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Am Ende des Sommers erschien ein junger Baron Erich Wietersheim aus Riga in der Gesellschaft um Amélie. Es war ein schlanker Herr mit zartem, fast farblosem Schnurrbart, untadelig angezogen und von gemessenen Bewegungen. Die Züge wirkten sehr fein, doch entschieden entartet. Er hatte etwas von einem überzüchteten Windhund. Seine schimmernden dunkelblauen Augen entzückten alle Mädchen; die langen zarten Frauenhände fühlten sich etwas feucht an. Dünnes, silberblondes Haar klebte an dem schmalen Schädel, an den sich die kleinen, zartgeformten Ohren fest anschmiegten. Trotz dieser Zerbrechlichkeit lebte eine zähe Energie in diesem Körper, die sich hie und da durch einen herrischen Blick des Auges oder eine abweisende Armbewegung äußerte. In Riga war er im Gymnasium nicht mitgekommen. Als er sich mit neunzehn Jahren in Obersekunda bereits zu sehr Mann gefühlt hatte, um sich weiter als Schulbube behandeln zu lassen, wußte er es bei den zwei alten Tanten, die ihn seit dem Tode seiner Mutter erzogen, durchzusetzen, daß man ihn als Hospitanten Hochschulen besuchen ließ. Viel Vermögen war nicht da. Er sollte einmal Kaufmann werden. Er ging nach Jena und Heidelberg, belegte Wechsel- und Handelsrecht, wurde in einer Studentenverbindung Konkneipant und verbummelte mehrere Jahre. Schließlich legte sich ein Onkel ins Zeug, der sein kleines Vermögen verwaltete, und stellte ihm vor, daß sein Geld nur noch für wenige Jahre ausreiche und er sich inzwischen zu ernster Arbeit entschließen müsse. So war er in die Handelsstadt gekommen, wo Amélie lebte. Er befand sich augenblicklich als Volontär in einem der größten Bankhäuser.
Er unterschied sich ungemein von den etwas derbgemütlichen, jungen Leuten der Stadt, die bei aller Bewunderung für Amélie doch immer eine gewisse Vertraulichkeit im Umgang mit ihr zeigten, da sie sie ja von Kindheit an gesehen hatten. Anders der Baron Wietersheim. Seine guten Formen und die leise Art, mit der er sich ihr näherte, fielen Amélie sehr angenehm auf, und sie sah sich durch seine Huldigungen gewissermaßen in eine Reihe mit wirklichen Damen gestellt, nämlich mit denen, welchen dieser junge Herr gewiß vorher den Hof gemacht hatte. Sie fühlte sich durch ihn in etwas wie »die große Welt« gehoben, zu der sie die Gesellschaft ihrer Vaterstadt kaum rechnen konnte. Der Baron hatte einen leisen, fast schleichenden Gang, in seinen zierlichen Stiefelchen schlich er wie auf Filzsohlen, und manchmal stand er neben einem, ohne daß man es ahnte. Das hatte etwas Unheimliches. Blickte man ihn dann überrascht an, so lächelte er, als habe er einen lange beobachtet und wisse genau über einen Bescheid. Man wußte sich in seinem Bann. Frauen fühlten sich von seinem Blick bald bis ins Innerste erkannt und verstanden, was zugleich wie eine Liebkosung und wie eine unheimliche Drohung wirkte.
Einmal begleitete der Baron Amélie allein vom Tennisplatz nach Hause.
»Gnädiges Fräulein sind wirklich zu beneiden,« sagte er, »Sie leben in einem Beruf, der Sie erfreut und erhebt. Haben Sie denn eine Vorstellung, wie es in so einer Bank zugeht? Schacher von früh bis spät. Glauben Sie nur, ich kann das Gerassel des Geldes kaum mehr anhören, so nervös macht es mich. Alles Edle in einem Menschen geht dabei zugrunde. Oh, ich hätte auch Künstler werden sollen.«
Das wirkte sehr, wie dieser feine und bisher immer so verschwiegene Mensch, der niemals von sich selber gesprochen hatte, nun auf einmal ein Bekenntnis so tiefer Art ablegte.
»Können Sie denn nicht noch immer Künstler werden?« fragte Amelie bewegt.
»Ich bin ja nicht frei, ich muß tun, was meine Familie verlangt. Verzeihen Sie, wenn ich davon spreche, ich bin von ihr abhängig. Oh, es ist schmählich!«
Er nahm eine goldene, wappengeschmückte Dose aus der Tasche, hielt sie eine Zeitlang wie liebkosend in der Hand und entnahm ihr dann mit spitzen manikürten Fingern eine Zigarette. Sie hatte ein Mundstück aus gepreßten Rosenblättern, und der Baron hätte gerne Amélies Aufmerksamkeit auf diese Seltenheit gelenkt; aber obwohl er die Zigarette mehrmals herumdrehte und beklopfte, war Amélie nicht von ihren tiefen Gedanken abzuziehen. Also auch dieser gehörte zu der Gemeinde der Auserwählten, von denen Lea sprach; so dachte sie in tiefem Entzücken. Er war ihr bisher ganz konventionell gesellschaftlich erschienen, und wenn dies auch ihren weiblichen Instinkten unbewußt geschmeichelt hatte, so wagte doch ihr neues revolutionäres Selbstbewußtsein nicht, diese Eigenschaften ganz offen anzuerkennen. Nun aber, wo sie nur die Hülle waren für eine in der Tiefe von denselben modernen Leiden wie sie erfüllte Persönlichkeit, war Amélie tief ergriffen.
»Aber wenn Sie Ihrer Familie vorstellen würden, daß Sie Künstler werden wollen?« fragte sie diplomatisch, um ihn zum Weiterreden zu ermutigen, denn sie wußte wohl, daß »mit der Familie nicht zu paktieren« ist.
»Oh, da kennen Sie meine Familie schlecht,« erwiderte der Baron mit leisem Hohn, »das sind enge Menschen ohne Ideale. Nur Geld verdienen, reich werden, und das nennen sie: seine Pflicht tun; über diese Begriffe geht ihr Geist nicht hinaus. Darum haben sie mich auch in diese entsetzliche Stadt geschickt, in der ich beinah verzweifelt wäre. Aber wenn es das Schicksal will, so findet man gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet, das Ideal. Ist es nicht sonderbar, ich mußte in eine nüchterne Handelsstadt kommen, um ein Wesen wie Sie zu treffen?«
Noch nie hatte Amélie daran gedacht, wie seltsam es war, daß gerade sie in einer Handelsstadt lebte, und schnell begriff sie, daß darin etwas wie eine Sendung lag. Zu dieser höchsten Schmeichelei, die sie je gehört hatte, kam das aufrichtigste Mitleid mit dem unglücklichen jungen Baron, der dabei ein so reizender Mensch war. Die neuen Ideen verbanden sich nun mit der Gestalt dieses vornehmen jungen Mannes, der auf ihre weibliche Eitelkeit wirkte und zugleich das Mitgefühl ihrer gutmütigen Natur erregte. Als er sich von ihr verabschiedete, flüsterte er, als halte er mühsam die Tränen zurück:
»Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, gnädiges Fräulein; wenn Sie wüßten, wie wohl mir das getan hat, daß Sie mir mit Verständnis zugehört haben. Sie glückliches, jubelndes Wesen könnten mich aufrechthalten, wenn Sie mir erlauben wollten, zu Ihnen emporzublicken.«
Wie überwältigt eilte er ohne Abschied davon, leise wie auf Filzsohlen. Zitternd stieg Amélie die Treppe hinauf und ging in ihr Zimmer. In was für ein ernstes, erhabenes Schicksal war sie da plötzlich hineingeraten! Sie hätte weinen können über das Elend des jungen Mannes, der gewiß in der Stadt niemand hatte, dem er sich anvertrauen konnte, und gleichzeitig bebte sie vor Glück, daß er sich an sie gewandt hatte. Sie jauchzte über den Reichtum ihres Lebens, über ihr Schicksal, das sie nun von Gipfel zu Gipfel, zu immer stärkeren Erlebnissen führte. Wie fühlte sie sich über jene schicksallose Menge von jungen Mädchen erhaben, die rings um sie lebten und sich mit schalen Assessoren und anderen Berufsmenschen begnügten.
Der junge Baron fand sich nun täglich nach vier Uhr auf dem Tennisplatz ein und begleitete später Amélie nach Hause.
»Wenn Sie wüßten,« sagte er, sein dünnes Schnurrbärtchen mit den spitzen Fingern liebkosend, »wie mich die Augenblicke mit Ihnen zu einem anderen Menschen machen; von Ihnen geht etwas aus, das mich aufrechterhält und mich die leeren Stunden des Tages nun besser ertragen läßt.« Das Geldgerassel in der Bank, erklärte er, höre er schon gar nicht mehr, d. h. die Sinne nahmen es wohl noch wahr, aber seine Seele antwortete nicht mehr darauf. Die hatte jetzt anderes zu tun.
Amélie fühlte, daß auch von ihm auf sie eine seltsame Wirkung ausging. Er hatte einen sehr feingeschnittenen Mund, aber die Zähne waren schlecht. Sie standen wohl so, daß man sie, selbst wenn er lachte, nur wenig bemerkte, aber sah man ihn öfter, so fielen sie doch wie etwas Krankhaftes auf. Amélie vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben, wie es kam, daß gerade dieser Fehler, unter so vieler Sorgsamkeit und Gepflegtheit halb verborgen, sie reizte. Sie konnte sich eines Wortes nicht erwehren, das sich ihr stets aufdrängte, wenn sie seinen Mund ansah. Er hatte etwas »Unmoralisches«. So mußte sie es nennen, und das zog sie unwiderstehlich an. Sie fühlte, wenn seine weiße Hand mit dem zarten Geäder und dem silbrigen Flaum zufällig ihre Finger streifte, einen Schauer, wie sie ihn früher nicht gekannt hatte. Manchmal war es, als zöge er sie in ein dunkles Verderben, aber das war unendlich süß. Wenn die anderen auf dem Tennisplatz schrien und lachten und ihr etwas lärmend und scherzhaft der Hof gemacht wurde, fühlte sie immer seine Gewalt in der Nähe, obwohl er in Gesellschaft nur wenig sprach. Er hielt sich dann meist etwas abseits und streifte sie nur hie und da mit einem kurzen, aber eindringlichen Blick, als wolle er sagen: ich kann warten, du gehörst ja doch mir. Und nachdem sie sich ausgetobt hatte, immer mit dem Gefühl, als hielte er sie fest am Zügel, den er aber schleifen lassen durfte, so sicher war sie ihm, fand er sich schleichend an ihrer Seite ein und begleitete sie ruhig nach Hause. Auch unterwegs redete er nicht viel. Ihr war, als sprächen ihre Seelen um so mehr miteinander, und während sie wollüstig fühlte, daß er sie irgendwohin zog, aus ihrem hellen, aber doch etwas leeren Leben hinaus in ein Ungewisses, schauriges Dunkel, versicherte sie sich selbst immer wieder, sie tue ein edles Werk an diesem Menschen. Er hatte sie nötig in seinem Elend, würde ohne sie nicht weiterleben können. Er war ja so tief unglücklich, daß sie alles tun mußte, was in ihrer Macht stand, um ihn zu trösten.
Eines Nachmittags im Spätsommer begleitete er sie durch die Anlagen der Stadt. Der Tag war sehr heiß gewesen, und nun bewölkte sich der Himmel. Das Paar ging auf wenig besuchten, grünen Wegen. Hier und da wehte eine Welle Fliederduft durch die graue schwere Atmosphäre.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Amélie,« sagte Baron Erich finster, »dieser Zustand wird unerträglich. Wir müssen ein Ende machen.«
Bei diesen Worten zitterte sie. Ein Ende? Wohinaus wollte er denn?
»Ich werde abreisen,« erklärte er tonlos.
Amélie fühlte, wie sie blaß wurde. Der Gedanke an ein Ende war ihr nie gekommen. Sie hatte Tag für Tag vorbeigehen lassen, ohne daran zu denken, daß das einmal aufhören könne. Sie schwieg. Die Spannung, die in der schwülen, schweren Luft lag, teilte sich ihr mit. Es zog ein Gewitter herauf.
»Sie sagen nichts?« drängte er.
»Warum wollen Sie auf einmal abreisen?« lispelte sie.
»Warum? Was soll ich noch hier?«
Amélie verstand das nicht.
»Ich dachte, Sie wären – Sie könnten nicht ohne – nicht ohne mich –«, sie kam nicht weiter, die Worte blieben ihr im Halse stecken. Einige schwere Regentropfen fielen vor ihr auf den Weg und auf die unter der Fieberschwüle erschlafften Pflanzen. Aber sie dachte nicht einen Augenblick an das heraufziehende Unwetter.
»Nein,« sagte er, »ich kann nicht ohne Sie leben, das ist wahr, aber so wie jetzt kann ich mich auch nicht länger neben Ihnen verzehren. Dann lieber gleich Schluß! Amélie, ich liebe dich.« Ganz unvermittelt hatte er diese letzten Worte hervorgestoßen.
Er blieb stehen, nahm ihre Hand, und als sie sie ihm ließ, umschlang er ihre Hüfte und küßte ihren Mund. Sie wurde beinah bewußtlos. Wenn er mich jetzt mit geschlossenen Augen davontragen würde! dachte sie. Inzwischen hörte man das leise Rieseln des beginnenden Regens. Der Baron drängte Amélie in eine grüne Holzhütte mit Bänken, die leer in einem abgelegenen Winkel der Anlagen stand. Sie wollte an nichts denken und überließ sich dem Gefühl: jetzt trägt er mich dahin, in die Welt, in die Seligkeit, und ich gehöre ihm. Er drückte sie auf eine Bank, setzte sich neben sie und hielt ihre Hand mit beiden Händen fest. Man hörte Schritte. Sie öffnete die Augen, ihr war, als werde sie roh geweckt.
»Es geht ja nicht, es ist ja alles zwecklos,« sagte er bitter.
»Was denn?« fragte Amelie, als ob sie sich nach einem Traum noch nicht zurechtfinden könne.
»Sie können ja nicht meine Frau werden, ich bin doch arm, Sklave meiner Familie und in untergeordneter Stellung. Was kann ich Ihnen denn bieten? Ich hätte Ihnen auch nie meine Liebe gestanden, aber der Augenblick des Abschieds hat mich überwältigt. Ich bin auch nur ein Mensch.« Amélie zitterte wieder bei dem Wort Abschied. Sie fühlte: »Wie edel und ritterlich von ihm.« Langsam kehrte ihr Geist zur Wirklichkeit zurück. Rings um die Hütte tropfte der Regen nieder. Eine angenehme Kühle kam herein, und sie fühlte plötzlich etwas wie Heiterkeit in sich einziehen.
»Das ist übrigens Unsinn,« sagte sie auf einmal, »was Sie eben gesagt haben. Später werden Sie einmal Geld verdienen und jetzt leben Sie auch so, und ich doch auch. Uebrigens glaube ich, wir haben ganz viel Geld.«
»Was denken Sie von mir, Amélie,« rief der Baron aufspringend, »wie würde ich so etwas annehmen, auf Kosten einer Frau zu leben!«
Ein kleiner Dackel, der durch den nassen Sand gerannt war, wollte gerade in der Hütte Schutz suchen, prallte aber vor der erregten Bewegung Erichs zurück und blieb verdutzt am Eingang stehen.
»Wenn man sich liebt, ist das doch alles gleich,« erwiderte Amélie mit kindlicher Selbstverständlichkeit, aber doch seinen männlichen Edelmut bewundernd.
»Amélie,« schrie er fast, »darf ich das glauben, was Sie da, eben gesagt haben? Sie lieben mich? Wenn man sich liebt, haben Sie gesagt.« Er faßte ihre beiden Hände, bedeckte sie mit Küssen und fiel auf die Knie.
Der Dackel knurrte unentschlossen.
»Oh, ich werde arbeiten,« rief Erich, »jetzt werde ich arbeiten können, wo ich das weiß. Mit dir trotze ich der ganzen Welt! Wir werden nach Amerika gehen und eine Farm kaufen, und dort, fern von aller Welt und von allen Rücksichten, will ich dir mit der Arbeit meiner Hände Wohlstand und eines Tages vielleicht Reichtum schaffen.«
Der Dackel war vorsichtig herangekommen und beschnupperte die Sohlen des knienden Barons.
Es war dämmerig geworden, der Regen ließ nach. Erich umschlang Amélie wieder in einem langen Kuß. Dann standen sie auf. Der Dackel blickte freundlich und verständnisvoll zu ihnen empor, als gehöre er nun dazu, nachdem er diesen vertraulichen Auftritt miterlebt.
Erich brachte sie nach Haus. Noch glänzten alle Bäume und Sträucher der Anlagen von den Tropfen des Regens. Amélie setzte vorsichtig ihre Füßchen auf den Boden, um sich nicht in dem nassen Sand der Wege zu sehr zu beschmutzen. Während sie ganz mit dieser Aufmerksamkeit erheischenden Tätigkeit beschäftigt war, sagte er plötzlich:
»Darf ich morgen zu deiner Mama gehen und mit ihr sprechen?«
»Gott, daß das nötig ist,« dachte Amélie, sich an Leas neues Liebesevangelium erinnernd, »könnten wir doch gleich so, wie wir sind, auf und davon gehen und unserer Liebe leben,« und sie trat achtlos mitten in eine Pfütze. Der Dackel, der ihnen gefolgt war, schoß plötzlich auf eine gemeine Hündin los, die bellend hinter einem Bierwagen herjagte. Amélie lachte kindisch auf und sah naiv den beiden Hunden zu.
»Komm, Kind,« sagt« Baron Erich in einem leis überlegenen Ton und führte sie mit einer ritterlich schützenden Gebärde einige Schritte weiter.
Unter dem Tor verabschiedete er sich und versprach, morgen um zwölf Uhr zu kommen. Amélie sollte inzwischen mit der Mama sprechen. Sie eilte hinauf in ihr Zimmer und warf sich auf einen Stuhl. Also jetzt mußte sie alles der Mama erzählen. Wie sollte sie das nur machen? Und wenn die Mama nicht einverstanden war? Himmel, und die Großmama! Gegen diese fühlte sie plötzlich eine heimliche Wut. Sie empfand ganz deutlich, die würde nicht einverstanden sein und Schwierigkeiten machen. Amélies Stolz bäumte sich dagegen auf. Sie vergegenwärtigte sich die ganze moderne Weltanschauung, die sie sich im letzten Jahre mit soviel Erfolg einverleibt hatte. Sie würde sich das einfach nicht bieten lassen. Sie fühlte das Recht, sich ihr Schicksal selber zu schmieden. Und plötzlich kam ihr Mut. Ja, sie freute sich jetzt geradezu auf den Kampf. Wollte sie denn ein müheloses Glück? Nein, sich ein Glück mit eigenen Händen bauen, und wenn alle sich dagegen verbanden, das war es, was ihrer Kampfnatur entsprach. Sie dachte mit Stolz daran, wie groß sie jetzt vor Lea dastehen würde. Jetzt war die Stunde, zu beweisen, daß sie eine auf sich selbst gestellte Persönlichkeit sei.
Das alte Lenchen rief Amélie zum Abendessen. Seit Hermann auf der Hochschule war, nahmen Mutter und Tochter in dem weiten, niedrigen Speisezimmer allein die Mahlzeiten ein. Die Tage fingen schon an merklich kürzer zu werden, und die Lene hatte an diesem Abend zum erstenmal für das Nachtessen wieder die große Hängelampe angezündet. Dieser erste Vorbote des Winters machte die Stimmung bei Tisch trübe. Amelie sprach fast nichts und ihre Antworten auf die Fragen der Mutter klangen gedrückt. Durch das offene Fenster kam die durch das Gewitter stark abgekühlte Luft herein. Amelie fröstelte ein wenig.
»Aber, Kind, was hast du nur heute? Was ist denn mit dir?« fragte Frau Sanders ein über das andere Mal.
Plötzlich legte Amelie die Serviette hin, stand auf, warf sich der Mutter an den Hals und weinte laut. Frau Sanders redete ihr zu, sie solle sich ihr anvertrauen. Schließlich beruhigte sie sich etwas und lispelte:
»Mama – ach, ich kann es nicht sagen. Mama, denke nur, ich habe mich nämlich eben verlobt.«
»Verlobt? Aber Kind! Mit wem denn?« »Mit dem Baron Wietersheim. Erich und ich, wir haben uns lieb,« fuhr sie plötzlich ganz sicher fort, »wir wollen uns heiraten. Morgen mittag kommt er, um es dir zu sagen.«
Die letzten Worte stieß sie schnell heraus, und nun war sie froh, daß sie davon befreit war. Frau Sanders war zunächst sprachlos. Das hatte sie nicht erwartet.
»Ja, ist er denn schon so weit, daß er –«, fragte sie nach einigem Zögern, »kennst du denn seine Verhältnisse? Was sagen denn seine Eltern dazu?«
»Er hat keine Eltern mehr,« erklärte Amelie eifrig. »Oh, es ist so traurig! Wenn du wüßtest, wie er immer bei fremden Leuten herumgestoßen worden ist, was er durchgemacht hat.«
»Ja, Kind,« meinte Frau Sanders, »das ist ja alles recht schön und gut, aber ein Mann muß doch auch seine Familie ernähren können. Soviel ich weiß, lernt doch der junge Wietersheim noch in einer Bank.«
»Aber das kann er ja weiter tun, Mama, und eines Tages wird er Geld verdienen. Uebrigens wollen wir später nach Amerika gehen und uns eine Farm kaufen.«
»Und inzwischen wollt ihr jahrelang verlobt sein?«
»Wir können ja doch einstweilen heiraten.«
»Aber Kind, wovon wollt ihr denn leben?«
»Wir leben doch auch jetzt, Mama, und ich meine doch, wir haben Geld.«
»Aber du willst doch nicht, daß dein Mann von deinem Geld lebt?«
»Ach, Mama, du kennst ihn nicht. Das wollte er auch gar nicht annehmen, aber wenn man sich lieb hat, dann ist doch alles ganz gleich.«
Frau Sanders schwieg. Amélie hoffte im stillen, die Angelegenheit doch ohne Kampf allein mit der Mama ordnen zu können. Vielleicht willigte sie in eine heimliche Verlobung, so daß sie Erich ungestört sehen konnte. Das war doch fürs erste die Hauptsache.
»Also morgen kommt er, sagst du?« unterbrach die Mutter das Schweigen. »Wie unangenehm mir das ist, ich muß ihn doch nach alledem fragen. Weißt du, Kind, ich telegraphiere an die Großmama, wir wollen sehen, was sie sagt.«
»Wenn du das schon tust,« sagte Amelie aufbrausend, »sie ist sicher dagegen.«
Nun brach sie wieder in Tränen aus, sie bekam eine Art Weinkrampf. Von jetzt ab war Frau Sanders nur noch bemüht, die Tochter zu beruhigen. Das Sachliche der Angelegenheit wurde fast vergessen. Mit Hilfe von Lene brachte sie Amélie zu Bett. Die Alte mußte noch einen Lindenblütentee kochen, der Amélie beruhigte, dann schlief sie ein, während der Lindenduft ihr kleines, weißes Mädchenstübchen erfüllte.
»Wenn er aber doch ein Baron ist, gnädige Frau,« sagte Lene draußen auf dem Vorplatz, »dann erbt er später einmal ein Rittergut, und das ist ein Glück für das Kind.«
Am anderen Tag um zwölf Uhr trat Erich von Mietersheim in den behaglichen hellen Biedermeiersalon bei Sanders. Er trug einen Gehrock, der ihn fast überschlank machte, helle Handschuhe, Lackstiefel, Zylinder.
»Ihr Fräulein Tochter«, sagte er in sicherem Tone zu Frau Sanders, »hat Ihnen gewiß gesagt, gnädige Frau, welcher Anlaß mich hierherführt.«
In seiner Gewandtheit lag zugleich etwas sehr Verbindliches und Gewinnendes.
So sehr sich Frau Sanders im Kreise der Ihren ratlos und entschließungsunfähig fühlte, so sicher kam ihr in Gegenwart von Fremden eine gewisse Haltung, die ihr Würde verlieh und über ihre Festigkeit täuschen konnte. Sie sagte ihm, wie aus reiflicher Ueberlegung heraus, daß sie gegen seine Werbung an sich keine Einwände zu machen habe – und das war richtig, der junge, elegante Mann gefiel ihr –, aber daß sie ihn nach seinen Verhältnissen fragen müsse. Er antwortete, er befinde sich in einem ersten Bankhaus, wo er gewiß weiterkommen würde, da alle Vorgesetzten mit ihm zufrieden seien, inzwischen lebe er noch von seinem Vermögen. Frau Sanders war es zu peinlich, auf genauere Erklärungen zu dringen, und so antwortete sie, sie allein könne vorläufig nicht entscheiden, sie müsse mit ihrer Schwiegermutter sprechen. Der junge Mann bat sich die Erlaubnis aus, inzwischen weiter in das Haus kommen zu dürfen, in dem er bisher hie und da bei kleinen Einladungen zu Gaste gewesen war. Die Erlaubnis wurde gern gewährt. Er wünschte auch noch, Fräulein Amélie zu begrüßen. Diese war klopfenden Herzens im Nebenzimmer gesessen. Als sie gerufen wurde, glaubte sie, die Entscheidung sei schon gefallen. Statt dessen ging Erich auf sie zu, begrüßte sie und fragte, ob er sie nachmittags zum Tennis abholen dürfte. Sie sagte verwirrt ja, dann ging er. Amélie war sehr enttäuscht. Sie hatte etwas Großes erwartet, und nun war alles wie zuvor, wie an einem gewöhnlichen Tag. Aus der Mama war nichts anderes herauszukriegen, als daß ihr der junge Baron ganz gut gefiele, daß man aber seine Verhältnisse noch genauer prüfen müsse.
Nachmittags holte der Baron sie ab. Er schien sehr ruhig und gefaßt in seiner Förmlichkeit und Zurückhaltung. Auf der Straße sagte er:
»Wir werden durchdringen, ich bin überzeugt. Mit Geduld und Ausdauer müssen wir unser Ziel erreichen.« Es lag eine zähe Entschlossenheit in seinen schlanken Gebärden, die überzeugte.
Ihr gefiel diese besonnene Festigkeit, aber sie selbst fürchtete sehr die Entscheidung der Großmama.