Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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5

Der Winter verlief ziemlich einförmig. Mely bekam viel von den Pflichten einer Konfirmandin zu hören, und sie sah auch ein, daß sie sich dem bevorstehenden Ereignis entsprechend ernster zu benehmen habe. Die Gymnasiasten interessierten sie nicht mehr, dafür schloß sie sich immer mehr an Elisabeth Schlosser an. Für sie faßte sie eine wahre Verehrung. Einmal lud Elisabeth sie ein. Das Mädchen bewohnte mit einer kränklichen Mutter, die von der Pension ihres Mannes dürftig leben konnte, eine saubere, enge Mansardenwohnung in einer billigen Gegend. Mely empfand stark den Reiz dieser Kargheit, als sie die einfachen sauberen Zimmer mit den schrägen, getünchten Decken betrat. In dem größeren, dem Wohnraum, war ein reinlicher Kaffeetisch gedeckt, in der Ecke stand, mit einem weißen, gehäkelten Tuch überzogen, Elisabeths Bett. Darüber sah man in einem Glaskasten, etwas grau geworden, einen alten Hochzeitskranz aus künstlichen Orangenblüten. Frau Schlosser, eine untersetzte, breite Person, wie die Tochter, saß unter dem kleinen Mansardenfenster auf einer Erhöhung und strickte. Sie stand auf, als Mely eintrat, und stieg herab. Mely gab ihr die Hand und knickste. Frau Schlosser war etwas verwirrt.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen,« sagte sie, »bei uns ist es sehr einfach.«

»Aber Mutter,« unterbrach Elisabeth, »das brauchst du doch nicht immer zu sagen, Mely ist nicht anspruchsvoll, nicht wahr?«

»Nein, gar nicht,« flüsterte Mely verlegen.

Elisabeth wollte gleich hinausgehen, um den Kaffee zu holen, Mely sprang auf und rief:

»Soll ich dir nicht helfen, Elisabeth?«

»Nein, bleib nur solange bei der Mutter.«

Nun saß sie allein bei der alten Frau, was sie gerade hatte vermeiden wollen.

»Der Pfarrer Nothaft,« begann Frau Schlosser, während ihre mürben, grauen Hände wieder nach dem Strickzeug griffen, »das ist einmal ein guter, braver Mann.«

»O ja,« sagte Mely, deren Fingerchen müßig aneinander zupften, »darum haben wir ihn auch alle gern.«

»Wir armen Leute wissen das noch besser als Sie.«

Es trat eine Pause ein. Mely war das furchtbar peinlich. Sie hatte gar nicht gedacht, daß sie hier bei armen Leuten war. Arme Leute waren doch die, zu denen Elisabeth bisweilen ging, z. B. das frühere Dienstmädchen, das sie im Sommer zusammen besucht hatten.

»Uns hätte es auch besser gehen sollen,« fuhr Frau Schlosser fort, »aber mancher hat halt Unglück. Mein Vater, der führte ein Merceriegeschäft in Wertheim am Main und besaß vierzigtausend Mark bar, aber mein Bruder, der hat alles verbraucht, der Elisabeth ihr Onkel. Jetzt ist er in Amerika, und als mein Vater starb, da kamen Gläubiger und das Gericht und die Advokaten, und« – man hörte Elisabeths Schritte – »sagen Sie ihr nichts, sie ist stolz, sie will nicht, daß ich davon spreche.«

Elisabeth kam mit einer großen, viereckigen Kanne und goß den Kaffee ein. Mely konnte kaum sprechen, so sehr hatte sie dieses kurze Geständnis der Alten bedrückt.

»Wir sind eben einfache Leute,« begann die Alte von neuem, während sie sich an den Tisch setzte.

»Aber Mutter,« sagte Elisabeth vorwurfsvoll, »was glaubst du denn, wer Mely ist?«

»Du mußt auch jetzt einmal zu mir kommen,« unterbrach Mely liebenswürdig.

»Gern, wenn ich einmal Zeit finde, ich habe jetzt gerade viel für den Herrn Pfarrer zu tun. Weihnachten steht vor der Tür, und wir machen eine große Armenbescherung.«

Auf einmal begann die alte Frau Schlosser zu kichern und rief:

»Hihihihi, Armenbescherung. Ich möchte wissen, wer uns einmal etwas beschert, hihihihi.«

Elisabeth warf nur einen stillen Blick nach der Mutter. Mely wünschte sich viele Meilen fort. Elisabeth sprach nun von möglichst gleichgültigen Dingen, bei denen die Mutter keine unerwünschten Bemerkungen anbringen konnte, über den noch nicht genau bestimmten Tag der Konfirmation und ähnliches. Nach dem Kaffee ging Frau Schlosser ins Nebenzimmer, während sie halb für sich sagte:

»Ich störe ja doch nur, ich lasse die beiden Mädchen lieber allein.«

»Aber du störst gar nicht,« sagte Elisabeth, und Frau Schlosser kicherte wieder:

»Hihihihi, was ich weiß, das weiß ich,« und verschwand.

Elisabeth erklärte nun Mely kurz:

»Die arme Mutter, sie ist ein bißchen verbittert durch das Leben.«

Dann sprach sie, plötzlich wieder in ihrem Fahrwasser, von ihren Bittgängen bei reichen Leuten, von ihren Einkäufen und Briefwechseln, alles im Dienst der großen Armenbescherung des Propstes Nothaft. Mely hörte mit Bewunderung zu und begann sich nun wieder wohl zu fühlen in der bequemen Lage, eine neue, fremde Umgebung einfach auf sich wirken zu lassen.

»Hast du denn keine Handarbeit mitgebracht?« fragte Elisabeth, während sie auf Melys schlanke Hände blickte, die wie zwei zierliche sich schnäbelnde Vögel in ihrem Schoße lagen und sich bisweilen berührten.

Natürlich hatte sie keine Arbeit mitgebracht. Sie fühlte auch gar nicht das Bedürfnis danach, vielmehr wäre sie nun am liebsten ruhig dagesessen und hätte Elisabeth bewundernd zugehört. Die aber gab ihr eine einfach« Kindersocke zu stricken, sie selbst häkelte an einem Jäckchen. Elisabeth fragte dann:

»Was wirst du nach der Konfirmation machen?«

»Ich muß doch noch zwei Jahre in die Schule gehen, du nicht?«

»Nein. Ich habe nur die Bürgerschule durchgemacht, die ist jetzt zu Ende. Ich will Krankenpflegerin werden.«

»Krankenpflegerin? Ach!« rief Mely erstaunt, und die Kindersocke fiel ihr in den Schoß. »Was mußt du denn da tun?«

»Ich trete gleich bei den Diakonissinnen ein, und da lerne ich eben alles, was dazu gehört.«

»Und dann?«

»Dann werde ich selbst Diakonissin.«

»Wen willst du denn dann pflegen?«

»Alle Kranken, die uns zugewiesen werden,« sagte Elisabeth in einem Ton, als gehöre sie schon dazu.

»Ganz fremde Leute? Oh, das könnte ich aber nicht.«

»Man muß die Berufung in sich fühlen.«

»Ja, das wird es wohl sein. Oh, ich spüre sie nicht, ich ekle mich auch so furchtbar leicht.«

»Man muß Gott bitten, daß er in uns den Drang erweckt. Ekel, das gibt es überhaupt nicht mehr, wo es sich um Nächstenliebe handelt,« erwiderte Elisabeth mit einer Strenge, die Mely erschreckte.

Dieses Gespräch klang den ganzen Abend in ihr nach. Wie klein und nichtig kam sie sich vor, und wie bewunderte sie Elisabeth! Man muß Gott bitten, dachte sie in einem fort, daß er in uns den Drang weckt. Als sie im Bett lag, faltete sie unwillkürlich die Hände und flüsterte:

»Lieber Gott, ich bitte dich – ja, was soll ich ihn nun eigentlich bitten?« fragte sie sich ängstlich, »daß du in mir auch einmal ... aber erst später, den Drang weckst, Krankenpflegerin zu werden.«

Je näher der Konfirmationstag rückte, desto ernsthafter wurden die Worte des Propstes Nothaft. Manchmal ermahnte er auch vorsichtig zur Keuschheit und ließ verstehen, daß Theater, Tanzen, Romane dieser Tugend im Wege ständen. Wenn er wüßte, dachte Mely, daß ich das Buch der Lieder und Liechtenstein kenne! Sie machte sich bittere Vorwürfe über ihre Zusammenkünfte, die sie einst mit Erwin gehabt, und da ihre Wiederholung für sie ohnehin keinen Reiz gehabt hätte, war es ihr leicht, sich in einen reizvollen Reuezustand der Zerknirschung zu versetzen und die besten Vorsätze zu fassen, künftig so etwas nie wieder zu tun. Sie beschloß immer wieder, recht sittsam und ernst zu sein; aber kaum kam sie in die Schule und wurde irgendein Streich angezettelt, so brachte sie es nicht fertig, abseits zu stehen, ja, es kam dann oft eine krampfhafte Lustigkeit über sie, durch die sie ihre Selbstvorwürfe übertäuben wollte. Mely genoß ihre widerspruchsvollen Empfindungen, Zerknirschungen und Selbstanklagen, und sie schien sich dabei eigentlich recht interessant. Einmal nahm sie sich sogar vor, Tagebuch darüber zu führen, doch dann wurde es ihr wieder zu langweilig; oder sie beschloß abends vorm Einschlafen, morgen zum Herrn Pfarrer zu gehen und ihm zu beichten, daß sie unrein sei, weil sie sich von Erwin Dorn hatte küssen lassen. Sie schwelgte in der Vorstellung dieser Lage, wie ihr der Propst erst das Sündhafte dieser Tat in feierlichen Worten ausmalen, ihr dann aber milde verzeihen würde, wenn er ihr zerknirschtes Herz sähe. Aber dann fand sie doch nicht den Mut, diesen schönen Auftritt zu spielen. Mit einem fast wollüstigen Grauen sah sie dem Konfirmationstag entgegen, von dem sie sich eine ungeheure, prachtvolle Erregung versprach.

Der Morgen dieses Tages war trübe und regnerisch. Mely war viel zu früh aufgestanden, und nun saß sie in ihrem weißen, etwas knapp anliegenden Kleid, das sie drückte und erhitzte, am Fenster und blickte auf die graue, wehmütige Straße hinab. Ihr Kopf war schwer, sie hatte schlecht geschlafen, ihr Inneres war gespannt auf das Große, das nun kommen müsse, und das Dasein ringsum erschien ihr unsagbar traurig. In diesem Zustand beobachtete sie die kleinsten Vorgänge der Außenwelt mit einer Schärfe, die ihr ungewohnt war. In einem der einfachen, alten Häuser gegenüber zog gerade eine Familie um. Schränke und Betten, Lampen und ein Korb voll abgegriffener Bücher wurden von den Packern heruntergetragen. Warum ist das alles nur so traurig, dachte Mely, warum machen sich die Leute diese Mühe, umzuziehen und woanders alles wieder einzuräumen? Vielleicht haben sie das Gefühl, daß dadurch etwas Unglückliches besser wird, aber es ist doch immer wieder dasselbe. Mely selbst hatte niemals einen Umzug erlebt, und sie konnte sich auch gar nicht vorstellen, daß sie jemals das alte Haus ihrer Familie verlassen könnte. Sie schwur sich, es niemals zu tun, und wenn sie hier als steinaltes Jüngferchen ihre Tage beschließen müsse. Der Zeiger der Uhr wollte nicht weiterrücken. Noch war es nicht halb neun, und um zehn begann erst die Feier in der Kirche. Immer schwerer legt« sich der Alltag über die trübe Stadtgasse. Da kamen drei Vagabunden von der Altstadt her, sie waren es offenbar, die man schon die ganze Zeit in der Ferne ein italienisches Lied hatte singen hören. Nun stellten sie sich ganz in der Nähe des Sandersschen Hauses auf und begannen denselben Gesang. Mely freute es, ihre Traurigkeit mit diesen gefühlvollen Tönen aus einem fernen, sonnigen Lande zusammenströmen zu lassen, und als die drei mit ihrem Liede aufhörten, da fühlte sie sich noch leerer und verödeter als vorher. Dann gingen die Männer die Gasse weiter hinauf, und in der Ferne hörte man sie wieder dasselbe Lied anstimmen, das in dem trüben Morgen verklang. Mely fiel auf, daß ihnen niemand etwas gab, und auch sie hatte sich nicht aus ihrer Starrheit aufzurütteln vermocht, um nach einem kleinen Geldstück zu suchen; sie kam sich undankbar gegen die Sänger vor, da sie doch ihr Singen wirklich genossen hatte. Aber diese gelangweilten Frauenzimmer, die da drüben an allen Fenstern erschienen waren, teilweise in Nachtjacken, die hatten doch wirklich keinen Grund, den Sängern nichts zu geben, die hätten doch die Hand aufmachen können, die wurden doch auch heute nicht konfirmiert. Inzwischen stieg aus einer Droschke eine gelbe, aufgedunsene Person, die in das Haus des Notars Scheitelknecht ging, eines dicken, Mely nicht ganz geheuren Mannes. Sicher eine Witwe, dachte sie, die etwas mit einem Testament zu tun hat. Die Frau bewegte sich schwerfällig aus dem Wagen und ging in das Haus. Testamente waren für Mely etwas sehr Geheimnisvolles, sie wußte, daß die Großmama eines bei dem Notar Scheitelknecht gemacht hatte, und das paßte gut zu ihrer Art. Nach einiger Zeit wurde aus einer Wirtschaft, die in dem Hause des Notars war, dem Kutscher ein Glas Bier gebracht. Das Pferd zuckte in einem fort mit der Haut und schlug mit dem Schwanz, offenbar, um sich von Fliegen zu befreien. Plötzlich drang eine scharfe Sonne durch die schweren Wolkenballen, und Mely sah zu ihrer Erleichterung, daß es nun doch beinah neun Uhr geworden war. Sie konnte sich nun langsam fertigmachen, auf halb zehn waren die Wagen bestellt.

Mely fuhr mit der Mama, Hermann mit der Großmama in das Pfarrhaus. Ihr neues Kleid wurde ihr, je länger sie es anhatte, desto unbequemer, aber das erhöhte nur die Spannung, in der sie sich befand. In der muffigen Stube, wo sonst der Konfirmandenunterricht stattgefunden hatte, standen um den Christus von Thorwaldsen in Gips ein paar Lorbeerbäume. Dort versammelten sich auch heute die Kinder, in der einen Ecke die Mädchen in Weiß, in der anderen die Buben in Schwarz. Alle waren verlegen, es wurde wenig gesprochen. Dann gingen sie hinüber in die trübe, gotische Kirche, und dort wurde es auf einmal sehr schön. Unter der leisen Musik, die spielte, löste sich Melys gespannte Traurigkeit zu einem süßen, wehmütigen Gefühl. Sie kam sich in der grauen, gewölbten Kirche wie geborgen vor, und sie entdeckte entzückt, daß ein wirkliches religiöses Gefühl sie durchströmte, eine Welle, die sie leise in das Reich Gottes hinübertrug, aus dem sie nun niemand mehr vertreiben könne. Jetzt fühlte sie sich auch würdig, an den Altar zu treten. Erst wurden die Buben der Reihe nach gerufen. Jeder kniete, der Propst murmelte einen Spruch, und entblößte dabei jedesmal seine glänzenden falschen Zähne. Hermann mußte immer denken: »Da lächelt der König mit arger List.« Mely dachte sich, das dürfte stundenlang so gehen, ihr wäre es nicht zuviel. Nach den Buben kamen einige Paare an die Reihe, Brüder und Schwestern, die zusammen eingesegnet wurden, und dann die Mädchen allein. Hermann und Mely waren unter den Paaren. Sie bekamen den Spruch: »Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« Als der Propst Nothaft diesen Spruch scheinbar grinsend aussprach, zuckte Mme. Amelie Sanders sehr auffällig mit den Schultern, und ihr Gesicht hatte einen ablehnenden, mißbilligenden Ausdruck. Dann flüsterte sie etwas zu ihrer Schwiegertochter, die bloß mit einem ausdrucksvollen Blick ihr Einverständnis mit der alten Dame zeigte.

Mely hatte sich so sehr auf ihren Spruch gefreut, sie war neugierig darauf gewesen wie ein Kind, das einen Knallbonbon öffnet und wissen will, was für es auf dem kleinen Zettel geschrieben steht, und nun wählte dieser Propst Nothaft einen so altbekannten Spruch, den sie hundertmal gehört. Ueber seinen Inhalt hatte sie übrigens niemals nachgedacht und tat es auch jetzt nicht. Sie fühlte sich vollkommen ernüchtert. Die Kinder gingen nun zu ihren Angehörigen hinunter, die im Kirchenschiff saßen. Hermann blieb an dem Teppich hängen, der auf den Stufen lag. »Welcher Idiot mag den Teppich so dumm gelegt haben?« dachte er ärgerlich. Während man auf die Wagen wartete und er sich in einer Ecke hinter der Kirchentür unbeobachtet fühlte, ahmte er hinter dem vorgehaltenen Gesangbuch den grinsenden Gesichtsausdruck des Propstes Nothaft nach. Er hätte gern in einem Spiegel gesehen, ob es so richtig war.

Die Zimmer im Hause Sanders waren voll von Bekannten und Verwandten, auf zwei Tischen waren Geschenke für die Geschwister ausgebreitet, Bücher, Noten, Gebrauchsgegenstände. Zwei Tanten hatten je ein Exemplar von Gerocks Palmblättern geschenkt. Gegen Mittag kam schwitzend und dick der Notar Scheitelknecht herüber. Mit halb väterlichem, halb faunischem Lächeln seiner fleischigen Lippen überreichte er Mely ein eingewickeltes Buch. Sie entfernte das Papier: Gerocks Palmblätter. Der Notar, der stolz darauf war, wie gut er sich an christliche Gewohnheiten angepaßt hatte, versicherte den Umstehenden, das Buch sei das Beste, was man in diesem Genre habe.

Mely ging wie in einem Traum umher. Man beglückwünschte sie, sie wurde geküßt, alles war ihr sehr lästig. Sie fühlte starkes Kopfweh. Manchmal blickte sie zerstreut zum Fenster hinaus. Einmal sah sie, wie die gelbe Witwe, die sie früh gesehen hatte, mit einem aufgeregten Gesicht wieder aus dem Haus des Notars hervorkam, der ihr gerade vorm Tor begegnete. Sie sprach heftig auf ihn ein. Dann lächelte sie über etwas, was er sagte; schließlich beugte er sich zum Abschied mit schwerfälliger Liebenswürdigkeit zu ihr und roch an einem Veilchensträußchen, das sie an ihrem ungeheuren Busen trug. Zufrieden bestieg die Witwe ihren Wagen.

Auch Hermann war sehr einsilbig. Nach einer Stunde fand Mely ihn in seinem Zimmer sitzend. Er las in einer Reisebeschreibung, die er zum Fest bekommen hatte.

»Hier bist du?« sagte Mely erstaunt.

»Mir ist's da drin zu stumpfsinnig, alles ist überhaupt Schwindel, der liebe Gott und alles,« schrie er wütend.

»Aber Hermann!« rief Mely erschrocken.

»Und der alberne Spruch, den uns der Nothaft gegeben hat: wachet und betet.«

Dabei machte er dessen Grinsen nach und es gelang ihm so gut, daß die ohnehin heute nervöse Mely einen Todschrecken bekam.

»Ich weiß ganz genau, was er damit will, ich weiß, was er mit Anfechtungen meint, der alte Esel. Er soll einen doch in Ruh' lassen, was hat der einem denn zu sagen! Ach überhaupt, alles ist Schwindel.«

Mely war entsetzt.

»Und du hast dir auch die Rechte als Freundin ausgesucht, die Schlosser. Sehet die Lilien auf dem Felde, das ist ihr Spruch (wieder grinste Hermann auf Nothaftsche Weise), Hast du's gehört? Die alte Heuchlerin.«

»Du, Hermann, das ist nicht wahr,« sagte nun Mely entschieden, »sie ist keine Heuchlerin, Elisabeth ist meine Freundin, sie will Krankenpflegerin werden.«

»Krankenpflegerin? Da paßt sie auch dafür, weil kein Mensch die hochnäsige Gans anschaut.«

»Pfui, Hermann, wie gemein du bist,« rief Mely außer sich, »und noch am Konfirmationstag.«

»Ach, Konfirmationstag hin, Konfirmationstag her, ich sage dir ja, ich glaube keinen Pfifferling mehr.« Die Unterlippe schob sich trotzig vor und seine bleiche Hand ballte sich auf dem Tisch.

»Du glaubst nicht an den lieben Gott?«

»Nein, kein vernünftiger Mensch glaubt mehr daran, Goethe hat auch nicht daran geglaubt.«

Mely war wie versteinert.

»Ist das wahr?«

»Ich kann es beweisen.«

Die Kinder wurden gerufen. Die Bekannten verabschiedeten sich, dann ging man zu Tisch. Mely konnte kaum essen. Wenn Hermann recht hatte, dann waren alle ihre Selbstvorwürfe überflüssig gewesen, wenn er aber unrecht hatte, oh, dann war es eine große Sünde.

Nachmittags schlug die Großmama eine Spazierfahrt vor. Mely bestand darauf, wegen ihrer Kopfschmerzen zu Hause zu bleiben. Wenn ihr besser würde, ginge sie nachher noch ein wenig mit Lene aus. Als die anderen fort waren, rief sie das alte Dienstmädchen, umarmte sie und sagte:

»Lene, du mußt mir einen Gefallen tun, geh mit mir in den Wald.«

»Aber, Kind, warum bist du denn nicht mit der Großmama gefahren?«

»Lene, das kann ich dir nicht sagen. Komm, zieh dich an.«

Die Alt« gab dem Drängen des Kindes nach.

Die schon abendlich sich rötende Sonne fiel durch die harzig duftenden Stämme des Waldes, die im leichten Flor des Frühlings zu ergrünen begannen. Mely zwang Lenchen auf eine Bank am Waldrain, von wo aus sie über Aecker nach einem Dorf sahen, hinter dem die Sonne stand. Mely schmiegte sich an die Alte.

»Ach Lene,« sagte sie, »wenn ich doch nur wüßte, ob es einen lieben Gott gibt oder nicht. Was glaubst du?«

»Aber Melychen, natürlich gibt es einen, das wäre ja noch schöner! Wie kommst du nur auf solche Gedanken?«

»Der Hermann hat gesagt –«

»Ach, der Hermann, das ist ein ungezogener Bengel! Was weiß denn der!«

»Lene, ich merke, du weißt es auch nicht gewiß. Ach, wenn ich's nur wüßte!«

»Aber ganz genau weiß es niemand,« sagte Lene, »deshalb muß man es ja glauben

Mely fing an zu weinen.

»Ich bin so unglücklich, wenn es keinen lieben Gott gibt, dann will ich überhaupt nicht mehr auf der Welt sein.«

»Aber Kind, beruhige dich doch, was ist dir denn geschehen?«

»Nichts, Lene, laß mich ein bißchen weinen, es wird schon wieder gut.«

»Weißt du Lene,« sagte sie auf einmal, »manchmal kommt es mir vor, als ob der liebe Gott einen auch zu wenig schützt. Oft schießen mir Gedanken durch den Kopf, die ich selber gar nicht denke, aber ich kann nichts dagegen machen. Sie kommen immer wieder, aber es sind eigentlich gar keine Gedanken, es sind nur so ein paar häßliche Worte. Der liebe Gott wäre irgend etwas Böses und Schlechtes, und dann höre ich irgendein Schimpfwort, und ich glaube das ja selbst nicht, aber immer wieder kommt es, und dann heißt es, der liebe Gott ist – – nein, ich kann es gar nicht sagen.«

»Warum denn nicht?« fragte Lene beunruhigt.

»Weil ich es ja selber gar nicht glaube, und das ist das Schreckliche, ich glaube doch nur Gutes vom lieben Gott, und trotzdem ruft dann irgend etwas in mir dem lieben Gott ein Schimpfwort zu.«

»Was ist denn das für ein Schimpfwort?« fragt« Lene sehr neugierig.

»Muß ich dir das wirklich sagen?«

»Du kannst es mir ruhig sagen, Kind.«

Und nun flüsterte sie der Lene das Wort ins Ohr, das sie immer in ihrem Inneren hörte, ohne es selber zu wollen: Dreckige Sau. Die Lene bekam einen Todschrecken, als sie das hörte und machte dabei ein so verdutztes Gesicht, daß Mely ganz plötzlich laut auflachen mußte und sich vollkommen getröstet fühlte.

»Aber Mely,« sagte Lene, als sie wieder zu sich kam, »solche Sachen denkst du? Beim Hermann, da tät's mich nicht wundern, aber du . . .«

»Nein, Lene, nein, ich denke es ja gar nicht.«

Und nun war es an Mely, die sich wieder ganz überlegen fühlte, die Alte zu beruhigen. Die Nervenspannung, die in ihr war, hatte sich wieder vollkommen gelöst. Aber die alte Lene war aus ihrer Erstarrung gar nicht aufzurütteln. Die Sonne sank tiefer und schimmerte nur noch hinter dem fernen Kirchendach hervor. Die beiden saßen eine Zeitlang schweigend zusammen.

»Ich möchte nur wissen, was jetzt kommt,« sagte dann Mely.

»Was soll denn kommen?« meinte Lene, noch immer wie auf den Kopf geschlagen.

»Aber Lene, etwas muß doch endlich kommen, es kann doch nicht immer so weitergehen.«

Lene und Mely gingen in der Frühlingsdämmerung durch den Wald zurück. Auf einer Landstraße näherten sie sich der Stadt. Ueber eine Brücke rollte ein langer Eisenbahnzug mit erleuchteten Fenstern.

»Glaubst du, Lene, daß in dem Zug Schlafwagen sind?« sagte Mely, für die diese Einrichtung etwas Phantastisch-Geheimnisvolles hatte.

Man hörte Glocken läuten. Sie gingen durch die Gassen, in denen es dunkelte. In Läden und Zimmern zündete man Lichter an, und auf einmal wurde Mely ganz glücklich darüber, daß die Lene da war, und zu Hause die Mama und der Hermann und vielleicht auch noch die Großmama auf sie warteten. Aber dieser Tag war der schmerzlichste ihres Lebens gewesen.


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