Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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25

Mme. Sanders war einige Tage vor den Ferien ihrer Enkel mit der alten Lene, die sie zu sich genommen hatte, und Lorrain in die Stadt gezogen und hatte die Wohnung, die inzwischen leer gestanden, in Ordnung gebracht.

Erich, der die alte Dame von Zeit zu Zeit in ihrer Villa zu besuchen pflegte, war ihr allmählich eine Stütze und eine Art Bundesgenosse geworden gegen die Geschwister, deren Treiben in München ihr immer geheimnisvoller und beunruhigender erschien. Auf ihre Briefe waren immer nur kurze Antworten gekommen, selbst wenn es sich um wichtige geschäftliche Angelegenheiten handelte. Das alte Haus gehörte ihr und den Enkeln gemeinsam; die Frage mußte entschieden werden, ob man das früher von der Familie bewohnte Stockwerk vermieten sollte, aber die Kinder taten stets, als ginge sie das gar nichts an, die Großmutter möge das alles machen, wie sie wolle. Kurt durfte man jetzt auch nicht mit Geschäften kommen, er stand gerade vor der Assessorprüfung. Mme. Sanders konnte sich nicht schnell zum Vermieten entschließen, da sie immer noch hoffte, Amélie und Erich würden bald heiraten und könnten dann die alte Wohnung beziehen.

»Laß mich nur machen, Großmama,« sagte Erich immer, wenn die alte Dame sich bei ihm beklagte, »ich weiß, wie man Amélie behandeln muß. Da gibt es nichts anderes, als sie in Ruhe lassen, bis sie von selbst vernünftig wird.«

»Du magst recht haben, aber ich kann nicht mehr lange warten; bis die zwei zur Vernunft kommen, liege ich vielleicht schon unter der Erde.«

»Aber Großmamachen, bis dahin ist noch lange Zeit.«

Die alte Frau legte ihre gepuderte, alte Rechte auf Erichs Hand und sagte:

»Du bist meine einzige Stütze gegen mein eigenes Blut.«

 

Die Geschwister kamen mit einem Nachmittagszug an. Die Begrüßung war fröhlich und ziemlich unbefangen. Beim Tee hatten sie vieles zu erzählen, und während sie sich gegenseitig in ihren Berichten unterbrachen und ergänzten, erschien ihnen München selbst wieder in einem Glanz, den es in der letzten Zeit nach dem Fest für sie bereits verloren hatte.

»Weißt du noch, der prachtvolle Sonnenuntergang auf der Insel?« sagte Amélie entzückt, und sie erinnerten sich gegenseitig an Ausflüge, Zusammenkünfte mit Künstlern und humoristische Zwischenfälle, während die Großmutter und Erich höflich zuhörten.

»Das muß allerdings sehr anregend für dich gewesen sein,« sagte Erich öfters zu Amélie.

»Und wie geht es denn mit dem Malen?« fragte die Großmutter.

Amélie sagte:

»Oh, ganz gut, das wird schon langsam werden.«

Aber Hermann fiel ihr ins Wort und meinte:

»Malen, das Malen! Als ob's darauf so sehr ankäme! Es gibt noch wichtigere Dinge im Leben, als die Kunst. Vor allem muß man leben. Aber das begreift ihr ja alle nicht.«

Damit stand er auf und erklärte, er werde jetzt noch ein wenig ins Caféhaus gehen, um Zeitschriften zu lesen.

»Aber Junge, am ersten Tag deines Hierseins?« sagte die Großmutter vorwurfsvoll.

»Was soll ich denn hier? Wir verstehen uns ja doch nicht und unsere Gespräche sind unfruchtbar.«

Dann ging er. Die Großmutter richtete es so ein, daß Amélie und Erich abends allein im Salon saßen, damit sie sich aussprechen könnten.

Als Amélie die alten Biedermeiermöbel wiedersah, dachte sie: »Eigentlich schade, daß sie hier stehen, wo niemand sie würdigt.« Sie hatte inzwischen erfahren, daß »Kulturmenschen« neuerdings den Biedermeierstil wieder bevorzugten und war darüber einigermaßen erstaunt gewesen, da er ihr, wie alles von Hause her Gewohnte, »rückständig« vorgekommen war; aber selbst Oesterots hatten sich einige Biedermeiermöbel gekauft, und nun sah sie diesen Stil mit anderen Augen an.

»Endlich haben wir uns nun einmal wieder,« sagte Erich und wollte sie küssen.

Aber sie wehrte ab und sagte:

»Nein, laß mich.«

»Aber Amélie, nach einer so langen Trennung werde ich dir doch wieder einmal einen Kuß geben dürfen?«

»Nein, ich will die alten Geschichten nicht wiederhaben.«

Darauf trat Schweigen ein. Erich saß in gebeugter Stellung traurig in einem Sessel und strich sein dünnes Schnurrbärtchen.

»Ich kann dich ja ganz gut verstehen. Ich habe dir gegenüber vieles zu bereuen, das sehe ich selbst ein und mache keinen Hehl daraus. Inzwischen bin auch ich gereift. Nein, so wie damals soll es allerdings nicht wieder werden, aber gute Kameraden können wir doch einstweilen bleiben, bis wir Mann und Frau sind.«

Amélie stieß einen unzufriedenen Seufzer aus.

»Ist dir der Gedanke daran so unangenehm?«

»Ach, unangenehm nicht,« erwiderte sie gleichgültig, »ich finde es nur so furchtbar komisch, daß ich deine Frau werden soll.«

»Was daran komisch ist, sehe ich aber wirklich nicht.«

»Weil du eine Spießbürgernatur bist.«

»Und du? Was erwartest du dir denn eigentlich von der Zukunft?«

»Weiß ich's denn?« fragte sie, überlegen das Kinn hochhebend, und ging wie beseligt um den Tisch herum, »muß man denn immer etwas erwarten? Ich will einfach leben, atmen, schaffen, was weiß ich? Nur nicht mich festlegen und anketten lassen.«

Er blickte sie ängstlich an und bewunderte sie in ihrer ihm unheimlichen Freiheit.

»Bitte, gib mir eine Zigarette,« sagte sie, »es ist doch einer deiner Hauptvorzüge, daß du so anständig rauchst.« Er öffnete die goldene Dose und reichte sie ihr.

Sie genoß ihren Triumph, wie sie während der ganzen Münchener Monate kaum etwas genossen hatte.

»Und glaubst du denn, daß du das, was du zu deinem Glück brauchst, in München findest?« forschte er weiter.

»Allerdings, das glaube ich!« rief sie aus tiefster Überzeugung, indem sie sich ins Sofa warf und ihre Arme wohlig über der Lehne ausbreitete. Sie dachte in diesem Augenblick an das Fest und es kam ihr vor, als seien die ganzen Münchener Monate ein Bacchuszug gewesen.

»Wie lange wird denn dein Studium noch dauern?«

»Ach, das weiß ich noch nicht,« meinte sie und spielte, von sich selbst entzückt, ihren letzten Trumpf aus: »ich gehe überhaupt wahrscheinlich zur Bühne.«

»Zur Bühne? Ist das dein Ernst?« fragte Erich zerschmettert.

»Allerdings, mein Junge, du wirst es mir doch wohl nicht verbieten wollen? Entspricht das etwa nicht deinen gesellschaftlichen Vorurteilen?«

»Verbieten!« rief er erschreckt, »du weißt, ich verbiete dir überhaupt nichts; du hast deine völlige Freiheit. Aber ich würde mir das doch erst noch einmal überlegen.«

Das Eintreten der Großmutter brach die Unterhaltung ab. Als sich Amélie abends zu Bett legte, war eine gewisse Entmutigung, die sie in der letzten Zeit in München gespürt hatte, völlig von ihr gewichen, sie fühlte sich stark, – überlegen und fähig, der ganzen Welt zu trotzen.

 

Am nächsten Tage spürte sie das unbezwingliche Bedürfnis, durch die Straßen zu gehen. Sie hoffte, recht viele alte Bekannte unterwegs zu treffen, denen sie von der Münchener Herrlichkeit erzählen könnte.

Um zwölf Uhr hatte sie sich bei Lea Knapp angemeldet, die sie bei der Arbeit in ihrem alten Atelier traf. Wie fern schienen Amélie die Ereignisse zu liegen, an die sie dieser Raum erinnerte. Lea trug eine dunkelgraue, praktische Malschürze, ihr schwarzes Haar hing schlecht geordnet über die Ohren. Auf der Staffelei stand ein angefangenes Oelbild, das eine typisch schöne, ausgeschnittene Frau darstellte.

»Wer das ist, ahnst du nicht,« sagte Lea nach den ersten Begrüßungsformeln und Fragen, auf das Bild deutend. »Nun, es ist Elisabeth Schlosser, die du ja auch kennst; sie wird übrigens nachher kommen, um dich wiederzusehen. Sie hat eine Entwicklung durchgemacht, die geradezu beispiellos ist. Ich werde etwas in unserem Blatt darüber schreiben, denn es ist ein rechtes Beispiel dafür, wieviel wertvolles Frauenmaterial heute noch von der Gesellschaft unterschlagen wird, wenn nicht die zufällige Erweckung kommt.«

»Sie wollte doch Krankenpflegerin werden?« fragte Amélie, sich der alten Zeit des Konfirmandenunterrichts entsinnend.

»Ja,« erwiderte Lea, »ich habe sie zufällig in unserem Verein kennengelernt. Wir haben nämlich hier einen Frauenbund gegründet, an dem alle schon freien oder frei werden wollenden Frauen der Stadt teilnehmen. (Wir erteilen auch Rechtsbelehrung in Scheidungsfragen.) Vom Christentum war Elisabeth damals schon abgekommen, aber sie irrte noch tastend umher, als ...«

In diesem Augenblicke klingelte es.

»Das wird sie sein,« sagte Lea, »sie nennt sich jetzt übrigens auf meinen Rat Ellinor und ist verlobt mit Dr. Mück, dem Mathematiklehrer am Realgymnasium.«

Das Brautpaar trat ein. Elisabeth hatte eine stattliche, wenn auch nicht sehr hohe Gestalt, ihr Haar war wie früher in der Mitte gescheitelt, aber dadurch, daß es halb über den Ohren lag, wurde aus dem Gouvernantengesicht eine Art Cléo de Mérode-Typus. Sie trug einen Panama mit grünem Schleier und ein helles Reformkleid. Neben ihr ging ein magerer, hüstelnder Mensch mit kurzem, rotblondem Stoppelbart, einer bläulichen Brille und stets in Bedenklichkeit gefurchten Stirn. Elisabeth schritt mit gekünstelten Bewegungen auf Amélie zu und begrüßte sie. Ehe sie ihr die Hand gab, hob sie den Unterarm nach oben, drückte die Finger in eine Spitze zusammen, so daß die Hand die Form eines Gänsekopfes auf einem langen Halse annahm. Dr. Mück stellte sich selbst vor, indem er ganz leise hauchte: »Mück.«

»Eben sprachen wir gerade von dir,« sagte Lea.

Elisabeth lächelte. Obwohl ihr Gesicht ausgesprochen derbe Züge hatte, verstand sie es doch, sich die Allüren einer schönen Frau zu geben, und es gelang ihr sichtlich, Lea und den Dr. Mück an diese Fiktion glauben zu machen.

»Du bist Malerin?« fragte Elisabeth Amélie fast gönnerhaft.

»Ja,« erwiderte Amelie, »aber ich werde wohl später zur Bühne gehen.«

»Zur Bühne,« nickte Elisabeth mit überlegenem Lächeln, »da sind wir uns ja gar nicht so fern, wie ich dachte.«

»Willst du auch?« fragte Amelie.

»Ja, zur Bühne will ich wohl,« lächelte Elisabeth geheimnisvoll, »wenn man darunter nicht gerade das Theater versteht.«

Amélie verstand nicht, Lea nickte Elisabeth befriedigt zu.

»Das ist eben das Geheimnis,« sagte jene, »aber Amélie können wir es verraten. Ellinor wird nämlich Barfußtänzerin.«

Die beiden Mädchen weideten sich an Amélies Erstaunen.

»Das heißt Naturtänzerin,« ergänzte Dr. Mück, und verriet durch seinen Tonfall, daß er Sachse war.

»Hast du davon noch nie gehört?« fragte Lea.

»Doch, ich erinnere mich,« sagte Amélie, »in München wollte einmal eine auftreten, aber es wurde ihr von der Polizei verboten.«

»Oh, wir werden durchdringen,« rief Ellinor mit einem Blick zum Himmel, und Amélie gewahrte in ihren starren Augen wieder den verzückten Ausdruck, wie einst, als sie den Beruf zur Krankenpflegerin in sich spürte.

»Wie ist denn das alles gekommen?« fragte Amélie, noch immer erstaunt über Elisabeths scheinbar so widerspruchsvolle Entwicklung.

»Ja, das ist nicht so einfach,« sagte diese, »man muß eben die Berufung dazu in sich spüren.«

»Na, daß dieses herrliche Menschenkind nicht in der Krankenpflege verkümmern durfte, das war doch klar,« sagte Lea stolz, indem sie Ellinors derben Rücken streichelte, »sie kam zu uns in den Frauenbund und suchte irgendeine Beschäftigung als Sekretärin oder in einem Geschäft ...«

»Nun, wenn die Geschichte schon erzählt werden soll,« fiel Mück lebhaft sächselnd ein, »dann aber bitte von vorne anfangen. Als ich Ellinor kennenlernte, war sie noch in den Vorurteilen des Christentums befangen. Mir ist es zu verdanken, daß sie eine überzeugte Monistin geworden ist. Ich habe sie Darwin, Haeckel und Ostwald verstehen gelehrt.«

»Na, lieber Doktor,« unterbrach Lea, »ohne Ihre gelehrige Schülerin wären Sie heute auch nicht der Künstlermensch, der Sie sind.«

»Das erkenne ich offen an,« sagte Mück, »für das Aesthetische hat mir allerdings Ellinor erst die Augen geöffnet.«

»Nun, und wer hat sie auf das Aesthetische gebracht?« fragte Lea. »Doch wohl ich, als ich mich mit ihr zu beschäftigen begann und ihr klar machte, daß es für ein so schönes Ausnahmegeschöpf schade sei, wenn es in der Tretmühle eines prosaischen Berufes verkäme. Ich habe sie auf die Kunst und die Bühne verwiesen.«

Elisabeth-Ellinor hatte bis jetzt lächelnd und mit erhobenem Blick zugehört.

»Nun, auf das Tanzen bin ich aber doch wohl selbst gekommen,« sagte sie, »der Gedanke stammt von mir, die Farben und Bewegungen der Urtiere, besonders der Radiolarien, wie sie auf den bunten Tafeln im Haeckel abgebildet sind, zur Grundlage organischer Tänze zu machen.«

»Aber wir wollen ja dein Verdienst nicht schmälern,« sagte Mück.

»Ich werde es euch nie vergessen, was ihr beide mir gewesen seid.« Sie reichte jedem eine Hand.

Bei der guten Amélie, die hergekommen war, um Eindruck zu machen, waren plötzlich wieder alle ihre kindlichen Instinkte erwacht, die sie zur Bewunderung anderer trieben und sich selbst nur als Publikum zu betrachten hießen.

Lea bestand darauf, daß Ellinor etwas vortanzte. Sie mußte sich zu diesem Zweck hinter der spanischen Wand ausziehen, kam dann, nur mit einem leichten Hemd bekleidet, unter dem die behaarten dünnen Beine bis zum Knie sichtbar waren, wieder zum Vorschein und zeigte sich vor Mück und den beiden Freundinnen. Mit gezierten Schritten und seltsam in die Luft bohrenden Armbewegungen ging sie durch die Werkstatt, dann blieb sie in einer Ecke stehen, nahm irgendeine übertriebene Stellung an, drückte sich plötzlich wie ein verfolgtes Wesen an die Wand und hopste dann auf einmal in neckischer Lustigkeit umher. Sie behauptete dann, zu diesem Tanz gehöre eigentlich ein Scherzo aus einer Beethovenschen Symphonie als Begleitung, dessen Gehalt sie mimisch auszudrücken suche. Mück und Lea waren begeistert. Amélie hatte gar nicht geglaubt, daß das schon der Tanz sei; sie erwartete, daß er erst beginne, aber dann fand sie es außerordentlich neu und eigenartig. Es kam wohl bei alledem besonders auf den Ausdruck der Innerlichkeit an.

Dr. Mück mußte sich bald verabschieden, er hatte eine Stunde zu geben. Die drei Mädchen blieben allein in der Werkstatt.

»Es ist schade, Amélie,« sagte Lea, »daß du Mück nicht früher kanntest, ehe er der glühende, lebendige Mensch war, als den du ihn eben gesehen hast. Gott, wie tot und arm ist er gewesen, ehe er Ellinor traf; nicht wahr, Ellinor?«

»Ja, es war geradezu tragisch,« bestätigte diese, »er kannte nichts als die Enge der Familie und draußen die Dirnen.«

»Du mußt erzählen, wie das alles im einzelnen war,« ermunterte Lea, »denn die ganze Geschichte ist vorbildlich für die Zukunft, wo nicht mehr der Herr der Schöpfung der allein Werbende sein wird.«

»Nun, ich bin ganz einfach zu ihm hingegangen,« sagte Ellinor, indem sie einen ganz schlichten Ton versuchte, »und habe ihm gesagt: Hier bin ich, mach' mit mir, was dich die Natur heißt. Ich habe erkannt, daß wir die Pflicht haben, uns auch körperlich ganz zu gehören. Beruht nicht deine Lehre auf dem Monismus, der keinen Unterschied anerkennen will zwischen Seele und Leib?«

»Das ist wirklich wundervoll!« rief Amélie in ehrlicher Begeisterung aus, »daß man überall, wohin man kommt, von den neuen Idealen hört. Ich hatte wirklich ein wenig Angst, aus dem glühenden Dasein Münchens wieder hierher zurückzukommen. Oh, wir werden uns viel, viel zu erzählen haben.«

Amélie machte bald Hermann mit Lea, Ellinor und dem Dr. Mück bekannt, und die fünf jungen Leute saßen Tag für Tag zusammen und vertieften sich in die neuen Ideen. Durch Mück wurde Hermann in die Lehren des Monismus und des Sozialismus eingeweiht.

»Die Wurzel alles Nebels«, sächselte Dr. Mück, während seine sommersprossige, mit Warzen übersäte Hand die Luft durchfuhr, »ist das Erbrecht. Kein Wunder, daß solche Schufte, die von Kindheit an nur den Ueberfluß kannten, leicht einmal ein gutes Buch schreiben; die kriegen ja die ästhetische Kultur, die wir uns erst erringen müssen, mit in die Wiege.« Am selben Abend aber sagte er:

»Das Erbrecht schafft nur Idioten. Wie kann denn so ein Kerl, dem's immer gut gegangen ist, einen geraden Gedanken in seinem Schädel haben? Er sieht ja das Leben immer von falschen Voraussetzungen aus.«

Dieser häufig wiederholte Satz machte auf Hermann tiefen Eindruck. War er nicht selbst immer gehegt und gepflegt worden? Hinderte ihn seine gute Erziehung und sein sicheres Auskommen nicht an allem und jedem? Nie würde er das wahre Leben kennenlernen. München, Künstlerfeste, Ateliers, Kaffeehäuser, Bücher, all das damit zusammenhängende Dasein war ja auch nur künstlich dadurch ermöglicht, daß die meisten, die mitmachten, irgendwie, wenn auch nur durch kleine Renten und geringe äußere Ansprüche, gesichert waren. Er fühlte, daß hier das Problem seines Daseins lag und glaubte, Dr. Mück könne ihm es lösen helfen. Widerstandslos nahm er daher dessen Gedanken in sich auf und gestand diesem eines Nachts, hinter dem weißen Marmortischchen eines leeren Kaffeehauses in ein rotes Samtsofa versunken, daß ein Dasein wie das seinige ohne die kapitalistische Vorentwicklung seiner Familie überhaupt undenkbar wäre, was er seine Tragik nannte. Dr. Mück zeigte dafür ein überraschend mildes Verständnis, und die Bewegung seiner warzigen Hand drückte nicht die mindeste Verachtung aus. Dies seien Uebergangszustände der sozialen Evolution. Seitdem bat er Hermann öfter einmal um fünf oder zehn Mark, die dieser nicht verweigern zu können glaubte, wenn er beanspruchen wollte, ernst genommen zu werden.

Der Großmutter und Erich gegenüber taten die beiden Geschwister wie immer sehr geheimnisvoll, wenn sie von den Zusammenkünften mit ihren Freunden sprachen und von der neuen Zeit, die herandämmere. Die Großmutter wiegte bedenklich den Kopf und schüttete Erich traurig ihr Herz aus, wenn sie mit ihm allein war, der fühlte, daß alle seine Gewalt über Amelie dahin schwand. So gingen diese Wochen vorbei. Am Anfang des Winters befanden sich Amelie und Hermann wieder in München.


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