Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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»Ein ausgewachsenes junges Mädchen paßt nicht mehr in die Familie.« Dies war die Ansicht der Frau Schüler, die inzwischen im stillen aus Rücksicht auf Stehrs Stellung ihr Verhältnis zu ihm hatte legitimieren lassen. So mietete sich Lina ein eigenes Zimmer. Sie richtete es, wie sie glaubte, nach ihrem persönlichen Geschmack ein. In Wirklichkeit ahmte sie das nach, was in den ihr bekannten Kreisen jedermann tat. Man verabscheute dort alle Schnörkel und meinte, jedes Möbel müsse seinen Zweck zum Ausdruck bringen wie eine technische Eisenkonstruktion. Außerdem hatte man wenig Geld. Aus jener theoretischen und dieser praktischen Vorbedingung entstand ein nüchterner Stil, der zwar alles eigentlich Geschmacklose vermied, aber aus sich kein Behagen und keine persönliche Atmosphäre hervorzubringen imstande war. Lina ließ ihr Zimmer mit einer kühlen, graublauen Farbe streichen, die Möbel waren eckig und hart aus Tannenholz gezimmert und mit weißer Oelfarbe gemalt. Ein Stuhl hatte Armlehnen, und auf dem Sitz lag ein Kissen. Auf dem Ofen stand der Bambino von Donatello. An den Wänden hingen schmalgerahmte Photographien, meist nackte Menschen darstellend, denn nicht auf den Stoff, sondern nur auf die Kunst kam es an, und reife Menschen sind wohl imstande, menschliche Körper ohne sinnliche Erregung zu betrachten. Es war darum für Lina nicht ganz leicht, eine Aufwärterin zu finden; eine hatte erklärt, in »so an Saustall« ginge sie nicht, nein, das tät' sie nie und nimmer, ihr Mann sei Postbeamter gewesen und läg' auf dem nördlichen Friedhof, und das hätt' sie nicht nötig, in »so an Saustall« zu gehn. Im übrigen atmete der ganze Raum Weltanschauung, Protest gegen die Vergangenheit, Bereitschaft für alles neue. Hier hauste nun Lina, wie immer wenig gepflegt im Aeußeren und etwas burschikos in ihren Formen, obwohl sie theoretisch das heidnische Ideal der Körperpflege laut anerkannte.

Das Hetärenideal hatte Lina inzwischen mit dem »Ethos der Mutterschaft« vertauscht, denn durch ganz Deutschland scholl der Schrei der Mädchen »nach dem Kinde«.

In ihr modernes Zimmerchen hoffte Lina eines Abends zurückzukehren in der jubelnden Hoffnung auf Mutterschaft. Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen, und dieses Mittel verabscheute sie nicht.

Nichtsdestoweniger wurde es ihr nicht so leicht, das gewünschte Ziel zu erreichen. Es fehlte zwar nicht an unerfahrenen oder äußerlich nicht besonders gut weggekommenen Männern, die auf ihr entgegenkommendes Wesen bereitwillig antworteten. Sie liebte jenes gewisse Lächeln auf den Lippen des Mannes, das ausdrückt: »Ach, so ist es gemeint, nun, warum nicht?« Meistens aber waren ihre Kavaliere etwas schüchterner und bedächtiger Art, und wenn es sich um die letzten Dinge handelte, ließen sie eine gewisse Vorsicht merken, die Linas Hauptzweck durchkreuzte; wenn sie dann ganz offen erklärte, daß es ihr gerade um das Kind zu tun sei, dann zogen sie sich doch mehr oder weniger wieder zurück.

So kam der Fastnachtsdienstag heran, ohne daß Lina einen Schritt weitergekommen wäre. Da traf sie denn im Café Luitpold Hermann Sanders. Dieser hatte inzwischen in einer vielleicht noch größeren Gefühlsverwirrung gelebt, als Amélie und Lina. Für den Umgang mit dem Fürsten und dessen Philosophie besaß er weder die Reife noch die Stärke des Charakters. So sah er in dessen Lehren die Rechtfertigung, allen Trieben, die er fühlte, nachzugeben. Es war nicht brutale Gier, was ihn bewegte. Seine Sinne sehnten sich aus der Welt des literarischen Geschwätzes hinaus zu natürlichen, einfachen Frauen, und da er selber wenig Antrieb und Geschick besaß, verfiel er notwendigerweise immer wieder auf leicht zu gewinnende Mädchen der niederen Stände. Er glaubte auch bemerkt zu haben, daß zuviel äußerer Glanz die Seele der Frau ungünstig umgestaltet. »Sogenannte Prachtweiber hasse ich,« sagte er immer. Das führte ihn zu den Bescheideneren, obwohl er sich nicht verhehlte, daß die Wurzel dieser Eigenschaft oft Unvollkommenheit war. War eine zu entgegenkommend, so stieß ihn das bald ab, war sie es nicht, dann wagte er sich nicht vor. So trieb er von einer zur andern und das machte ihn, der gar nicht dazu veranlagt war, flatterhaft. Die ungeheuren Stimmungsreize, die oft mit seinen Schleichwegen verbunden waren, sowie die Erinnerung an seine Gänge mit dem Fürsten dienten ihm dazu, eine künstlerische und philosophische Rechtfertigung für dieses Leben zu suchen. Nichtsdestoweniger litt er unsäglich unter dem Gefühl, haltlos in einen Abgrund zu sinken.

Da bemächtigte sich Lina Schüler seiner von neuem. Hermann saß in jener ereignisvollen Fastnacht, die im Hause des Fürsten enden sollte, einsilbig und mürrisch im Café Luitpold unter den Fröhlichen. Er hatte, ohne daß es ihm recht darauf ankam, ein paar Fetzen angezogen, eine Art mittelalterlicher Landsknechtkleidung von gelbbraunem Tuch, die ihm von einem Künstler geliehen worden war. Als Lina ihn erkannte, stürzte sie vergnügt auf ihn zu und erinnerte an ihre gemeinsamen Stunden auf dem Sonnenwendfest im vorigen Sommer. Sie setzte sich dicht zu ihm und faßte seinen Arm, bisweilen ließ sie die Hand auf seinem Knie ruhen, und Hermann fühlte die Wärme, die sie ausstrahlte. Anfangs stieß ihn zwar, wie im vorigen Sommer, ihre Art und Weise etwas ab, aber bald gelang es ihr, diese Kritik zu verdrängen, indem sie seinen Sinnen zu schmeicheln verstand. Eine Zeitlang saßen sie etwas abseits von den übrigen auf einem roten Ecksofa.

»Weißt du, daß du eine Frau ganz wahnsinnig machen kannst?« sagte sie einmal.

»So, ich?« fragte Hermann verwundert und blickte sie unentschlossen an. Er sah in das verschwommene Gesicht mit dem stets etwas wirren und verwahrlosten Haar; er konnte sie ganz und gar nicht reizend finden, fühlte sich aber doch immer mehr von ihr mit Beschlag belegt.

»Deine Passivität hat etwas geradezu Herausforderndes. Ist dir das noch nicht gesagt worden?«

»Nein, noch nie,« erwiderte Hermann naiv verwundert.

»Du bist wirklich ein unglaublicher Bengel!« rief sie mit überlegenem Ton, und sie kam ihm so nahe, daß er sie von selber küßte.

»Denk' nur an,« scherzte sie lachend, »nun hast du mir sogar einen Kuß gegeben. Das ist wirklich für deine Verhältnisse schon eine Leistung.«

Hermann mußte selber lachen, und er war im Grunde glücklich darüber, daß sie ihn zu dieser Leistung angespornt hatte.

»Wenn ich nicht die Geschichte mit Bettina Selch wüßte,« fing Lina wieder an, »so könnte ich glauben, du hättest noch gar nichts mit Frauen erlebt. Oder aber sie müssen dich schrecklich verwöhnt und dir jede Mühe des Angriffs erspart haben.«

Hermann fühlte sich durch diese Bemerkung gehoben, und wenn er an seine wenigen, etwas persönlicheren Erlebnisse mit Frauen zurückdachte, so sah er allerdings meist nicht mehr ganz junge, aber lebhafte Mädchen vor sich, die sich nicht gescheut hatten, ihm gegenüber den Angriff zu unternehmen; das schien ihm auf einmal gar nicht mehr als eine Unvollkommenheit seiner Natur, im Gegenteil, er fühlte sich durch die Auslegung, die Lina diesen Dingen gab, ein wenig wie ein Pascha. Sein Selbstbewußtsein stieg, und er sagte lächelnd:

»Ja, das ist wahr; wenn sich eine Frau nicht erst für mich interessiert, ich fange nicht an.«

»Es ist wunderbar,« erklärte plötzlich Lina, »wie sich in unserer Zeit die Geschlechtsunterschiede verwischen. Die Männer nehmen immer mehr weibliche und die Frauen immer mehr männliche Eigenschaften an. Mir zum Beispiel gefällt das gerade wahnsinnig bei dir, daß man um dich werben muß. Das hat einen unglaublichen Reiz.«

Hermann lächelte befriedigt.

»Und dir macht es doch offenbar auch ganz viel Spaß, um dich werben zu lassen, du Spitzbube du!«

Hermann war zumut wie einem Kater, den man hinter den Ohren kraut; er hätte am liebsten vor Vergnügen geschnurrt.

Lina kam am Morgen nach den Vorfällen im »Tirol« beglückt nach Hause. Nun hatte sie wenigstens die erste notwendige Vorbedingung für ihr Ziel erfüllt. Hermann dagegen war den ganzen folgenden Tag über mißgelaunt; ein über das andere Mal sagte er sich:

»Ich liebe sie nicht, ich liebe sie nicht, nein, ich liebe sie nicht,« und dann wiederholte er immer wieder:

»Es gibt ein Unglück, es gibt ein Unglück.« Schließlich sagte er sich:

»Alles ist mir wurst.«

Am Nachmittag wollte er ins Kaffeehaus gehen, aber als er hinauskam, war ihm der Gedanke furchtbar, unter Menschen zu sitzen, mit denen er über alles mögliche Gleichgültige sprechen mußte. Obgleich am Abend Lina in das Tirol kommen wollte, zog es ihn jetzt schon in ihr dämmriges Zimmer, wo er früher schon einmal gewesen war, und der Gedanke, dort alles Quälende zu vergessen, verführte ihn immer mehr, während gleichzeitig seine Sinne nach ihren schwülen Liebkosungen begehrten. Hie und da war ihm zwar zumut, als sei etwas Unappetitliches an ihr, etwas, was ihn in manchen Stunden geradezu abstoßen müßte, aber dann schien ihm wieder, daß er wohl in der Lage sein würde, das zu überwinden.

Als er zu Lina kam, traf er dort Oesterot. Das war ihm zunächst nicht recht. Der Doktor sah bleich und schwammig aus. Unter den wallenden Gewändern des Faschings hatte man nicht gesehen, wie fett er geworden war. Er schien entzückt über Hermanns Besuch, und seine großen weißen Hände griffen nach ihm, als müsse er ihn ganz für sich haben. Seine Lebhaftigkeit war so stark wie immer, doch hatte sie etwas Krampfhaftes bekommen. Er sprach gegen die Frauenemanzipation der Rechtlerinnen.

»Es ist wundervoll, Philipp,« rief Lina begeistert aus, »wie Sie solche Dinge aussprechen können, die unsereiner nur fühlt. Nein, von der Frauenemanzipation will ich auch gar nichts wissen. Wenn ich von Freiheit spreche, so meine ich nur ... es ist so schwer, dies alles auszudrücken – die Freiheit der Instinkte, der mütterlichen Natur.«

»Ja, das ist es. Sie haben den rechten Riecher für diese Dinge, Lina.«

Oesterot nahm seinen Hut, umarmte Hermann und verabschiedete sich. Hermann machte es einen tiefen Eindruck, daß Oesterot Lina so sehr schätzte, und das gab ihr in seinen Augen einen Glanz. Sie war doch offenbar sehr gescheit. Sie hatte Oesterot hinausgebracht und nun kam sie zu ihm zurück, legte die Hände auf seine Schultern und gab ihm einen Kuß. »Das ist schön, daß du heute gekommen bist! Hast du keinen Kater von dem Fest?«

»Doch, ein bißchen.«

»Ich bin auch etwas müde, weißt du, das Schönste wäre, du bliebst heute abend hier und ich sorgte für Abendessen.«

Dieser Vorschlag gefiel Hermann ausnehmend. Lina zündete die Lampe an, brachte Hermann das Abendblatt herein und sagte:

»So, nun laß ich dich eine Viertelstunde allein und kaufe ein. Dann machen wir Tee und essen zusammen.«

Sie ging, und Hermann fühlte sich geradezu glücklich; die Mattigkeit, die noch in ihm war, tat ihm wohl. Er setzte sich an die Lampe und las die Zeitung. In Holzkirchen hatte man einen Neger wegen Heiratsschwindel verhaftet. Im Volkstheater war ein Garderobenbrand ausgebrochen. Der Schaden sei noch nicht zu berechnen. Der Prinzregent hatte beim Professor Keller Tee getrunken. Die Prinzessin Gisela hütete eines leichten gastrischen Fiebers wegen das Bett. Es sei unbedenklich. Prof. Orterer hätte durch seine letzte Rede nachgerade das Maß vollgemacht. Auf seine Unterstellungen zu antworten, erübrige sich.

Nach einiger Zeit kehrte Lina zurück. Es gefiel Hermann, sie, während er las, draußen herumwirtschaften zu hören; dann kam sie herein, verstand es, nett den Tisch zu decken und in hausmütterlicher Weise zu walten. Sie drängte ihn nicht zu vielem Reden, sondern schonte seine Ruhebedürftigkeit, und bald saßen sie sich behaglich gegenüber. Sie sprachen hauptsächlich von dem Neger in Holzkirchen. Lina sagte, der Negertypus könne sie nicht reizen, eher noch ein Indianer. Gegen elf Uhr ging Hermann nach Hause, und unterwegs sagte er sich:

»Ich werde sie heiraten, es ist das einzig Richtige.«

Nun ging er jeden Abend zu ihr und war glücklich dabei. Nach einigen Tagen sagte er, nachdem er eine Zeitlang stillschweigend dagesessen und eine Zigarette geraucht hatte:

»Weißt du, das beste wäre eigentlich, wir würden uns heiraten.«

Lina lachte und erwidert«:

»Wenn du es unbedingt für notwendig hältst, unserem Verhältnis einen konventionellen Charakter zu geben, meinetwegen.«

Darauf wußte er nichts zu antworten, und als er auf dem Heimweg war, fragte er sich:

»Bin ich nun eigentlich verlobt oder nicht?«

Als er am folgenden Tage wiederkam, half ihm Lina bereitwillig aus seinen Zweifeln. Sie hatte mit ihrer Mutter gesprochen, diese erwartete heute abend Hermann um halb acht, er solle dann zum Essen dableiben und auf acht Uhr auch Amélie einladen.

»Muß ich dann um deine Hand anhalten?« fragte er.

»Nein,« erwiderte Lina lachend, »das hast du nicht nötig. Die Mutter weiß schon. Geh jetzt nach Hause und sag' es Amélie.«

Er fand sie in ihrem Zimmer bei einem Buch.

 

»Amélie,« sagte er kurz, »ich muß dir etwas Wichtiges sagen. Ich habe mich verlobt.«

»Ach,« erwidert« sie, »mit Lina?«

»Ja. Du sollst heute abend um acht Uhr hinkommen zum Essen.«

Damit ging er wieder hinaus.

Frau Schüler machte ihm den Antrag nicht schwer.

»Also ich hab nix dagäche,« sagte sie gleich, als er hereinkam, »nur misse Se mer sage, ob Se auch in der Lag' sin', die Lina zu ernähr'n?«

»Oh, ich habe ja Vermögen,« sagte Hermann.

»Und dann hawe Se doch auch noch e' reich' Großmutter?«

»Ja, von meiner Großmutter habe ich später noch einmal ein größeres Vermögen zu erwarten.«

»No, da kenne Se doch ruhig das, was Se jetzt hawe, verbrauche?« meinte Frau Schüler. »Wieviel is es denn?«

»Das habe ich noch nicht genau berechnet. Es ist nicht alles in barem Geld, einen Teil habe ich auch schon verbraucht. Vor einem Jahr betrugen die Zinsen ungefähr dreitausend Mark.«

»Bloß die Zinse?« rief Frau Schüler lebhaft. »No, dann hawe Se ja mindestens fünfundsiebzigdausend Mark – bis die all' sind, da geht noch viel Wasser die Isar enunner. Damit wär' also das Geschäftliche erledigt.«

Während Hermann mit Frau Schüler gesprochen hatte, war Lina draußen mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt gewesen. Um acht Uhr kam Amélie, Lina öffnete, fiel ihr sofort um den Hals und küßte sie.

»Nun sind wir ja so gut wie Schwestern,« sagte sie, und Amélie, die zwar über diese plötzliche Herzlichkeit etwas erstaunt war, ließ sie ruhig geschehen. Dann erschien auch Ludwig Stehr mit etwas unwirschem Ausdruck im Gesicht, aber er gab Hermann die Hand und grüßte Amélie mit etwas umständlicher Höflichkeit.

Bei Tisch kam es zu keiner rechten Stimmung, da Ludwig Stehr fast beleidigend schweigsam blieb. Er hatte einen dunkelroten Kopf, die Stirnadern waren geschwollen, hier und da schien es, als unterdrücke er einen Seufzer. Frau Schüler bestritt die Kosten der Unterhaltung, und Lina suchte Hermann dadurch in Stimmung zu bringen, daß sie unter dem Tisch ihren Fuß auf den seinen stellte. Amélie war in Verlegenheit. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Jetzt misse mer awer des Brautpaar hochläwe lasse,« rief Frau Schüler. Lina stand lächelnd auf und holte eine Flasche eines besonders guten Weines, der zu diesem Zweck bereitgestellt worden war.

In der spießbürgerlich behaglichen Einrichtung der Frau Schüler-Stehr waren gewissermaßen kleine Altäre der Modernität aufgestellt. Ueber dem altmodischen Tafelklavier hing zum Beispiel eine große Reproduktion des Krieges von Stuck, eines Bildes, auf dem eine phantastische Gestalt über geblähte, nackte Leiber reitet. Das alte Familiensofa war kürzlich mit einem großblumigen Stoff eines neuzeitlichen Kunstgewerblers frisch überzogen worden, und auf dem Vertiko im gekräuselten Muschelgeschmack der siebziger Jahre standen ein paar strenglinige Weingläser aus einer modernen Werkstätte. Diese holte nun Lina herbei und goß den Moselwein ein. Als man gerade die Gläser ergriff, um auf das Brautpaar anzustoßen, zuckte Ludwig Stehr plötzlich heftig zusammen und warf sein volles, kostbares Glas mit solcher Gewalt zu Boden, daß es zerschellte. Dann sprang er auf und eilte ins Nebenzimmer. Die Zurückgebliebenen blickten sich sprachlos an.

»Mutter, du mußt zu ihm hineingehen,« drängte Lina, die von diesem Vorgang am wenigsten überrascht schien, und Frau Stehr ging in das Nebenzimmer, wo man plötzlich lautes Schluchzen vernahm.

Amélie wünschte sich meilenweit weg, und Hermann blickte fragend auf Lina.

»Ach, du weißt doch, Hermann, der Ludwig liebt mich doch, und da ist es natürlich schwer für ihn, jetzt meine Verlobung zu feiern. Aber einmal mußte es ja doch kommen, nicht?«

Frau Stehr kam wieder in das Zimmer und lachte über ihr ganzes, breites Gesicht.

»Gott,« sagte sie, »der Ludwig hat widder sei' Idee' im Kopp. Er meint, der Hermann wär' noch zu jung, denn fir die Lina is em keiner bedeutend genug. No, der Hermann kann auch noch emal en großer Mann werde'. Der Ludwig hat immer gemeint, die Lina deht e mal ein' von seine' bedeutende Freund' heirate'.«

»Ach, einen von den sogenannten Herrgöttern,« spottete diese, »die sind ja aber doch schon alle verheiratet.«

»Das ham ich em auch gesagt,« erwiderte Frau Stehr.

Da ging plötzlich die Tür auf, und Ludwig Stehr kam gefaßt herein. Er nahm Lina bei der Hand, führte sie zu Hermann und ergriff dessen Rechte, dann sagte er feierlich, doch aus ehrlicher Ueberzeugung:

»Es ist das Teuerste, was ich besitze, das ich dir jetzt übergebe. Verzeih mir, daß es mir einen Augenblick schwer gefallen ist. Ich habe es aber jetzt überwunden. Hoffentlich wirst du die Gabe zu würdigen wissen. Du bist noch jung und hast noch Gelegenheit, dich ihrer würdig zu erweisen. Lina ist eine große und bedeutende Natur, und du mußt sie dir in der Ehe erst erwerben, um sie wirklich zu besitzen.«

Die übertriebene Feierlichkeit, mit der er sprach, wirkte peinlich auf Amélie, aber Hermann fühlte sich erschüttert. Zum ersten Male wurde ihm der Ernst seines Schrittes ganz bewußt. Es war wie eine Erleichterung, als Stehr sagte:

»Verzeiht mir, daß ich den Rest des Abends allein verbringen will.«

Dann ging er wieder hinaus. Frau Schüler lachte gutmütig und sagte:

»No, er is doch e'mal so e feierlich Nadur, das wisse' mer ja, awer schö' gesproche' hat er, das muß ma'm lasse', das versteht er.«

Bald gingen auch Amélie und Hermann. Unterwegs sprachen sie sehr wenig. Als sie in das »Tirol« kamen, fiel Amélie Hermann um den Hals und weinte.

»Ach, Hermann,« sagte sie, »hoffentlich wirst du recht, recht glücklich!«

»Ach glücklich ...« antwortete er fast wegwerfend.

Am folgenden Tag schrieb Hermann an seinen Bruder Kurt, wie gewöhnlich in etwas schroffem Ton, als ob dieser irgendein Unrecht gegen ihn begangen habe. Hermann erklärte ihm, daß er verlobt sei, infolgedessen Geld brauche und daß deshalb noch eine gemeinsame Hypothek gekündigt werden müsse. Kurt antwortete umgehend, daß davon allerdings noch einige tausend Mark auf ihn entfallen würden, der Rest des Vermögens aber bestünde aus gemeinsamem Grundbesitz, der im Augenblick nicht veräußert werden könne. Die Großmutter fragte mit leisem Vorwurf, warum denn Hermann nicht mehr Vertrauen zu ihr habe und ihr nichts Näheres über seine geplante Ehe und die Persönlichkeit seiner Braut mitteilen wolle, er könne doch sicher sein, daß sie bei ihr mit offenen Armen empfangen werden würde. Dieser Brief erfüllte Hermann mit tiefem Unmut. Er wußte wohl, daß Lina der Großmutter und dem Bruder nicht gefallen konnte. Er schrieb der Großmutter kurz zurück, daß er sie, nachdem er verheiratet sei, mit seiner Frau besuchen wolle.

 

Als Dr. Cornelius Amélie zum erstenmal besuchte, saß sie bei offenen Fenstern im »Tirol«. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag, der den Kopf etwas schwer machte. Sie sagte:

»Wissen Sie schon das neueste? Hermann hat sich mit Lina Schüler verlobt.«

Cornelius war äußerst betroffen.

»Was,« rief er, »ist das möglich?«

»Halten Sie es nicht für gut?«

»Wer kann darüber urteilen, jeder muß selber wissen, wie er glücklich werden kann.«

»Das ist wahr.«

»Wissen Sie nun, wie Sie es am besten werden?« fragte Cornelius lächelnd.

Amélie schaute ihn an, dann schlug sie die Augen nieder.

Cornelius sprang auf, riß sie an sich und rief vergnügt:

»Endlich! Endlich! Leicht hast du mir's nicht gemacht.«

Er blieb zum Abendessen im »Tirol«; Hermann kam und beglückwünschte die beiden wohlgelaunt. Er beschloß, sofort Lina herüberzuholen, und nun saßen die vier beisammen und tranken auf die Zukunft. Als Cornelius im Laufe des Abends Amélie fragte, ob sie nicht in ihre Heimat fahren und der Großmutter einen Besuch machen wollten, entstand ein peinliches Schweigen, aber Hermann erklärte schnell:

»Das geht jetzt nicht, Paul; es ist augenblicklich wieder einmal eine Spannung zwischen uns und zu Hause wegen der Vermögensangelegenheiten. Aber wenn wir verheiratet sind, können wir ja im Sommer einmal alle zusammen hinfahren.«

Dieser Aufschub war Cornelius im Grunde nicht recht, aber es schien ihm nicht am Platz, die Frage jetzt weiter zu erörtern. Gegen Mitternacht ging er nach Hause, an den Vorgärten der Königinstraße entlang, aus deren Laub sich ein scheuer Duft wie von Flieder oder Jasmin ahnungsvoll löste.

Amélie schrieb noch in derselben Nacht auf ein mattlila Kärtchen an Erich:

»Sehr geehrter Herr, hiermit gebe ich Ihnen Ihre Freiheit zurück, da ich mich anderweitig gebunden habe.

Hochachtungsvoll
Amélie Sanders.

Gleichzeitig lag Hermann einsam auf seinem Lager und sagte sich:

»Ich liebe sie nicht, ich liebe sie nicht. Es gibt ein Unglück. Aber mir ist alles Wurst.«


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