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Die Großmama erschien um fünf Uhr, während Amélie mit Erich auf dem Tennisplatz war. Mme. Amelie Sanders hatte ihren pomphaften Tag.
»Denke dir nur,« sagte Frau Friederike schüchtern, während ihr die Schwiegermutter gepudert und in starrem schwarzen Seidenkleid am Teetisch gegenüber thronte, »Mely hat sich verlobt.«
»Comment?« schrie die alte Dame entsetzt auf, in dem sicheren Gefühl, daß hinter ihrem Rücken eine große Dummheit geschehen sei. Ihre Brauen hoben sich im Winkel.
Als sie Näheres erfahren hatte, sagte sie: »Das ist aber doch eine ganz unmögliche Geschichte, das sind ja vollkommen unsichere Verhältnisse.«
»Das habe ich mir auch gedacht,« erwiderte Frau Sanders scheu, »ich habe ihm deshalb auch keine bestimmten Zusagen gemacht.«
»Hat er denn schon um sie angehalten?«
»Ja, heute mittag. Ich habe ihm gesagt, ich müsse erst mit dir sprechen.«
»Wo ist denn Mely?« fragte die Großmutter etwas erregt.
»Sie sind auf dem Tennisplatz.«
»Wer sie?«
»Nun, Mely und der junge Mann. Was sollte ich machen? Er hat mich gefragt, ob er sie abholen dürfe. Sie sind doch sowieso immer zusammen dort gewesen. Er ist übrigens ein sehr netter Mensch.«
»Weißt du, Frédérique,« sagte die Großmutter in verhaltener Empörung, »ich könnte an deinem Verstand zweifeln. Entweder man sagt ja oder nein. C'est incroyable.«
»Aber ich mußte doch erst mit dir sprechen.«
»Inzwischen hätte der junge Mann das Haus nicht betreten dürfen.«
»Dann hätten sie sich eben heimlich getroffen.«
»Ah, en es-tu certaine? Es war deine Pflicht, das zu verhindern. Du bist doch sonst deiner Tochter immer so sicher gewesen.«
Frau Sanders fühlte sich unfähig, etwas zu antworten.
»Und was denkst du jetzt zu tun?« begann nach einiger Zeit die Großmutter.
»Ich weiß nicht,« lispelte Frau Sanders in völliger Unentschlossenheit und Ergebenheit.
»Nun, ich will es dir sagen. Du schreibst an den jungen Mann, daß bei näherer Ueberlegung uns seine Verhältnisse zu unsicher erschienen sind; von seiner Ehrenhaftigkeit erwarteten wir, daß er Mely nicht weiter belästigt. Sie sei übrigens für einige Zeit verreist. Ich werde sie heute abend mit zu mir nehmen.«
»Das arme Kind tut mir leid,« wagte Frau Sanders mit schüchternem Trotz zu sagen.
»Mir würde sie noch mehr leid tun als die Frau dieses jungen Windhundes.«
Gegen Abend kam Amélie zurück. Als sie die Großmutter sah, erschrak sie. Die alte Dame senkte plötzlich die Brauen, zog die Enkelin zu sich heran und sagte gütig:
»Hör' mal, mein Kindchen, wir waren da im Begriff, eine große, große Dummheit zu machen, das geht nicht. Was meinst du, wenn du ein bißchen mit der Großmama gingst und für ein paar Wochen bei ihr bliebst. Il faut oublier ces bêtises.«
Amélie empfand das wie Hohn. Sie wollte sich nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen, machte sich los von der Großmama, und hob ihr komisches, schmales Mädchenkinn.
»Du darfst das nicht wie eine Strafe auffassen, Kind, du sollst dich nicht langweilen bei mir,« fuhr die Großmutter fort, »wenn du dir z. B. eine Freundin einladen willst, so habe ich nichts dagegen.«
Amélie tat, als höre sie nicht. Sie hatte einen Auftritt erwartet, zu dem sie Mut in sich fühlte. Sie hegte den Plan, der Großmutter gegenüber endlich einmal reinen Tisch zu machen und ihr die ganze moderne Weltanschauung vorzutragen, die sich auf seelisches Verstehen und Menschentum gründete und alle veralteten konventionellen Urteile ablehnte. Nun war das durch den gütigen, auf gar nichts näher eingehenden Ton der Großmutter vollkommen unmöglich gemacht. Amélie ging mit trotzig vorgeschobener Unterlippe, kochend vor Wut, hinaus, schlug die Tür ein bißchen fester zu, als unbedingt nötig war, setzte sich in ihr Zimmerchen und schmiedete Fluchtpläne. Sie war nicht dazu zu bewegen, zum Abendessen herüberzukommen. Die Mutter wollte sie holen, aber die Großmutter meinte, vorausgesetzt, daß man in der Hauptsache fest bleibe, solle man in allen Kleinigkeiten ihren Willen tun, ihr auch keine Vorwürfe über Ungezogenheit und dergleichen machen. Das sei Nervosität, die wieder verginge.
»Aber das Kind verhungert ja,« meinte Frau Sanders.
»Ich werde sie schon wieder herausfüttern,« erwiderte die Großmutter lächelnd.
Dann machte sie selbst einige feine Brötchen zurecht, goß ein Glas Rotwein ein und schickte die Lene damit hinüber. Sie sollte Amélie fragen, ob sie noch etwas wünsche. Als Amélie die Lene eintreten hörte, schaute sie gar nicht auf.
»Aber Melykindchen, sei doch gescheit,« sagte die Alte.
»Ich gehe auf und davon,« rief Amelie in nervöser Erregung, »ich halte das nicht aus, diesen Zwang. Es ist eine Schande!«
Lene stellte das Essen neben sie, dann ging sie erschreckt und kopfschüttelnd hinaus. Nach Tisch mußte sie Melys Koffer packen. Während die Köchin einen Wagen holte, ging Frau Sanders zu Amélie und suchte sie zu trösten.
»Sieh mal, Kind,« sagte sie, »die Großmama hat eigentlich ganz recht. Baron Erich ist keine Partie für dich. Ein Mann muß eine sichere Stellung haben.«
»Eine Partie!« höhnte Amelie, »ich will gar keine Partie machen.«
Frau Sanders verstand diese Nuance nicht.
»Komm,« fuhr sie beruhigend fort, »mach' dich fertig, es ist Zeit zum Gehen.«
»Niemand bringt mich lebend hier fort,« rief Amélie plötzlich.
Frau Sanders erschrak über den ungewohnten Ton, und sie hätte sich ihm gewiß unterworfen, wäre nicht die Großmutter drüben im Wohnzimmer gewesen. So wußte sie, daß doch jeder Widerstand umsonst war.
»Aber Kind,« sagte sie, »mach' es mir doch nicht so schwer. Glaubst du, ich ließe dich zu meinem Vergnügen fortgehen und bliebe gern hier allein?«
»Ich bleibe bei dir, Mama,« schluchzte Amélie.
»Das geht nicht,« erwiderte Frau Sanders, »du darfst ihn jetzt nicht sehen, und ich weiß selbst, ich bin zu schwach, es zu verhindern.«
Nun hatte Amélie selbst Mitleid mit dieser eingestandenen Schwäche der Mutter und streichelte sie.
»Aber mit der Großmama kann ich nicht gehen, das ist unmöglich,« rief sie, plötzlich wieder das Kinn hochhebend.
»Tu es mir zuliebe, Kind, es beruhigt mich, wenn ich dich bei ihr weiß.«
Amélie fiel der Mutter um den Hals. Dann kam Lene, half ihr in die Jacke, die Köchin wollte indessen das Gepäck hinuntertragen, aber Amélie sagte mit weinerlicher Stimme:
»Einen Augenblick, Luise.«
Sie nahm aus einer verschlossenen Schublade der Kommode eine Schachtel Zigaretten mit Rosenblattmundstück und packte sie in ihre Handtasche, die sie der Köchin übergab.
Bald saß Amélie mit der Großmama im Wagen, der sie nach der Bahn brachte. Unterwegs sprach sie kein Wort, sondern machte ein sehr trotziges Gesicht. Als die Großmutter sie im Zuge bat, ein Fenster zu schließen, tat sie dies mit übertriebener Eile, als wolle sie ja keinen Anlaß zu Vorwürfen geben. Dann warf sie sich in die Ecke und sann vor sich hin.
Die Großmutter ließ ihr das Fremdenzimmer in dem Turm, wo sonst Kurt in den Ferien wohnte, schnell in Ordnung bringen und führte sie selbst hinauf. Das Treppensteigen, meinte sie, erhielte sie jung. Sie sagte, wenn Mely ein Zimmer in einem anderen Stockwerk besser gefiele, könne sie es morgen haben. Dann empfing sie von ihr die zwei üblichen französischen Wangenküsse und ließ sie allein in dem behaglichen Turmgemach.
Mme. Sanders konnte von ihrem Zimmer aus die Turmfenster sehen, hinter denen noch lange Licht brannte. Als es verlöscht war, schlich sie noch einmal im Schlafrock mit einer Kerze hinauf.
»Schläfst du, Mely?« fragte sie an der Tür.
Keine Antwort. Sie öffnete leise, ging auf das Bett zu und sah das sorglos schlummernde, etwas verweinte Kindergesicht zwischen den blonden Haaren. Sie beugte sich über sie und küßte sie leicht auf die Stirn. Dann schaute sie sie noch einmal nachdenklich an, und ein leises Lächeln kräuselte die Lippen der Mme. Amélie Sanders, als ob sie dächte: die Welt bleibt immer dieselbe, und die Rollen der Jungen und der Alten sind nun einmal nach einem unabänderlichen Plane verteilt. Mme. Sanders machte ihrer Enkelin das Leben so angenehm wie möglich. Sie ließ sie aufstehen, gehen und kommen, wann sie wollte, ermunterte sie zum Zeichnen, machte mit ihr Wagenfahrten, führte sie in den Tennisklub des Städtchens ein, wo sie mit einigen Engländern und Engländerinnen spielte. Die Großmutter beobachtete auch scheinbar Melys Briefwechsel nicht, aber der Briefträger war durch ein hohes Trinkgeld verpflichtet, alle, auch die für die Dienstboten ankommenden Briefe Mme. Sanders persönlich abzuliefern, die sie dann verteilte, als wäre das bei ihr immer so Sitte gewesen. Dem Schalterbeamten für postlagernde Sendungen, einem grauen, verhutzelten Männchen, machte die alte Dame einen Besuch und verlangte, daß ihrer noch minderjährigen Enkelin keine Briefe übergeben würden. Er machte sich eine Bemerkung in ein schmieriges Heft und sagte: »Es ist in Ordnung, Madame.«
Amélie pflegte anfangs bei Tisch kein Wort zu sprechen. Sie eilte nach der Mahlzeit so schnell wie möglich in ihr Zimmerchen und drehte zweimal lärmend den Schlüssel herum, als verfolge man sie. Nachts tat sie dies nicht, aus Angst, niemand könne hereinkommen, falls ihr etwas geschah. Sie schrieb stundenlang in ihrer unnatürlichen, steilen Schrift Briefe an Erich, die meisten zerriß sie wieder, manche schickte sie ab. Eines Tages ging sie auf die Post und fragte, ob Briefe mit der Chiffre A. M. O. da seien? Der alte, dürre Beamte sagte lächelnd nein, schrieb die Chiffre in das schmierige Heft und sagte, er würde etwa noch ankommende Briefe in die Wohnung des Fräuleins zu ihrer Frau Großmama schicken. Amélie fühlte einen plötzlichen Schlag, als müsse sie umstürzen. Sie schrieb noch auf der Post schnell an Erich, er solle ihr um Gottes willen nicht mehr postlagernd schreiben, sie sei von Spionen umgeben. Sie kochte vor Wut, und was sie am meisten empörte, war dies: man vermied alle Gelegenheit, ihrem Zorn eine Berechtigung zu geben. Die Großmutter hatte ihr noch nicht das kleinste unliebenswürdige Wort gesagt oder auch nur eine unzufriedene Miene gezeigt. Das Vorgefallene, der Grund, warum sie hier war, wurde mit keiner Silbe berührt. Sie hörte keinen Tadel, und wenn sie absichtlich, um einen Vorwurf herauszufordern, zu spät zu einer Mahlzeit erschien, wurde ihr nachserviert, wie im Gasthof. Dann saß ihr die Großmama, die schon gegessen hatte, mit dem Figaro gegenüber und unterhielt sie mit einer Nachsicht, als sei sie eine Genesende.
Hie und da rief sie dem Amélie mit größter Aufmerksamkeit bedienenden alten Lorrain ein andeutendes Wort zu, das dieser immer mit einem verständnisvollen »Très bien, Madame« beantwortet«.
»Est-ce que Mademoiselle désire le café tout de suite ou à quatre heures?« fragte er.
»A ma chambre«, antwortete Mely kurz ... »tout de suite.«
Sie ärgerte sich über Lorrains Dienstfertigkeit und argwöhnte, er sei mit der Großmutter im Einverständnis. Dafür gewährte ihr der Gedanke Genugtuung, daß sie nun beim Kaffee in ihrem Zimmer eine verbotene Zigarette mit Rosenblattmundstück rauchen würde.
Bald schlug die Großmutter ihr vor, eine Theatervorstellung zu besuchen, bald war irgendwo ein Gartenfest, oder ein Geschäft veranstaltete einen verlockenden Ausverkauf. Der ohnmächtige Zorn gegen diese Freundlichkeit erfüllte Amélie so sehr, daß der Anlaß zu alledem, ihre verbotene Liebe, in ihrem Inneren fast zurücktrat. Erst als sich ihre Wut zu legen und sie das Behagen des neuen, sie verwöhnenden Daseins zu genießen begann, kamen zugleich Stunden der Sehnsucht. Sie sah dann Erichs Lippen und Zähne und war oft unglücklich darüber, daß er sie nicht genug geküßt hatte, sondern nur an diesem einen Nachmittag, während der Regen um die Laube niedertroff. Gleichzeitig aber empfand sie auch immer mehr das Verderbliche, das in ihm lag. Wer weiß, wohin er sie noch mit sich gerissen hätte! Sie wußte, daß sie ihm gegenüber widerstandslos gewesen wäre. Er taugte nichts, das glaubte sie nun selbst, wenn sie an seine Verhältnisse dachte, aber dann gab sie sich wieder mit geschlossenen Augen der Erinnerung an seine bestrickende Art hin. Und warum mußte man denn durchaus etwas taugen? fragte sie sich. Wir leben doch alle auch so, und wenn man sich liebt, ist alles andere gleich. Manchmal mußte sie auch über den Dackel lachen, der den Baron während seiner Liebeserklärung beschnuppert hatte.
Lea Knapp wurde eingeladen und erschien an einem schon fast herbstlichen, sonnigen Nachmittag. Amélie holte sie von der Bahn ab.
Mme. Sanders schickte den beiden Mädchen den Fünfuhrtee hinauf in das Turmzimmer, in der Annahme, daß sie sich erst allein aussprechen wollten. Lea wußte nicht, warum Amélie so plötzlich die Stadt verlassen hatte; sie brachte diese Tatsache gar nicht in Zusammenhang mit dem Baron Wietersheim, dessen offensichtliche Neigung für Amélie ihr freilich, wie allen von der Tennispartie, bekannt war. Die erste Neuigkeit, die sie daher ahnungslos erzählte, war die, daß der Baron riesige Schulden gemacht habe und ein Wucherer sich schon an seine Bank wenden wollte, als noch rechtzeitig die Familie helfend eingegriffen hatte. Es stecke übrigens eine Brettelsängerin dahinter, mit der der Baron die letzten Wochen jede Nacht bis zum frühen Morgen an allen möglichen Orten herumgebummelt sei und Champagner getrunken habe. Lea, die dies alles von ihrem Bruder, einem Rechtsanwalt, wußte, erzählte mit großer Sachkenntnis und Genauigkeit, ohne zu ahnen, wie ihre Worte Amélie erregten.
Die beiden Mädchen wurden zu Tisch gerufen. Die Mahlzeit verlief ruhig in belanglosen Gesprächen. Mme. Sanders empfing von Lea einen im ganzen nicht ungünstigen Eindruck, als von einem gescheiten jungen Mädchen, in dem offenbar der Verstand das Empfindungsleben lenkte. Das erschien ihr für Amélie gerade im Augenblick ein nützliches Beispiel. Mit ihren Ansichten hielt Lea der alten Dame gegenüber aus instinktiver Achtung vor deren Lebenssicherheit zurück.
An diesem Abend lag Amélie lange wach im Bett. Sie hatte die erste große Enttäuschung erfahren und war dadurch zum ersten Male zum Nachdenken über sich selbst und zu einer Bewußtseinsklarheit gelangt, wie sie sie früher nicht gekannt. Die Liebe war offenbar nicht das, was sie geglaubt hatte, und so wenig sie auch jetzt noch geneigt war, ihr einstiges, kindliches Erlebnis mit Erwin ernst zu nehmen, so kam sie doch jetzt unwillkürlich dazu, sich der Enttäuschung zu erinnern, die auch damals ihren Küssen gefolgt war. Mit Bitterkeit nahm sie sich vor, sich von jetzt ab in acht zu nehmen und mißtrauisch zu werden. Sie hatte doch nur das Beste gewollt; er, der Mann, war schuld an der Enttäuschung, und nun begann sie, sich selber leid zu tun. Sie sah sich wieder als Kind, wie gut sie es gehabt und wie sie von allen Menschen nur Liebes und Schönes erwartet und empfangen hatte und sie bereute, dadurch, daß sie sich hatte küssen lassen, ihre Reinheit zum Opfer gebracht zu haben. Sie kam sich verarmt vor. Sollte sie sich Lea anvertrauen? In ihrem Innern wehrte sich etwas dagegen. Lea würde ihre Gewissensbisse nicht verstehen und glauben, daß sie aus »moralischer Rückständigkeit« bereute. Aber das war Amelie in ihrem noch unbetrogenen Instinkte doch klar, daß es sich um etwas ganz anderes als äußerliche Moral handelte, vielmehr um einen tiefen, aus ihrer unberührten Natur herauskommenden Ekel vor dem, was geschehen war. Sie hatte nun wirklich etwas durchgemacht, und darum vermochte sie sich Lea nicht anzuvertrauen, die nur mit Begriffen und Worten spielte.