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Eines Tages erschien Oesterot im »Tirol«; er fragte Amélie, ob sie das Künstlerfest mitmachen wolle, das zu Mitfasten gegeben würde, um den Karnevalsrausch noch einmal mitten in der Fastenzeit »aufgluten« zu lassen. Dieser Vorschlag brachte sie plötzlich wieder aus ihrem Geleise. Sie fühlte, daß dieses Fest, dessen Programm hieß: »Verkommene Existenzen«, sie wieder in das alte Leben hineinziehen würde, und daß sich das nicht mit den Grundsätzen der Baronin vertrug. Und doch, wie schwer war es, nein zu sagen! Uebrigens war es doch das letzte Mal. Nach diesem Fest könne ja kein anderes mehr kommen. Noch ehe sie Oesterot geantwortet hatte, drang dieser fast ungestüm in sie und sagte:
»Wie? Sie schwanken, Sie wollen nicht kommen? Das gibt es nicht. Jetzt dürfen Sie uns nicht im Stich lassen. Wir haben miteinander den ganzen Fasching durchlebt, jetzt bei der Nachfeier müssen Sie unbedingt dabei sein. Die ganze Atmosphäre würde zerrissen, wenn Sie, die Sie bis jetzt immer dabei waren, auf einmal fehlten. Ganz ernstlich, Amélie, das geht nicht. Es ist mehr als eine Privatsache für Sie. Sie haben eine gewisse Verantwortung gegenüber dem ›Kreis‹. Thea würde es Ihnen geradezu übelnehmen, wenn Sie nicht kämen, das können Sie mir glauben.«
Er stand hochaufgerichtet vor ihr. Sein Jupiterkopf blickte mit tiefem Unmut auf sie herab, und sie vermochte sich nicht dem Gefühl der Pflicht und der Verantwortung gegenüber dem »Kreis« zu entziehen. So sagte sie zu.
Das Fest fand an dem Abend des Tages statt, als Amélie im Krankenhaus gewesen war, aber wohlweislich hatte sie Cornelius nichts davon verraten; sie empfand das als eine Tat der Güte und Nachsicht für den Genesenden, den das doch nur unnötigerweise aufgeregt hätte. Noch einmal zog sie ein paar bunte Fetzen an und stürzte sich in den schwülen Trubel jener Tänze. Dieses Mal kam sie ganz allein, und das gab ihr eine gewisse Sicherheit; sie würde heute imstande sein, auf der Oberfläche zu schwimmen und nur neckend von einer Gruppe zur anderen zu eilen.
In ihrem Innersten war wirklich ein fester Vorsatz, sich nicht wieder in Lagen ziehen zu lassen, wie die, für welche ihr Rittmeier in jener Nacht ein so bezeichnendes Wort gesagt hatte. Sie tanzte mit verschiedenen Fremden, entglitt ihnen wieder, saß hie und da bei Bekannten am Tisch und hatte ein glückliches Gefühl, daß sie nun ganz frei über all diesen Dingen stand, ohne darin zu versinken, daß sie gewissermaßen wunschlos, d. h. als Künstlerin Farbe und Bewegung eines solchen Festes genießen konnte. Später würde sie das Cornelius ruhig einmal erzählen. Er hatte ganz recht gehabt. Damals, als ihr das alles neu war, hatte sie sich wirklich falsch benommen. Aber alles mußte gelernt sein. Oh, wie gut sie jetzt die Worte der Baronin verstand! Diese und Cornelius hätten sie ruhig hier sehen dürfen. Sie verstand nun, sich gegen Zudringlichkeiten jeder Art zu verteidigen. Manche Männer waren auch wirklich zu frech!
Als sie einmal durch den Saal ging, faßte sie plötzlich ein großer schlanker Mensch am Handgelenk. Er steckte in einem feuerroten, mittelalterlichen Henkerkostüm, dessen Stoff auch Stirn und Kinn bedeckte. Ein paar bewegliche dunkle Augen blickten wie durch ein rotes Visier. Er sagte:
»Das ist sehr möglich,« antwortete Amélie, »auch du kommst mir bekannt vor, sogar sehr.«
»Das muß ich herausbekommen, wo wir uns gesehen haben; es muß schon lange her sein,« erwiderte der Henker.
»Das ist mir ganz gleichgültig, hier fragt man nicht nach Nam' und Art.«
»Das ist wahr, komm, laß uns tanzen.«
Während sie sich mit ihm im Saal drehte, fühlte sie wieder etwas von einer Trunkenheit über sich kommen, wie sie sie bisweilen auf früheren Festen gespürt hatte, und dann mußte sie plötzlich an Baron Erich und die Vergangenheit denken, und ihr schien, als ob dieser Mensch, mit dem sie jetzt tanzte, irgendwie mit jener Zeit ihres Lebens in Verbindung stünde. Als der Tanz zu Ende war, führte er sie an einen Tisch zurück, wo er sie vorher hatte sitzen sehen, und verschwand in dem Gewühl.
Später holte er sie noch manchmal zum Tanz, und bei der Unterhaltung erfuhr sie, daß er viele Jahre im Ausland gewesen und jetzt nach München gekommen sei, um eine Zeitlang ruhiger zu leben. Er hatte sich in Schwabing ein Atelier gemietet, das er bewohnte, war aber kein Künstler. Was er eigentlich trieb, daraus war nicht klug zu werden. Das ganze Leben, meinte er, sei nichts als ein großes Abenteuer. Amélie zitterte bei solchen Worten. Sie blickte wieder in jene geheimnisvolle Welt, von der sie sich große Offenbarungen erhofft hatte, derentwegen sie nach München gekommen war, und jetzt gerade, wo sie umkehren wollte, mußte ihr dieser Mensch entgegentreten, der gewiß die Schlüssel zu manchem Geheimnis besaß. Ein fremdartiger Hauch umwehte ihn, und sie fühlte sich unwiderstehlich von ihm angezogen. Gegen das Ende des Festes trank sie mit ihm Champagner, aber obgleich sie genau an seinen brennenden Augen sah, wie sehr sie ihm gefiel, machte er nicht die mindesten Versuche, sich Freiheiten zu erlauben, wie Rittmeier. Das bewunderte sie. Sie war ihm dafür dankbar. So blieb sie leicht ihren guten Vorsätzen treu, aber sie fühlte wohl, daß er sie gerade durch diese äußerliche Gehaltenheit fesselte. In mancher Hinsicht erinnerte er sie an Cornelius. Er redete ebenso klug wie dieser, nur war er unendlich viel sicherer und stand ganz über der Lage. Dann sagte er wieder ganz verrückte Sachen, wie sie Cornelius nie eingefallen wären. Man könne alles, was man wolle. Es gäbe z. B. Zauberringe, die einem alle Wünsche erfüllten. Auch an Talismane glaubte er.
»Ach, dann geben Sie mir einen,« rief Amélie halb belustigt, halb gefesselt.
»Einen Talisman muß man sich selber machen,« erwiderte er.
»Aber wie?«
»Man magnetisiert einen ixbeliebigen Gegenstand solange mit dem Willen, bis er ein Talisman wird,« sagte er leichthin.
Auch Elementargeister, wie Undinen und Salamander, auch Hexen und Zwerge gebe es. Amélie z. B. selbst sei eigentlich eine Sylphe, ein Luftelf, aber ein böser Dämon, den er wohl kenne, habe sie verzaubert. Es könnte ihn reizen, Amélie zu entzaubern, denn gerade jener Dämon sei sein persönlicher Feind und hätte ihm schon manche reizende Frau verhext. Fortgesetzt spielte ein überlegenes Lächeln um seinen Mund, der gleichzeitig einen sinnlichen Ausdruck hatte. Er streifte sehr geschickt hie und da erotische Fragen, ohne sich aber allzusehr hinein zu vertiefen, so daß Amélie, von einer unbezähmbaren Neugier getrieben, plötzlich fragte:
»Sagen Sie einmal, haben Sie sich schon einmal richtig verliebt?« worauf er erwiderte:
»Ich bin dauernd verliebt.«
»Aber nicht immer in dieselbe?«
»Wie Sie wollen,« sagte er. »Ich bin in die Natur verliebt, und ihren Geistern, den Sylphen, Undinen, Gnomen und Salamandern bin ich treu bis in den Tod, den Luftigen, den Feuchten, den Erdwarmen und den Feurigen. Das Individuum mag wechseln.«
Amélie sah ihn voll Verwunderung an. »Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte sie.
»Ich habe kein bestimmtes Alter,« erwiderte er im Tone der Selbstverständlichkeit.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, schon als Knabe war ich manchmal uralt wie die Sphinx, und heute, wo ich schon manches hinter mir habe, fühle ich bisweilen Wallungen eines Zwanzigjährigen. Dagegen habe ich mit zwanzig Jahren, als ich zum ersten Male mit der modernen Welt in Berührung kam, eine lange Zeit der Greisenhaftigkeit vorweggenommen.«
»Aber wie alt sind Sie jetzt an Jahren?« fragte Amélie.
»Das hängt von Ihnen ab.«
Amélie wurde über und über rot. Sie hatte das Gefühl, daß auch ihre Schultern und der Hals erröteten. Wider Willen wurde sie ernst, und sie mußte ihn wie gebannt unverwandt ansehen, während er ihre Hand hielt und sein Gesicht dem ihren näherte. Sie hatte das Gefühl:
»Mit dem ist nicht zu scherzen.« Und das erfüllte sie mit einer grausigen Art der Befriedigung.
Sie saßen in einer Nische; die Tische rings um sie wurden leer, der Rücken des roten Henkers war dem Saale zugekehrt, so daß Amélie vor den Augen der Festteilnehmer vollkommen verborgen war. Sie fühlte sich von ihm immer mehr nach rückwärts gedrängt, und plötzlich lagen seine Lippen auf den ihren. Sie leistete keinen Widerstand und versank unter seinem Kuß wie in einen Abgrund. Da hörte man, wie sich ein Paar der Nische näherte, der Rote hatte sofort seine Haltung wieder, drückte noch einmal kurz ihre Hand und flüsterte ihr ins Ohr:
»Morgen nachmittag um halb fünf Ecke Franz-Joseph-Straße und Leopoldstraße.«
Dann schaute er sie einen Augenblick sehr eindringlich an, und sie flüsterte kaum hörbar:
»Ja.«
Er brachte sie nach ihrem Tisch zurück und ließ sich bis zu dem Ende des Festes nicht mehr sehen.
Amélie schlief die ganze Nacht nicht. Ihre Gefühle waren aufs tiefste erregt, und sie suchte dafür allerlei Erklärungen und Rechtfertigungen. Jetzt kam das wirklich große Erlebnis. Das war stärker als alles, was ihr bisher widerfahren, und sie fühlte sich so groß, daß sie Rittmeier die Demütigung verzieh, die er ihr angetan. Er hatte ja tausendmal recht gehabt. Diese Halbheit, diese Feigheit ihres bisherigen Lebens schien ihr nun als etwas Ekelhaftes. Da war sie nur so hineingeraten gegen ihre bessere Natur, die wirklich verzaubert gewesen, wie der Fremde sagte. Jetzt war ein starkes Gefühl in ihr wach, und nun wollte sie sich selber beweisen, daß sie Mut hatte und, wo es eine große Leidenschaft galt, auch vor dem letzten Schritt nicht mehr zurückschreckte. Der geheimnisvolle Mensch, der diese Gefühle in ihr erweckt hatte, sollte sie nicht ängstlich und feige sehen. Sie war jetzt zu allem entschlossen. Und entfernte sie das etwa aus der Lebenssphäre der Baronin? Keineswegs! Diese hatte ja sehr fein durchblicken lassen, daß sie durchaus nicht prüde und engherzig sei; gewiß hatte sie selbst große Erlebnisse gehabt. Sie hatte nur gesagt: die wirklich etwas wagen, die schweigen. Zu denen wollte Amélie jetzt gehören. Nur ganz vorübergehend dachte sie an Cornelius.
»Der arme Junge,« sagte sie sich bisweilen überlegen, »er hat es so gut gemeint. Wer weiß, vielleicht kehre ich eines Tages zu ihm zurück. Aber jetzt muß ich erst die große Leidenschaft durchkosten, mein Schicksal erleben.«
Als sie am anderen Tag an die Ecke der Franz-Joseph-Straße kam, stand ein elegant gekleideter, großer Herr mit fast olivenfarbiger Gesichtsfarbe da und erwartete sie. Er trat ihr mit einer Selbstverständlichkeit entgegen, als hätten sie sich schon öfters gesehen, und während sie neben ihm ging, sagte er ihr mit fast spöttischem Lächeln:
»Ich wohne nur einige Schritte entfernt. Hoffentlich macht es Ihnen nichts, vier Treppen hinaufzusteigen.«
Er sah sie mit einem vielsagenden Blick an. Amélie zitterte. Sie waren vor einem großen Hause am Ende der Leopoldstraße angekommen, er führte sie durch ein schönes Treppenhaus vier breite Stiegen hinauf; oben betraten sie ein riesenhaftes Atelier mit einem ungeheuren Fenster, durch das man weit hinaus in die Ebene blickte bis zu den Türmen von Freising. Das Gemach war voll von allerlei exotischen Möbeln, Teppichen, Waffen, Spiegeln und Stickereien aus Indien, Japan und Mexiko. Der Fremde ließ Amélie auf einem Diwan niedersitzen. Auf einem Tabouret lagen allerlei illustrierte Werke. Amélie öffnete eines mechanisch. Es enthielt indische Erotika mit blaßfarbigen Illustrationen. Der Text war französisch.
»Es ist eine Übersetzung des Kama Sutram,« erklärte der Fremde. »Sehr interessant. Lesen Sie französisch?«
»Ja, natürlich,« sagte Amélie und blätterte in dem Buch.
Dort las sie über die vierundsechzig Künste der Wollust, über die sieben Arten der Verbindung zwischen Mann und Frau, und daß es drei Sorten Männer gäbe, den Hasen, den Hengst und den Stier, denen drei Sorten Frauen, die Gazelle, die Stute und der Elefant entsprächen. Während sie in eines der farbigen Bilder versenkt war, beobachtete sie der Fremde, dann zog er sie auf den Diwan und küßte sie. Sie zitterte unter diesen Liebkosungen und setzte ihnen keinen Widerstand entgegen, sondern fühlte nun den Mut in sich, ihm alles zu gewähren. Sie erschauerte unter seinen Küssen und verlor fast das Bewußtsein, während seine Liebkosungen verwegener wurden. Sie wähnte sich wie über schwindelnde Abgründe getragen und alle die Zweifel und Verzagtheiten ihres Daseins lagen weit hinter ihr. Oh, ihm wollte sie folgen, wohin er sie auch führte.
Als sie sich wieder von ihrer Umgebung Rechenschaft gab, war es dämmerig in dem Raum geworden. Sie lag noch auf dem Diwan, der Fremde saß neben ihr und hielt ihre Hand.
»Armes, kleines Mädchen,« sagte er mit fast väterlicher Stimme, und in einem alltäglichen Ton, der seiner früheren phantastischen Art völlig entgegengesetzt war. »Wie bist du denn dazu gekommen, dich in die Höhle des Löwen zu wagen?«
Amélie verstand weder den Ton noch die Worte, die er sprach.
»Ihr deutschen Mädchen seid wahrhaftig von einer Harmlosigkeit, die man nicht für möglich halten sollte. Ich bin so viele Jahre weggewesen und habe daran nicht mehr geglaubt, und nun muß ich es selber gleich das erste Mal erleben.«
Amélie wußte sich vor Verwunderung kaum zu halten. Was er bloß meinte? Er streichelte zärtlich ihre Wange, küßte leise ihre Stirn und fragte sie: »Sag' mir doch einmal, Kindchen, was hast du dir denn eigentlich vorgestellt, wie das hier gehen würde?«
»Wie meinen Sie das?« fragte Amélie.
»Nun,« erwiderte er, »um es rund herauszusagen: Du bist doch noch ein Mädchen.«
Amélie wurde immer verwirrter.
»Warum fragen Sie so?« erwiderte sie.
»Nun, mein Kind, ich muß dir offen gestehen: als ich dich auf dem Fest eine Zeitlang beobachtete, hielt ich dich für eine ziemlich leichtsinnige Fliege, und da du mir gefielst, – weißt du noch, ich hatte dich ein Luftelschen genannt? – nahm ich dich auf die Seite, um mit dir ein hübsches kleines Abenteuer zu haben. Na, und du bist ja auch so darauf eingegangen, daß ich glauben mußte, du hättest schon manchen Sturm erlebt; und hier entdecke ich nun, daß das alles nur Kinderei war, und du offenbar von gar nichts eine Ahnung hast. Dieses Abenteuer hätte dir schlecht bekommen können, wenn du an den Falschen geraten wärest, der die Lage ausgenutzt hätte. Du darfst nun nicht glauben, daß ich mich hier als Tugendbold aufspielen will, gerade im Gegenteil. Weil ich es nicht bin, habe ich es nicht nötig, jede Gelegenheit auszunützen und so nebenbei zum Nachmittagstee eine kleine Katastrophe heraufzubeschwören, wie die Verführung eines höheren Töchterchens, denn daß du das bist, das merkt man dir trotz allem an.«
Amélie war wie gelähmt von diesen Worten.
»Du willst doch gewiß einmal heiraten?« fragte er weiter, »na, sag' doch ruhig ja. Es wäre ja unnatürlich, wenn du nicht wolltest. Ist es nicht so?«
Amélie zögerte.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht ja, vielleicht auch nein.«
»Aber ganz gewiß wirst du heiraten. Und nun nimm einmal den Fall an, der Herr Bräutigam würde dich nicht ganz so finden, wie er dich wünscht.«
Amélie vermochte nicht zu antworten.
»Nun, du brauchst keine Angst zu haben,« sagte der Fremde gutmütig lachend; »von dem, was heute zwischen uns vorgefallen ist, braucht der Zukünftige nichts zu merken, wenn du nicht so tollpatschig bist und es ihm selber erzählst. Nein, was man doch alles noch erleben kann!« Er stand auf und zündete sich eine Zigarette an.
»Rauchst du auch?« fragte er.
»Ich gehe jetzt,« sagte Amélie mit einer kindischen Art von Entschlossenheit und stand auf.
»Warum denn schon so schnell? Ich würde mich sehr freuen, wenn du noch ein bißchen hierbliebst und wir uns noch ein wenig unterhalten könnten.«
Er drehte die elektrische Tischlampe an. Dann ging er auf Amélie zu, zog sie an sich und schritt mit ihr durch den Raum. Sie suchte sich mit leiser Anstrengung loszumachen, aber er hielt sie fest. Da sah sie plötzlich auf dem Schreibtisch unter der Lampe ein paar Briefe liegen; mechanisch las sie die Adressen. Amélie war wie vom Blitz getroffen. Der Name hieß Erwin Dorn. Sie sah den Fremden an, und nun erkannte sie, daß er derselbe Erwin war, der ihr als erster auf der Schule den Hof gemacht und ihr die Bücher getragen hatte, mit dem sie jene verbotenen Stunden in der Grotte zugebracht, bis ihr die Großmutter den Verkehr mit ihm verbot. Alles dies schwirrte mit einer plötzlichen Deutlichkeit durch ihren Kopf, und von Entsetzen gelähmt sank sie in einen Sessel.
»Um Gottes willen, nur fort von hier, fort von hier,« rief sie sich zu, damit er sie nicht noch erkannte. Aber sie war im Augenblick unfähig aufzustehen.
In diesem Augenblick läutete der Fernsprecher.
»Hallo,« rief Dorn, »ja, ja, er selbst ... wer? ... Wer? ... ach, ausgezeichnet, ... ja, es paßt mir sehr gut ... am liebsten beute abend, ich habe nichts vor ... in einer Stunde ...? Ja ... küß die Hand.«
Obwohl Dorn sie noch etwas zurückzuhalten suchte, raffte Amélie sich auf, schlüpfte schnell in ihre Jacke und verließ ihn. Auch seine Begleitung verbat sie sich mit aufgeregten Gebärden. Erwin ging kopfschüttelnd in das Atelier zurück. Amélie eilte nach Haus, sie schlich durch das »Tirol« und war froh, niemanden zu sehen. Sie verging fast vor Scham. Dann verschloß sie sich in ihr Zimmer, legte sich zu Bett und schluchzte lange. Diese Demütigung war ja noch schlimmer als die, welche ihr Rittmeier in der Fastnacht zugefügt hatte.