen, denn mit diesen Menschen konnte man doch immerhin einmal ein Wort reden, wie es einem ums Herz war, während das Abenteurergesindel der großen Gasthöfe für alles, was Amélie beschäftigte, nicht das mindeste Verständnis besaß. Sehr schwer erschien ihr auch der Verkehr mit Kellnern und Geschäftsführern. Sie besaß nicht die Sicherheit, die eine alleinreisende, schöne Frau braucht, um diese Art Menschen im gehörigen Abstand zu halten. So wurde sie hie und da mit zweifelhaften Blicken gemustert, es konnte vorkommen, daß man sie impertinent abwies mit der Bemerkung, es seien keine Zimmer mehr frei, obwohl das halbe Haus leer stand, und dann wieder geschah es, daß sie sich kaum der galanten Anwandlungen eines Gasthofangestellten erwehren konnte. Die Weltreisenden, die Sportsleute, die Diplomaten, kurz die »interessanten« Menschen, auf die sie gerechnet hatte, blieben aus.

Sie reiste planlos. Wenn ihr irgend jemand sagte, den oder jenen Ort müsse sie sich ansehen, dort sei die beste Gesellschaft versammelt, dann fuhr sie hin. So kam sie in einem Frühjahr nach Abbazzia. Abends setzte sie sich in einem hübschen Kleid – in diesem Punkt war sie jetzt immer einwandfrei – in eine Ecke der Halle, von wo aus sie gut beobachten konnte. Ein modern gebundenes Buch des Inselverlags sollte sie den Männerblicken gleich als »Kulturmenschen« kennzeichnen. Von diesem Platz aus hörte sie mancherlei. Sie fand das Leben ungemein »interessant«, gewann jedoch keinen Anschluß daran.

Nicht weit von ihr saß eine große, magere Blondine mit ungewöhnlich ausdrucksvollem, irgendwie heroisch oder tragisch wirkendem Profil. Sie war nicht ganz streng nach der Amélie nun wohlbekannten Mode gekleidet. Obwohl man längst keine langen Aermel mehr trug, ging der schwarze Atlasstoff des Kleides der Dame bis an die Handgelenke, die von schweren alten Goldarmbändern umgeben waren. Amélie glaubte das verachten zu dürfen und dachte an Schwabingerei. Da kam ein wohlgenährter, glattrasierter Herr mit braunen Gazellenaugen auf die Dame zu und begann eine Unterhaltung:

»Eh bien, le prince est parti.«

Amélie erfuhr nun, daß eine Hoheit bis heute nachmittag mit ihrem Gefolge im Gasthof gewohnt hatte, nun aber abgereist war und daß darüber die beiden geradezu aufatmeten. Sie waren nicht hierhergekommen, um Hofluft zu atmen, davon hatten sie zu Hause genug. Dann äußerte der Herr, die Gesellschaft hier sei doch zu minderwertig. Da ging gerade eine schwarzhaarige Dame in pfaublauem Seidekleid mit schwarzen Spitzen und einem perlenbesetzten Haarnetz durch die Halle. Es war die geschiedene Frau eines Wiener Advokaten. Die blonde Dame sagte:

»De quel monde sont donc ces femmes?«

»D'aucun,« antwortete der Herr. Dann redeten sie von den Windischgrätz und den Lubomirsky, den Radziwill und den Lovatelli.

Amélie war sehr verwundert. Die Wiener Dame war ihrer naiven Verehrung als der Inbegriff einer großen Dame erschienen. Sie gewann eines Abends von ihrem Platz in der Halle aus eine weitere Aufklärung.

Ein deutscher Afrikareisender, der kein S aussprechen konnte, sondern diesen Konsonant wie das französische J sprach, und ein Wiener Herrenreiter ohne ein Haar auf dem tiefbraunen Schädel, sprachen von jener Wienerin.

»Half bred,« sagte der Herrenreiter, »mir is a rechte Kokott' lieber. Diese geschiedenen Frauen mit zehntausend Gulden im Jahr, die der verflossene Herr Gemahl zahlt, verderben die ganze Gesellschaft. Man kennt sich ja nimmer aus.«

Amélie erschrak über dieses Wort, als sei es eine Anklage gegen sie selbst. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken.

»Half bred,« wiederholte der Afrikaner, »sehr gut ... bin ganz Ihrer Meinung!«

Nur ein einziges Mal schloß sich ein Mensch an sie an, der gleichzeitig einige geistige Interessen besaß und gesellschaftlich eine Stellung hatte. Es war ein bulgarischer Gesandtschaftsattaché, der in Berlin studiert hatte. Boris war ein winziger, sehr ritterlicher und aufmerksamer Mensch mit dickem schwarzen Schnurrbart, seine Huldigungen taten Amélie wohl. Aber wenn er von Liebe sprach, dann mußte sie ganz einfach lachen, und so unterließ er es. Er nannte sich dann ihren uninteressierten Freund und das ermöglichte ihr, mit ihm zusammen nach Paris zu fahren. Das war immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen, aber eine gewisse Angst vor dem Treiben dieser Stadt hatte sie bisher daran verhindert. Sie befreundete sich immer mehr mit Boris und es tat ihr wohl, sich ihm gegenüber, der als Mann ja doch nicht zählte, ein wenig gehen zu lassen. So kam das kleine Mädchen, ja die Schwabingerin, gelegentlich diesem Menschen gegenüber wieder heraus, der für alles, was sie tat, die größte Bewunderung hatte; aber es kam ihr vor, als ob er ihr in Paris nicht die Orte zeigte, die sie sehen wollte; er hatte sehr konventionelle Ideen darüber, was eine anständige Frau tun dürfe und was nicht.

Nichtsdestoweniger brachte sie ihn dazu, eines Abends mit ihr nach dem Theater zu Maxim zu gehen. Es reizte sie, seine Aengstlichkeit, mit der er sie zwischen den Kokotten an den enggestellten Tischen sitzen sah, noch zu steigern. Nein, Boris verstand nicht zu leben! Sie wollte unbedingt Champagner trinken und berauschte sich mit einer gewissen Absichtlichkeit, während sie ihn fortgesetzt neckte und laut ihren Professor der Moral nannte. Hie und da sprach sie französisch, offenbar um an den Nachbartischen verstanden zu werden. Dort begriff man, daß da ein über das erlaubte Maß ernsthafter Herr von einer hübschen, lustigen Frau zum besten gehalten wurde. Aber was war das wohl für eine Frau? Eine Dame konnte sie doch nicht sein, sonst würde sie sich nicht an einem solchen Ort so auffallend benehmen. Hier hielten sich Damen gewissermaßen auf der Galerie. Daß sie aber nicht vom Gewerbe war, das fühlte man doch, wenn man sie bloß hereinkommen sah. Sie benahm sich immer kindischer, je mehr Champagner sie trank, warf dem armen Boris Brotkrümchen und welke Blumen ins Gesicht und lachte ihn aus.

Zu der Zigeunermusik, die im Hintergrund gespielt wurde, tanzten hie und da die Kokotten in dem Gang zwischen den Tischen Boston, Two-step und andere moderne, amerikanische Tänze. Da erinnerte sich Amelie in plötzlich sentimental-betrunkener Anwandlung der Münchener Feste, und sie dachte, daß es doch etwas Großartiges sein müsse, diesen Frauen einmal die freien Schwabinger Tänze vorzuführen. Das plötzliche Gefühl für die »Kulturmission«, die darin lag, besiegte ihre angeborene Schüchternheit. Der Champagner hatte sie ohnehin von mancher Hemmung befreit. Zum Entsetzen Boris' stand sie plötzlich auf, begann in dem Gang umherzutanzen und dabei törichte Armbewegungen zu machen, wie sie sie einst bei der Barfußtänzerin Ellinor Schlosser gesehen hatte. Zunächst entstand ein allgemeines Kichern, aber irgend etwas empörte sich in den Kokotten, was offenbar mehr war, als Neid gegen unlauteren Wettbewerb. Diese Frauen hatten trotz allem ein instinktives Gefühl für Formen und sie empfanden es, ohne sich genau darüber Rechenschaft zu geben, als Takt- und Geschmacklosigkeit, daß eine Dame, die nicht in diese Welt gehörte, sich plötzlich so aufspielte. Eine spitze, schwarzhaarige Person fand, es sei »dégoûtant« und warf ein Sektglas nach Amélie. Kaum war dieses Zeichen gegeben, als Gläser, welke Blumen und andere Gegenstände auf die Tanzende niederregneten, die in einen plötzlichen Weinkrampf ausbrechend zu Boris zurücklief. Er war in der peinlichsten Verlegenheit, rief den Kellner herbei, der Amélie vor den Frauen schützen half, und als diese sahen, daß das Paar im Begriff war aufzubrechen, beruhigten sie sich und schrien nur noch:

»Sâle Prussienne! Sâle Prussienne!«

Unter diesem Ruf verließen Boris und die schluchzende Amélie Maxim.

»Diese gemeine Gesellschaft!« rief sie im Wagen. »Ich habe immer geglaubt, hier in Paris hätten die Kokotten Kultur.«

»C'est votre faute, c'est votre faute!« sagte Boris in einem fort.

Nun aber wendete sich ihr Zorn gegen ihren Begleiter; sie warf ihm vor, er habe sie nicht ritterlich genug beschützt. Darauf erklärte aber Boris ganz ruhig und mit einer überraschenden Entschiedenheit, er sei zwar bereit, eine Dame durch alle Fährnisse einer Großstadt zu führen und sie gegen Angriffe zu schützen, die Vorbedingung aber sei, daß sie selbst sich zu benehmen wisse. Dann nahm er vor der Tür ihres Gasthofes einen sehr kühlen Abschied. Am anderen Tag schrieb er ihr einen Brief, in dem er dankte für die angenehmen Stunden, die er mit ihr verbracht hatte, daß er aber leider wegen Familienangelegenheiten Paris verlassen müsse, er wünsche ihr eine glückliche Weiterreise.

Amélie war wie vernichtet, und die alten Schwabinger Redensarten regten sich wieder:

»Er ist ein ganz konventioneller, unkünstlerischer Mensch. Es ist gut, daß ich ihn nicht mehr sehe.«

Sie begann nun die weltlichen Freuden wieder zu verabscheuen und beschloß, sich mit Eifer dem Anschauen der Sehenswürdigkeiten zu widmen. Jeden Vormittag wollte sie von jetzt an in den Louvre oder in den Luxembourg gehen. Sie fing auch damit am nächsten Tag an, aber die Museen ermüdeten sie furchtbar und sie kam nicht sehr weit. Zerfahren lief sie in den Sälen herum, bald saß sie, in den Baedeker vertieft, auf einer Bank, bald fuhr sie nervös auf. Dann wieder starrte sie minutenlang, das Kinn in die Hand gestützt, dabei an etwas ganz anderes denkend, auf ein Bild, aber sie fand die Berührung mit dem Kunstwerk ebensowenig wie mit dem Leben. Ach, und die furchtbare Luft in so einem Museum und die dummen Amerikaner und die lauten Deutschen mit ihren anmaßenden Bemerkungen! Sie erinnerte sich zu ihrem Trost, gehört zu haben, daß Museen überhaupt ein Unsinn sind; es sei eine barbarische Art, Kunstgegenstände so auf einem Platz zusammenzustellen. Da müsse natürlich das eine das andere überschreien. Offenbar war es daher gerade ein Zeichen von verfeinertem Gefühl, wenn die Kunstwerke in einem Museum nicht auf einen wirkten. Man müßte ihnen frei begegnen können, um von ihrer Schönheit betroffen zu werden. Da dies aber in unserer Zeit nicht möglich ist, mußte Amélie auch den Genuß der Kunstwerke aufgeben.

Nun fand sie, daß die Großstadt überhaupt nicht das Richtige für sie sei und sie beschloß, in die Einsamkeit des Landes zu fliehen, ganz mit sich allein zu sein und niemanden zu sehen. Alles Französische – sie dachte dabei auch an die Großmutter und ihre Ideen – war ihr ja von jeher zuwider gewesen. Sie wurde darin so empfindlich, daß sie nun nicht einmal mehr den Akzent auf ihrem Namen vertrug, aber was tun? Ihn einfach weglassen, das ging nicht; da mußte sie sich schon Amalie nennen, freilich ein recht spießbürgerlicher, unpersönlicher Name. Sie überlegte: Mally, Ama, alles das war unmöglich, und so blieb es denn bei Amalie.

»Was tut es denn,« sagte sie sich, »ich heiße einfach so und wem es nicht recht ist, der kann fortbleiben. Uebrigens genau genommen ist der Name gar nicht so schlimm. Es kommt ganz darauf an, wie man ihn hört.«

Es war Ende Juni, als Frau Dr. Amalie Cornelius in die Schweiz reiste, wo sie sich in einer kleinen Pension einmietete. Sie verwirrte die Wirtsleute aufs äußerste. Kein Zimmer war ihr recht, hier verletzte sie die Tapete, dort die Aussicht, denn allzu hohe Berge »erdrückten« sie. Schließlich gab man ihr einen Pavillon in dem Garten der Pension, wo sie ganz allein für sich leben konnte. Sie wollte niemand sehen, erklärte sie dem Wirt auf das bestimmteste, als erwartete sie dessen Widerspruch, auch die Mahlzeiten würde sie in ihrem Pavillon nehmen. Das geschah denn auch; die Gäste der Pension sahen sie sehr neugierig an und das tat ihr zuerst wohl. Aber bald langweilte sie sich zum Sterben. Ihre einsamen Spaziergänge wurden immer kürzer, und schließlich hielt sie sich mit Vorliebe in dem kleinen Ort auf, wo es eine Konditorei gab mit illustrierten Zeitungen. Bisweilen setzte sie sich auf die Bänke der Anlagen, in der Hoffnung, Bekanntschaften zu machen, nur um einmal wieder ein paar Worte reden zu können, denn die Einsamkeit in ihrem Pavillon war unerträglich. Aber sie gestand es sich nicht zu und ging immer wieder eigensinnig in den Pavillon zurück, wo sie allein saß, während sie sich brennend dafür interessierte, was eigentlich in dem Speisesaal der Pension vorging. Nun aber konnte sie natürlich nicht mehr zurück, nachdem sie einmal die Rolle der menschenverachtenden Eigenbrötlerin auf sich genommen hatte. Oh, wie verachtete sie »die konventionelle Bande«, die lustige Ausflüge unternahm und abends bisweilen etwas lärmend beisammensaß, wobei es sogar vorkommen konnte, daß der Kanon »O wie wohl ist mir am Abend« ertönte.


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