Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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19

In die folgende Woche fiel ein katholischer Feiertag, an dem kein Unterricht stattfand. Amélie wollte den Vormittag benutzen, um endlich einmal Briefe zu schreiben. Sie saß in einem hellen Morgenkleid beim offenen Fenster in ihrem nüchternen Pensionszimmer, das in modernem Stil gehalten war: eine ziegelrote Tapete, eckige unbequeme Holzmöbel drückten die Enthaltsamkeit von allem liebenswürdig Behaglichen aus. Das hatte wohl auch die jetzige Besitzerin herausgefühlt und, um die Leere auszufüllen, einigen Zierrat aus ihrer früheren Zeit in dem Raume angebracht: einen »Gobelin« mit einem verrenkten Hund, eine Stickerei mit dem Gruß »Guten Morgen« über dem Bett, sowie eine falsche Palme.

Ein sanfter Frühlingswind, der draußen auf dem Platze die Baumkronen bewegte, drang zu Amélie, während sie schrieb. Es klingelte. Man klopfte an ihre Tür. Dr. Oesterot trat ein. Amelie traute ihren Augen nicht.

»Ich störe doch nicht?« fragte er fast ein bißchen verlegen.

»Nein, gar nicht,« antwortete sie etwas ängstlich und bot ihm Platz auf dem Sofa an. Sein großer, voller Körper schien in dem engen Raum wie gefangen. Er stieß an die Palme, die wackelte, und ließ sich dann auf dem Sofa nieder.

»Nun,« fragte er, »haben Sie sich am Sonntag mit unserem Kreis etwas angefreundet?«

»O ja, es war sehr hübsch.«

»Wir würden uns freuen, wenn Sie recht oft kommen wollten, jeden Sonntag, wenn Sie nichts anderes vorhaben. Es ist so schwer, die rechten Leute zusammenzubringen und so eine Dichtheit von Menschen um sich zu bilden, die sich aus einem gemeinsamen Lebensgefühl heraus ohne Programm als Gruppe fühlen. Ich muß Ihnen im übrigen sagen, Sie sind wundervoll gewesen, Amélie, ganz wundervoll. (Er nannte Menschen, die er schätzte, gleich beim Vornamen.) Sie kommen herein und gliedern sich so selbstverständlich in einen Kreis ein, ohne viel zu sprechen, bloß durch Ihr entzückendes Dasein. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Sie auf alle gewirkt haben. Thea spricht in einem fort von Ihnen; wir würden uns sehr freuen, wenn wir auch Ihnen etwas sein könnten.«

Seine Lebhaftigkeit erlaubte ihm nicht lange zu sitzen. Er sprang auf, wieder wackelte die Palme und ein skelettartiger Stuhl fiel um.

»Ach, liebe Amelie,« sagte er halb verzweifelt und mit fast kindlichem Ausdruck in den großen Augen, »ich muß beim Sprechen etwas herumgehen, darf ich dieses Stück Orient hier vor die Tür stellen. Sie wissen, wie ich das Morgenland ehre, aber ...«

»Aber bitte,« sagte Amelie höflich.

»Also ich darf ...?«

Schon hatte er die Palme ergriffen, die aus dem Topf fiel, wobei eine grünliche, den Hals reizende Staubwolke aufstieg. Er schob das Fabrikat vor die Tür, wo es von neuem stürzte. Oesterot rief einem vorbeikommenden Zimmermädchen zu:

»Bitte Fräulein, wollen Sie diese Oase etwas aufräumen.«

»Sofort,« erwiderte das Mädchen.

Oesterot kam zurück, rückte den Tisch dicht an das Sofa und nun hatte er mitten im Zimmer eine kleine Bahn, wo er beim Sprechen auf und ab rennen konnte.

Amélie hatte alledem kaum Beachtung geschenkt. Sie wußte sich vor Staunen über das, was er vorher gesagt hatte, noch nicht zu fassen. Sie war am Sonntag ängstlich gewesen, hatte kaum zu sprechen gewagt, fürchtete sich sogar ein wenig, einen beschränkten, provinzmäßigen Eindruck gemacht zu haben, und nun hatte sie gar auf dem Jour wie etwas ganz Besonderes gewirkt.

»Nein, Ihre Augen!« rief Oesterot plötzlich, »das ist ja fabelhaft! Sie sind der einzige Mensch, der wirklich der Francesca von Rimini ähnlich sieht. Sie sollten sich in Frührenaissancestil anziehen. Sie kennen doch das kleine Medaillon der Francesca?«

»Nein, ich kenne es nicht,« flüsterte sie bescheiden.

»Dann werde ich's Ihnen schenken.«

Sie war wieder ganz die kleine Mely von einst, und alle die gesellschaftliche Technik, die sie sich zu Hause angeeignet hatte, vor allem die Kunst, niemals unwissend zu erscheinen, hatte sie seit dem vorigen Sonntag ganz verlassen. Oesterot schaute sie lange an, was sie in Verlegenheit brachte. Dann sprang er auf und rief erregt, als könne er gar keine Ausdrücke finden:

»Nein, Sie sind wirklich ... es ist unglaublich ...!«

Er griff ihre beiden Hände, zog sie fast gewaltsam ans Fenster, schaute ihr lange ins Gesicht und wurde plötzlich ganz ernst. Dann sank er auf einmal auf die Knie, küßte ihre Hände und flüsterte wie überwältigt:

»Sie sind ja wunder – wunderschön!«

Dann sprang er auf, nahm seinen Hut, und eilte hinaus. Auf der Schwelle stürzte er fast über das Mädchen, das die Palme wieder hereinbrachte. Ihr Stamm war nun mit einem lila Seidenband kunstvoll an den Topf geknüpft.

Amélie konnte sich gar nicht zurechtfinden. Sie trat vor den hohen Wandspiegel; sie musterte ihr Gesicht und gefiel sich allerdings selbst sehr gut. Wie sah wohl die Frau aus, der sie ähnlich sein sollte? Sie erinnerte sich wohl, den Namen in ihrem kunstgeschichtlichen Unterricht gehört zu haben. In diesem Augenblick stürzte Oesterot wieder herein, außer Atem vom schnellen Treppensteigen, und etwas zerfahren sagte er:

»Ich habe ja die Hauptsache ganz vergessen. Ich sollte Sie von der Thea grüßen, Sie möchten uns doch heute nachmittag um vier Uhr abholen. Wir wollen zum Kaffee zu Freunden gehen, die Sie kennenlernen möchten.«

Dann sagte er plötzlich, kindlich wie ein Bub:

»Darf ich mich noch ein bißchen zu Ihnen setzen?«

Da fiel sein Blick wieder auf die Palme, deren Krone leis im Winde wiegte.

»Wissen Sie was?« sagte er, »gießen Sie sie recht fleißig, künstliche Palmen gehen davon ein.« Amélie mußte laut lachen. Er wollte sich auf die Tischkante setzen, aber das vergeistigte Möbel krachte unter der Last des schweren Körpers, als sei es dem Untergang nahe. So ging denn Oesterot auf der kleinen Fläche, die ihm blieb, hin und her. Amelie erzählte ihm von ihrem Bruder Hermann, der auch malte, den sie aber zu ihrer Enttäuschung nur selten sah. Er ging ganz seine eigenen Wege.

»Einen Bruder haben Sie auch? Bringen Sie ihn doch mit zu uns.«

Dann sprach er von Thea, was sie für eine ausgezeichnete Frau sei. Amélie möchte sie doch bald einmal an einem Wochentag besuchen, um auch ihre Kinder zu sehen.

»Ist es nicht wundervoll von Thea,« rief Oesterot plötzlich, daß sie neben dem vielen, was sie zu Hause verwirklicht, auch noch malt?«

Als er aufbrach, fragte er sie:

»Zu unserem Sommerfest kommen Sie doch natürlich? Ueber Kostüme und die anderen Einzelheiten sprechen Sie noch mit Thea.«

»Ach das ist furchtbar liebenswürdig von Ihnen,« sagte Amélie verwirrt, »aber das wird wohl nicht gehen, ich habe doch Trauer.«

Oesterot machte ein sehr ernstes Gesicht, und sann einige Augenblicke, dann nahm er Amélies Hand und sagte eindringlich: »Glauben Sie mir, Amelie ... Sie können trotzdem kommen. Sie wissen nicht, worum es sich handelt. Es ist keine gewöhnliche Tanzerei, kein Amüsement, kein Faschingsscherz – sondern wirklich ein Fest, d. h. eine Verdichtung des Daseins, ein Aufgluten des Lebens. Es wird wie ein Kult werden, wie ein Gottesdienst, freilich ein dionysischer; Sie müssen verlernen, das Leben christianisch zu sehen. Wir sind hier Heiden, d. h. nicht religionslose Gottesleugner, das wäre etwas rein Verneinendes; Heidentum aber ist ein bejahender Glaube an die göttlichen Substanzen. Ich kann Ihnen das jetzt nicht in drei Worten erklären, aber wenn Sie unserem Kreise angehören und unsere Feste mit uns feiern werden, dann wird Ihnen dies alles im Schauen klar.«

»Ja, ich würde ja schrecklich gerne kommen,« sagte Amélie aufrichtig und ganz hilflos, »aber meine Mutter ist doch noch keine vier Monate tot.«

»Sie können kommen, Amélie,« sagte er sehr ernst, und seine Augen starrten sie wie aus rätselhafter Tiefe an. »Sie können. Ob Sie sonst die üblichen Gesellschaften, Tanzereien und Theater besuchen, das ist eine ganz persönliche Angelegenheit, die jeder ordnet, wie er will. Ich selbst ehre es, wenn man den alten Bräuchen treu bleibt. Aber dieses Fest ist etwas anderes, Sie dürfen das nicht verwechseln. Es ist keine Lustbarkeit, sondern eine Feier. Fühlen Sie den Unterschied?«

Nach diesen Worten ging Dr. Oesterot.

Amélie saß über eine Stunde lang wie im Traum auf dem Sofa und überließ sich ihrem Entzücken über das neue Leben, das sie plötzlich um sich fühlte. Es zwang sie so überzeugend in seinen Bann, wie ein bezauberndes Märchen, dem man nicht seine Unwahrscheinlichkeiten nachrechnet, und darum schien es ihr auch erlaubt, dieses Fest zu besuchen.

Sie setzte sich vor den Spiegel, löste träumend ihr langes, blondes Haar, und unternahm damit mehrere Veranstaltungen. Sie entblößte ihre Schultern und versuchte verschiedenartige Blicke. Dann nahm sie einige Photographien nach alten Italienern hervor, verglich die Frauengestalten mit sich selbst und ahmte ihre Haltung nach. Dieses Spiel trieb sie in süßer Verträumtheit, bis sie zu Tisch gerufen wurde.


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