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Am folgenden Morgen wachte Cornelius spät auf. Sein Kopf war dumpf und schwer, er hatte einen starken Schnupfen. Die dicht verhängten Fenster seines Schlafzimmers ließen den Raum völlig dunkel. Er griff gewohnheitsmäßig nach der elektrischen Birne auf dem Nachttisch, aber langsam zog er die Hand zurück: mit tiefer Traurigkeit entsann er sich der Geschehnisse der Nacht. Er konnte sich nicht entschließen, weiter zu leben wie bisher, diesen Tag in der gewohnten Weise zu beginnen, seine Aufwärterin hereinzurufen, sich die Morgenbriefe geben zu lassen und aufzustehen. Alles dies schien ihm verhaßt, nur das eine war ihm klar: daß er Amélie über alles liebte und sie sich halb verscherzt hatte. Der Gedanke, abzureisen, beschäftigte ihn nicht einen Augenblick länger. Aber was tun? Er wußte, daß im Augenblick nichts verkehrter war, als zu Amélie zu gehen und ihr von neuem seine Liebe zu gestehen.
Am Nachmittag tat er dann das, was in keinem Falle schaden kann: er schickte ihr Rosen mit einer Visitenkarte, auf der er sich nur erkundigte, wie ihr das Fest bekommen sei. Der Bote kam mit einem Briefchen zurück, sie danke ihm, es sei ihr sehr gut bekommen, sie habe sich noch vorzüglich unterhalten; schade, daß er so plötzlich verschwunden war, sie hoffe ihn aber bald wiederzusehen. Er möge doch einfach einmal nachmittags nach fünf bei ihr vorüberkommen, dann sei sie meistens zu Hause. Das war ein Hoffnungsstrahl. Es dämmerte bereits in Cornelius' Arbeitszimmer, als er noch sinnend über dem Briefchen saß, dem einzigen Gegenstand, den er nun von ihr hatte. Wie schön, und vor allem, wie einfach war doch alles, was er empfand! Er liebte sie, er wollte sie erobern; wenn es gelang, dann war es das lang erträumte Glück. Er kam sich wie erlöst vor von all seinen früheren Grübeleien, und er stellte fest, daß nur sein Geist zugespitzt und verwickelt erschien, daß sein Herz und seine Gefühle klar und einfach geblieben waren. Nun hatte er, was er ersehnte, das wirkliche Erlebnis, das seinem Innern die Einheit gab. Voll Glück eilte er hinaus auf die Felder, wo ein Sturm vereinzelte, entblätterte Bäume zauste, während ein scharfer Lichtstreifen an dem dunklen, wolkenschweren Horizont leuchtete. Seine Erkältung trieb ihn bald wieder nach Haus.
Am nächsten Tag war Cornelius wieder voll Ungeduld, aber er bezwang sich, nicht gleich, sondern erst in einigen Tagen zu Amélie zu gehen. Als er an dem Hause des Fürsten klingelte, erschien oben im Fenster ein Kopf. Er erkannte den Menschen, mit dem Amélie auf dem Feste zusammen gewesen war.
»Einen Augenblick,« rief er hinunter. Er schien hier schon sehr heimisch zu sein, denn er kam selbst herab und öffnete; er stellte sich vor: »Rittmeier, Kunstmaler. Uebrigens kennen wir uns ja schon von neulich abends. Sie sind aber früh heimgegangen.«
Cornelius antwortete höflich, er sei etwas müde gewesen.
»Na, Sie haben nicht viel verloren, es gibt ja jetzt noch eine ganze Reihe solcher Feste.«
Cornelius wurde in das »Tirol« geführt und begrüßte Amélie möglichst unbefangen. Sie war freundlich zu ihm und goß Tee ein. Es waren noch ein paar andere Menschen in dem weiten Raum, die in den Ecken saßen, Photographien ansahen und hie und da etwas zu Amélie herüberriefen.
Cornelius sah sich nun den Herrn Rittmeier etwas näher an; er war neugierig, diesen Nebenbuhler zu durchschauen und herauszufinden, was Amélie an ihm gefallen konnte. Er sah in der modernen Kleidung gar nicht so unangenehm aus, wie er ihn auf dem Feste gefunden hatte. Er war groß, ja fast riesig und wirkte sehr muskelstark. Der Rohrsessel krachte unter ihm, wenn er sich bewegte, und wenn er aufstand, zitterten die Möbel ein wenig. Er schien aber ein ganz gemütlicher Herr zu sein mit weltmännisch sicheren Formen. Zugleich war er ausgesprochen lässig. So trug er ein hellgrünes Flanellhemd mit weichem Kragen, aber wenn das zu einem Teebesuche auch nicht gerade als das rechte erschien, so war doch alles, was er an sich hatte, im einzelnen elegant und von bester Qualität. Er sah eigentlich gar nicht wie ein Künstler aus, sondern hätte mit seinem amerikanisch gestutzten braunen Schnurrbart und dem geschorenen Kopf geradesogut auch irgendeinem anderen, etwa dem Techniker- oder Ingenieurberufe angehören können.
Herrn Dr. Cornelius hat es gar nicht gefallen neulich,« begann Amélie.
»Das kann ich verstehen,« erwiderte Rittmeier lärmend, »ich teile auch die Begeisterung für diese Künstlerfeste gar nicht; der bal paré im Deutschen Theater ist viel schicker.«
»Warum gehen Sie denn doch hin?« fragte Amélie.
»Das fragen Sie?« lachte Rittmeier mit einer Verbeugung, »wenn man eine solche Gesellschaft findet, wie ich auf dem Gauklerfest, dann geht man schließlich überallhin.«
Cornelius ärgerte sich zuerst über diese Bemerkung; dann sagte er trocken: »Ich bin ganz Ihrer Ansicht.« Zugleich fühlte er doch eine gewisse Befriedigung, sich von einer ihm so unähnlichen Natur wie dem derben Rittmeier bestätigt zu fühlen.
»Nun,« erwiderte Amélie schlagfertig, zu Rittmeier gewendet, »dann werden Sie wohl auch zu dem Fest der Elendenkirchweih kommen, denn meine Gesellschaft werden Sie dort auch wiederfinden.«
Eine finstere Wolke hing über Cornelius' Gesicht, aber sofort nahm er sich zusammen und blickte freundlich.
»Diese Feste sind nichts Halbes und nichts Ganzes,« fuhr Rittmeier fort. »Sind Sie nicht jetzt gerade in Paris gewesen, Herr Doktor? Dann haben Sie vielleicht vom bal des quat'z arts gehört?«
»Ja, gehört habe ich davon, aber er findet erst im Frühling statt,« erwiderte Cornelius, stets voll schwankender Gefühle. Gleichzeitig war er eifersüchtig auf Rittmeier, und mußte ihm doch dankbar sein, daß alles, was er sagte, ihm aus dem Herzen gesprochen war.
Rittmeier erzählte: »Da geht es noch viel toller zu, als auf unseren Festen; › les dames sont instamment priées de laisser leurs chemises au vestiaire‹. Das ist dann wirklich eine Orgie, ein Bacchanal von erwachsenen Leuten, die wissen, was sie tun. Aber diese Künstlerfeste hier sind doch eigentlich für unsereinen nur eine große Kinderei, weiter nichts.«
»Ach, die Männer,« rief Amélie, »die sind immer blasiert. Das liegt eben daran, daß sie die schrankenlose Freiheit haben, sich alles zu erlauben, was ihnen Spaß macht, und darum kann ihnen so etwas wie die Münchener Feste nicht mehr gefallen. Gott sei Dank ist das ja jetzt auch für uns anders geworden, und wir Mädels können uns jetzt auch ein bißchen in der Welt umtun. Hoffentlich werden wir davon aber doch nicht so blasiert, wie ihr Herren der Schöpfung. Ich habe mich himmlisch amüsiert neulich.«
»Na, da wünsche ich Ihnen auch recht viel Vergnügen auf der Elendenkirchweih,« erwiderte Cornelius möglichst ohne Schärfe. Er stand auf und nahm Abschied, um nicht allzu interessiert zu erscheinen. Dann gab er Rittmeier die Hand und sagte freundlich:
»Es hat mich sehr gefreut, Sie auch einmal ohne Kostüm kennenzulernen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite,« erwiderte Rittmeier sich verbeugend, und brachte Cornelius wieder hinaus. Dieser wäre, als er wieder allein war, vor Schmerz fast zusammengebrochen. Er verhehlte sich nicht, daß Rittmeier den richtigen Ton gefunden hatte. Auch der mißbilligte diese Feste, genau wie er, aber es focht ihn nicht an, trotzdem einmal eins mitzumachen, und diese Haltung mußte Amélie natürlich mehr gefallen, als seine sichtliche Gekränktheit. Trotzdem kam es ihm vor, als habe er sich heute ihr gegenüber richtiger benommen. Wer weiß, vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Mit Rittmeier kokettierte sie wohl nur, um ihn zu ärgern.
Cornelius gelang es nun, die nächsten zwei oder drei Male, als er mit Amélie zusammen war, vollkommen in dem zurückhaltenden Ton einer für sich selbst nicht mehr viel verlangenden Freundschaft zu verharren. Interessierte sie ein Buch, so lieh er es ihr; kam die Rede auf Bilder, so war er bereit, mit ihr eine Stunde in eines der Museen zu gehen. Als sie einmal sagte, sie würde viel öfter ins Theater gehen, wenn das langweilige Besorgen der Karten nicht wäre, bot er sich an, das für sie zu übernehmen. Amélie tat das wohl. Die Leere des Daseins, über die sie sich noch vor kurzem, ohne es sich immer ganz zuzugestehen, so sehr gegrämt hatte, war nun plötzlich ausgefüllt. Sie hatte einen außerordentlich regen und unterrichteten Menschen fortgesetzt zu ihrer Verfügung, der ihre innere Trägheit überwand und die doch immer wieder in ihr erwachenden Interessen so schnell befriedigte, daß sie gar keiner Ausdauer und Anstrengung bedurfte, um auf dieser ihr ungewohnten und der Eitelkeit schmeichelnden Stufe des geistigen Lebens zu bleiben. Aber sie hütete sich sehr, irgend etwas merken zu lassen, wie zufrieden sie darüber war; sie hatte die größte Angst, er könne sich etwa einbilden, sie liebe ihn, und er habe irgendwelche Rechte auf sie. Wäre ihm durch irgendeine gemeinsame Freundin nur ein Wink gegeben worden, wie sehr er in diesen Tagen Amélie gefiel, dann hätte er seine Haltung gewiß noch lange fortsetzen können. So aber mußten die aufs äußerste gespannten Nerven unter der steten Plage des Zweifels von Zeit zu Zeit immer wieder versagen; kaum aber verließ ihn seine Zurückhaltung, sei es, daß er irgend etwas, was sie schätzte, zu lebhaft verurteilte oder eine zu warme Teilnahme für Amélie zeigte, meldete sich sofort in ihr der zähe Trotz gegen seine Autorität, die, wie sie immer befürchtete, ihre »Persönlichkeit« unterjochen und ihr die »in langem Ringen erworbene Weltanschauung« nehmen könnte. Dann hob sie ihr Kinn hoch und machte böse kleine Bemerkungen. So zerstörte er immer wieder im Keim das noch zu zarte Pflänzchen ihrer Neigung.
Cornelius hatte in Italien gelernt, einige einfache italienische Gerichte mit allen Feinheiten der Landesküche zuzubereiten, und so lud er Amélie einmal zum Abendessen ein und schlug ihr vor, sie wollten gemeinsam italienische Spaghetti bereiten. Dieser Vorschlag entzückte Amélie, sie nahm ihn mit freundlicher Zurückhaltung an. Am Morgen desselben Tages, an dem sie abends kommen sollte, erhielt Cornelius ein großes Paket. Es war das Manuskript seiner ersten Novellen, das ein Verleger, nachdem er es drei Viertel Jahr behalten hatte, um es zu drucken, nun plötzlich zurückschickte. Er hatte schon die Möglichkeit eines literarischen Erfolges in Verbindung mit seiner Liebe zu Amélie gebracht, ja von seinem bald erscheinenden Buch zu ihr gesprochen. Nun aber war dies alles vorbei. Er ging verstimmt zu Tisch und trank dann einsam irgendwo Kaffee. Auf dem Heimweg aber fühlte er deutlich, wie seine Verstimmung fast wie eine körperliche Last von ihm genommen wurde. Er dachte, daß es jetzt nur noch vier Stunden dauere, bis Amélie zu ihm käme, und daß er mit ihr einen Abend ungestört verbringen dürfe. Was lag da noch an Manuskripten, Verlegern und allem anderen? Wenn sie kam, wollte er gern alle Enttäuschungen tragen und Mut zu allem Künftigen fassen. Er malte sich den Abend in den verlockendsten Farben aus, wie er ihr nach Tisch ein wenig Klavier vorspielen wolle und sie spät durch die gefrorenen nächtlichen Winterstraßen nach Hause bringen würde.
Schon vor halb acht, der Stunde, zu der Amelie erscheinen wollte, war alles aufs beste vorbereitet, der Tisch gedeckt, in der Küche das Notwendige zurechtgestellt, damit die Spaghetti schnell bereitet werden könnten. Amélie wollte selbst dabei helfen, um es zu lernen, die Aufwärterin hatte er absichtlich fortgeschickt.
Die Räume waren sehr behaglich; terrakottafarbene Tapeten gaben einen warmen Ton, in dem die schweren, braunen Familienmöbel vortrefflich zur Geltung kamen. Auf den Tischen im Eßzimmer wie im Arbeitszimmer standen Nelken, Chrysanthemen und Narzissen. Kurz vor halb acht setzte sich Cornelius ans Klavier, um nicht seine Ungeduld durch genaues Achten auf die Zeit zu steigern. Er spielte eine Mozartsche Sonate und beschloß, falls ihn Amélie wider Erwarten nicht dabei unterbrechen würde, nicht eher auf die Uhr zu sehen, als bis der erste Satz mit allen Wiederholungen zu Ende sei. Er ging zu Ende und es hatte noch nicht geklingelt. Er sah auf die Uhr, schon war es zehn Minuten nach halb. »Nun,« dachte er, »sie kann sich verspätet haben,« und nahm den zweiten Satz in Angriff. Aber auch den dritten Satz spielte er noch. Dann setzte er sich tief niedergeschlagen in einen Sessel und fühlte, daß seine Hoffnungsfreudigkeit wieder einmal verbraucht sei. Da plötzlich klingelte es, er stürzte nach der Tür, und Amélie erschien. Es hatte längst acht geschlagen.
»Entschuldigen Sie meine Verspätung,« sagte sie, während er ihr in dem engen Vorplatz das Jackett auszog, »aber gerade in dem Augenblick, als ich fortgehen wollte, kamen verschiedene Bekannte, um wegen der Kostüme für die Elendenkirchweih zu beraten, und dadurch ist es etwas spät geworden.«
Das gab Cornelius wieder einen Stich ins Herz, daß gerade die Vorbereitung zu einem dieser Feste an der Verspätung schuld war, aber schnell sammelte er sich, denn nun war sie ja doch da. Sie trat ins Zimmer und faßte mit einer reizenden Bewegung nach dem Hinterkopf, dessen Haar sie zurechtstrich. Die Blumen entzückten sie.
»Vergessen Sie nicht, davon mitzunehmen, was Sie nur tragen können,« sagte Cornelius lächelnd.
»Und nun die Spaghetti,« rief sie, »ich bin neugierig, wie man sie macht.«
Sie gingen in die kleine Küche. Schon war Cornelius wieder vollkommen versöhnt und begann mit ihr die Zubereitung der Speise. Das Wasser hatte er schon vorher auf den Gasherd aufgesetzt, so daß es sofort wieder zu kochen begann. Die Spaghetti mußten nun hineingeworfen werden und dann etwa zehn Minuten lang kochen. Während dieser Zeit schaute sich Amelie in der Küche um und lachte über die Junggesellenwirtschaft. Da fehlten manche der notwendigsten Geräte, dafür stand das Salz in einer japanischen Cloisonnéschale.
»Uebrigens,« wendete sie sich plötzlich an ihn, »sehr viel Zeit habe ich nicht; ich muß spätestens um halb zehn Uhr wieder gehen.«
Cornelius fiel wie aus den Wollen. Sie beobachtete ihn prüfend.
»Haben Sie eine Verabredung?« fragte er, und schon fühlte sie ihren alten Trotz, der ihm zeigen sollte, daß ihn das eigentlich gar nichts anginge.
»Ja, ich habe mich mit den Bekannten verabredet, die vorhin bei mir waren.«
»Aber ich denke, Sie hätten doch alles ausgemacht?« fragte Cornelius bitter.
»O nein,« erwiderte Amelie, »wir sind noch lange nicht fertig. Wenn ich aber noch später zu Ihnen gekommen wäre, das hätte Ihnen doch natürlich auch nicht gepaßt.«
Gegen diese Logik war nichts einzuwenden.
Cornelius schüttelte schweigend die Spaghetti auf das Sieb, dann auf eine kleine Platte, tat Butter und Käse dazu und trug sie in das Zimmer. Dann saßen sich beide bei Tisch gegenüber, aber alle Freude und Behaglichkeit war vorbei. Er konnte kaum essen. Obwohl er genau fühlte, daß er wieder einen großen Fehler machte, legte er plötzlich die Gabel hin und sagte:
»Hören Sie einmal, Amélie, Sie haben neulich einmal gesagt, daß Sie sich über meine freundschaftliche Anteilnahme freuten; Sie haben also meine Freundschaft angenommen. Heute möchte ich Sie nun um einen Freundschaftsdienst bitten.«
»Und der wäre?«
»Gehen Sie heute abend nicht dorthin.«
»Aber warum denn nicht? Das kann Ihnen doch gleich sein.«
»Nun, ganz einfach, weil ich Sie heute abend brauche, Sie nötig habe, weil ich diesen Abend nicht ohne Sie, überhaupt nicht allein sein möchte.«
»Warum denn?«
»Ich habe heute morgen eine sehr unangenehme Nachricht bekommen, aber es gelang mir, mich darüber zu trösten, denn ich brauchte nur daran zu denken, daß ich Sie ja heute abend sehen würde; Sie haben mir wohl auch nichts von Bedrückung angemerkt, als Sie kamen. Wenn Sie mich aber nun wieder allein lassen, so kommen die Gespenster zurück und lassen mich nicht los.«
Amélie dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie:
»Das ist nun wieder einmal eine von Ihren Launen. Sie wollen nur nicht, daß ich auf das Fest gehe.«
»Aber was hat denn das mit dem Fest zu tun?« sagte Cornelius. »Daß Sie auf das Fest gehen wollen, das weiß ich doch längst, davon ist ja immer die Rede gewesen.«
»Nun, aber recht ist's Ihnen nicht, gestehen Sie's nur offen.«
»Sie wissen ja, wie ich von diesen Festen denke, aber ich habe Ihnen keine Vorschriften zu machen.«
Es trat ein kurzes Schweigen ein.
»Amélie,« rief er in zärtlichem Ton, »bleiben Sie heute abend bei mir.«
»Wie geht denn das?« fragte sie eigensinnig, »ich kann doch nicht ohne weiteres eine Verabredung brechen.«
»Wir waren doch zuerst verabredet.«
»Warum sagen Sie das alles?« fragte sie. »Sie wollen mich doch nur mit Ihren Ansichten tyrannisieren, das ist alles.«
»Amélie, ich schwöre Ihnen, daß mir in diesem Augenblick nur an dem heutigen Abend etwas liegt.«
»Nun, wenn das wahr ist, so kommen Sie doch einfach mit. Sie kennen die Leute ja auch. Ich treffe sie gegen zehn Uhr.«
Sie nannte eines jener Schwabinger Weinlokale, wo die Bohème bis vier, fünf Uhr morgens bei Wein und Musik umhersaß. Amélie fühlte sich durch diesen Einfall wie befreit. Sie konnte ihr Gewissen beruhigen, da sie ihn nicht seiner Einsamkeit überließ, und gleichzeitig wußte sie nur zu gut, daß er sehr ungern mitgehen würde. Das war dann seine Sache, und wenn einer eigensinnig genannt werden konnte, war er es, falls er sich weigerte, sie zu begleiten. Schade, daß sie die Sache nicht gleich so eingerichtet und ihm beim Kommen gesagt hatte: »Nachher wollen wir noch zusammen meine Freunde treffen.«
»Warum wollen Sie mich an Orte bringen,« sagte Cornelius, sich zur Ruhe zwingend, »wo ich, wie Sie wissen, doch in einem fremden Element bin und nur unsympathisch wirke?«
»Nun sehen Sie?« triumphierte Amélie, »das wollte ich nur wieder einmal hören! Es kommt Ihnen eben nicht auf diesen einen Abend an, sondern Sie wollen mir nur meine Lebensgewohnheiten vorschreiben. Das lasse ich mir aber nicht gefallen.«
Darauf stand sie auf und setzte sich auf einen Sessel in der Ecke. Cornelius suchte sie als Wirt wenigstens zu veranlassen, weiter zu essen. Sie aber behauptete, der Appetit sei ihr vergangen. Er ging ratlos hin und her, trat zu ihr, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte:
»Amélie, es tut mir wirklich herzlich leid, daß ich Sie so verstimmt habe.«
»Das ist nicht wahr!« schrie sie nun fast wütend, »es tut Ihnen nicht leid!«
»Ich bin vielleicht sehr töricht gewesen,« fuhr Cornelius fort, »nun sehe ich, daß Ihnen wirklich sehr viel daran liegt, hinzugehen; wenn das der Fall ist, so habe ich unrecht, denn ein Opfer wollte ich ja nicht von Ihnen verlangen, nur eine Gefälligkeit. Aus dem Ernst, mit dem Sie das alles aufnehmen, sehe ich, daß etwas dahintersteckt, was ich nicht weiß, und wonach ich wohl auch kein Recht habe zu fragen.«
Amélie spitzte die Ohren. Das reizte sie.
»Wie meinen Sie denn das?« fragte sie.
»Nun, ich nehme an, daß Sie dort ganz einfach jemand treffen wollen, für den Sie sich interessieren. Das können Sie mir aber ganz offen sagen, denn dann würde ich alles plötzlich verstehen und zugeben, daß ich kein Recht dazu habe, Sie heute für mich zu beanspruchen. Ist es so?«
»Ja, vielleicht,« erwiderte Amélie und dachte dabei a»Rittmeier, der allerdings vermutlich hinkommen würde.
Cornelius tat nun, als sei er mit dieser Lösung ganz einverstanden. Er nötigte Amélie von neuem zum Essen, und sie setzte sich wieder zu ihm an den Tisch. Nachher fragte er sie, ob er ihr ein wenig vorspielen solle? Er fühlte wohl, daß Worte die Lage wieder verschlimmern würden, die Musik aber sie ein wenig mildern könnte. Sie gab sich nun auch ganz der Stimmung hin, der leisen Musik in dem verschleierten Licht des rötlichen Raumes und hätte selber nicht mehr den Entschluß zum Aufbruch gefunden. Was lag ihr denn im Grund an den Bekannten, wenn es jetzt auf einmal anfing hier so nett und gemütlich zu werden? Aber Cornelius verrannte sich nun nach der entgegengesetzten Richtung und trieb seine Politik der »uninteressierten Freundschaft« so weit, daß er um punkt halb zehn Uhr aufstand und selbst zu Amelie sagte, er glaube, es sei nun Zeit, daß er sie zur Trambahn bringe. Natürlich hegte er die leise Hoffnung, sie würde vielleicht doch bleiben, aber da er sie ja selbst aufforderte, erhob sie sich mit einem Seufzen. Er half ihr in die Jacke, dann gingen sie durch das dunkle Stiegenhaus. Draußen heulte ein Sturm, es war Tauwetter eingetreten. Wie widerwärtig ist es, nun dorthin zu gehen! dachte Amélie. Die Bretter eines Holzverschlages an der Straße dröhnten im Wind. Amelie mußte ihren Hut festhalten, während sie über Pfützen schritt. Kaum vermochte sie gegen den Sturm anzukämpfen. Endlich erreichten sie die elektrische Bahn. In namenlosem Schmerz sah Cornelius, wie sie in der Nacht verschwand. Er wußte genau, daß sie nun vor vier oder fünf Uhr morgens nicht nach Hause gehen würde, nachdem sie in der ihm widerwärtigsten Gesellschaft die Nacht verbracht hatte.
Tief verstimmt und verwirrt kam sie in das Weinhaus, wo sie ihre Freunde traf. In einer Wolke von Zigarettenrauch und Speisegeruch saß man unter verschleierten Lampen in einer rötlichen Dämmerung beisammen. Amélie wurde lärmend begrüßt. Man schenkte ihr Wein ein, und sie trank, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wer ihr diesen Wein anbot. Alles schrie durcheinander, hie und da sang einer zu der Musik, dann tanzte ein als Rautendelein geschmücktes Mädchen zwischen den Tischen, und so wurde es halb drei.
Langsam vergaß sie ihren Aerger unter der Einwirkung des Alkohols und der vielen Zigaretten, die man ihr von allen Seiten reichte und die sie niemals verweigerte. Gegen Morgen ging man irgendwohin Kaffee trinken, und obwohl sie todmüde war, konnte sie sich nicht entschließen, allein nach Hause zu gehen. So blieb sie mit den Letzten noch in einem kleinen Kaffeehaus sitzen und fragte schließlich, ob jemand in ihrer Nähe wohne? Die Herren übten nicht die Pflicht der Ritterlichkeit, eine Dame nachts wenigstens bis zu einem Wagen zu begleiten; gab es doch hier keine Herren und Damen, sondern nur Kameraden oder Kollegen. So mußte Amélie sich schließlich doch aufraffen, als es auf vier Uhr ging und sich allein durch die nächtlichen Straßen schleppen. Noch immer heulte der Wind und ließ die Blechschilder an den Häusern klappern. Aus den Kellern der Bäckereien stiegen schwerfeuchte Gerüche von Teig und Anis herauf. Auf der Ludwigstraße schlich eine einsame Droschke, der Amelie winkte. In einer an Schwermut grenzenden Verstimmung kam sie nach Hause.
Die nächsten Tage verbracht« sie in dauernder Wut gegen Cornelius, aber sie schwor sich, sich zu entschädigen für das, »was er ihr angetan«, und sich auf der Elendenkirchweih einmal bis aufs äußerste zu amüsieren, zu tollen und draufloszuleben.
Dieses Fest unterschied sich eigentlich in nichts von dem Gauklerfest, nur daß es nicht außerhalb Münchens, sondern in den Sälen der Schwabinger Brauerei stattfand. Amèlie wurde von Rittmeier abgeholt. Sie hatte Kopfweh gehabt und einige Pulver genommen, von denen ihr nun ganz dumpf im Kopf war. Er merkte ihr sofort an, daß sie sich nicht wohlfühlte, aber sie sagte, wenn sie erst ein paar Glas Sekt getrunken hätte, würde es schon vergehen. Und so war es; Rittmeier ließ es an nichts fehlen, Amèlie aufzuheitern. Nach der ersten Flasche tanzten sie sich heiß, und bald ließen sie sich auf der Erhöhung nieder, die es auch hier gab für die, welche sich ungestört in endlosen Küssen ineinander verschlingen wollten. Amèlie hatte im stillen diesen Augenblick erwartet, ohne es sich zuzugestehen, dabei dachte sie immerfort mit Feindseligkeit an Cornelius. Rittmeier war ihr nicht unsympathisch, und er nahm sich alle die Freiheiten heraus, die in dieser Lage, in der Dämmerung zwischen lauter halb Trunkenen, möglich waren. Auf dem Gauklerfest hatte sich Amèlie noch dagegen gewehrt, und es war Rittmeier nichts anderes, als hie und da ein flüchtiger Kuß gelungen; heute aber lag er mit ihr, wie die anderen, Mund auf Mund, und sie dachte: »Was liegt denn daran? Es ist wieder ganz dasselbe wie einst mit Erich, und es wird wohl mit mir immer dasselbe bleiben.« Erinnerte sie sich hie und da an Cornelius, so geschah es voll Zorn, ja sie war überzeugt, daß er an alledem schuld sei. Bisweilen fühlte sie sich dazwischen nüchtern werden – sogar etwas wie Ekel stieg in ihr auf –, dann verlangte sie wieder Sekt zu trinken und zu tanzen, und darauf ging es wieder ein, zwei Stunden weiter wie vorher. Vollständig abgestumpft ließ sie sich von Rittmeier gegen fünf Uhr nach Hause bringen, und ohne viel nachzudenken, sank sie ins Bett.
So schwer es ihm wurde, Cornelius hatte sich geschworen, bevor die Elendenkirchweih vorbei sei, nichts von sich hören zu lassen, denn er wußte wohl, daß die Aussicht auf dieses Fest und die Traurigkeit, die es ihm verursachte, Amélie dort zu wissen, ihm nicht erlauben würden, ihr gegenüber die richtige Haltung zu finden. Amélie hatte sich über sein Schweigen gewundert, aber wollte sich darüber keine Rechenschaft geben.
Als sie am Tage nach dem Feste gegen zehn Uhr aufwachte, war ihr höchst widerwärtig zumute.
»Mir ist es bestimmt, zu verkommen,« dachte sie, wie einst in der Zeit, als sie mit Erich in engen Beziehungen stand.
Als sie aufgestanden war und in die tief verschneite Straße blickte, überkam sie plötzlich eine Sehnsucht nach Cornelius. »Warum hat er denn gar nichts mehr von sich hören lassen?« fragte sie sich, und sie bereute, ihn so schlecht behandelt zu haben. Wer weiß, vielleicht war doch ein Brief von ihm da. Seine Briefe waren immer morgens gekommen.
Cornelius hatte in seinem Glauben an sie auf diesen Katzenjammer nach dem Feste gerechnet und in einer glücklichen Eingebung ihr am Abend vorher ein paar Zeilen geschrieben. Er habe während der ganzen Zeit nichts von sich hören lassen, um in ihr nicht den Eindruck zu erwecken, daß er ihre Absicht, die Elendenkirchweih zu besuchen, irgendwie zu beeinflussen gedenke; nun aber, wo das Fest vorbei sei, möchte er ihr den Vorschlag machen, mit ihm am Fastnachtsdienstag den bal paré zu besuchen, den sie sich, wenn sie München kennenlernen wolle, zum mindesten einmal ansehen müsse. Amèlie jubelte auf, als sie diese Zeilen las, und in ihr entstand sogar ein Gefühl der Zärtlichkeit und Dankbarkeit zu dem Schreiber, der ihr gerade jetzt, wo sie sich in einem Sumpf befand, wieder die Hand entgegenstreckte. Der Gedanke wurde ihr in den nächsten Tagen immer verlockender, in einem hübschen Gesellschaftskleid mit Cornelius, der einen Frack tragen würde, zu einem hellen Ballfest in einem großen Saal zu gehen und dort zu tanzen und in angeregter Gesellschaft zusammenzusitzen, ohne die halbdunklen Gepflogenheiten der Schwabinger Feste.