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Am nächsten Sonntag klingelte Amelie um halb fünf Uhr bei Frau Oesterot. Sie war zum jour fixe eingeladen, sollte aber schon früher kommen, damit ihr erspart bliebe, unbekannt in eine fremde Gesellschaft zu treten. Oesterots bewohnten ein helles, geräumiges Stockwerk in einer breiten Straße, wo die Kastanienbäume bereits ihr dichtes Frühlingslaub entfalteten. Frau Thea empfing Amelie. Während sie außer dem Hause unauffällig im Rahmen der Mode gekleidet war, gab sie sich daheim ganz den Eingebungen ihres Geschmackes und ihrer Launen hin. In einem stahlblauen Gewand von körniger Seide, das ihre runden Glieder zwanglos umfloß, sah man erst, wie schön Thea war. Wie alle wohlgeratenen Frauen wurde sie durch nichts mehr gehoben, als durch die Luft des eigenen Heims, das ihr die Sicherheit gab, lebhaft und fröhlich zu sein. Draußen war sie immer etwas gehalten und verschlossen. Dr. Oesterot trat ein, ein ungewöhnlich großer Mann mit vollem Körper und langem, gepflegtem, schwarzem Bart. Ueber seinen braunen, sinnenden Augen erhob sich eine sehr weiße und hohe Stirn, oberhalb deren sich das Haupthaar schon ein wenig lichtete. Seine Lippen waren schwer und üppig, aber wohlgeformt, wie auf den Köpfen antiker Götter mit orientalischem Einschlag, etwa des Serapis. Amélie hatte bisher die übliche Abneigung der heutigen Mädchen gegen sogenannte schöne Männer gehabt, aber hier empfand sie zum erstenmal eine Vereinigung männlicher Schönheit mit dem Ausdruck hoher Ueberlegenheit. Die Verwirrung, in welche diese beiden lichten, sicheren Menschen sie versetzten, war süß und traumhaft. Ringsum standen seltene Gegenstände, eine vergoldete indische Buddhafigur, ein Marmortorso, schön gebundene Bücher in Gestellen aus weißem Holz, bequeme, mit buntem Leder bezogene Sessel. Amélie hörte kaum, was gesprochen wurde, und dennoch wußte sie Antwort auf alles. Sie glaubte zu schweben. Ohne Anstrengung, ohne Nachdenken glitt das Leben weiter in einer ihr bisher unbekannten, geistigen Art. Doktor Oesterot nannte sich einen halben Landsmann von ihr; er war Rheinländer. Er sprach ein wenig von der Universität, wo er einige Vorlesungen hielt über die Grenzgebiete der Kunst und Psychologie. Sonst wurden die üblichen Fragen und Antworten getauscht über das Leben in München und in anderen deutschen Städten. Hier lebe man gewissermaßen wie in einer Fremdenkolonie, fern von Familienrücksichten, jeder nach seinem Geschmack und nach seinen Möglichkeiten. Aus der Art, wie das Ehepaar zu ihr sprach, fühlte Amélie etwas wie eine Ermutigung zum Leben, obwohl sie weder neue, noch besonders tiefe Ansichten miteinander tauschten. Sie fühlte sich anerkannt, gebilligt in ihrem Wesen, ohne daß man ihr geradezu Lobsprüche sagte. Alle Hemmnisse des kleinlichen Alltagslebens waren vergessen. In dieser Luft mußten sich ja Geist und Seele zur höchsten Blüte entfalten. Sie saß da in ihrem schwarzen Kreppkleid, das sie etwas bleich erscheinen ließ und das goldene Haar besonders stark zur Wirkung brachte, und sog den Reiz der Umgebung ein.
Während ihr Frau Thea eine Tasse Tee reichte, öffnete sich eine Tür, und es trat ein Mensch herein, dessen Anblick Amélie fast erschreckte: auf einem etwas untersetzten Körper ein ungewöhnlich mächtiger Kopf mit so starken Zügen, wie sie Amelie bisher nur auf Kupferstichen der Vergangenheit gesehen hatte, die berühmte Männer darstellten. Die dunkle Haut war straff über die etwas vorstehenden Backenknochen gezogen, so daß man an Erzbüsten der Renaissance denken mußte. Ein dünner, fast greisenhafter Mund stand im Gegensatz zu den noch jugendlichen Augen und dem starken, braunen, nach rückwärts gestrichenen Haar. Der Eintretende machte eine kurze Verbeugung vor den beiden Damen, sprach einige Worte mit Dr. Oesterot, den er mit dem Vornamen »Philipp«, doch »Sie« anredete, und verschwand dann mit ihm im Nebenzimmer. Frau Oesterot erklärte Amelie, das sei Friedrich Wartegg gewesen, ein einsam im Gebirge lebender Dichter, der nur noch selten in die Städte komme und sich dann im engen Kreise auserwählter Freunde bewege. Amélie kannte seinen Namen wohl; er besaß eine besondere Art von Berühmtheit. Jeder wußte den Namen dieses Mannes, der seiner Zeit aus dem Weg zu gehen verstand, und dessen Werke sich doch an die reifsten Geister der Zeit wendeten. Die meisten Menschen hatten nichts von ihm gelesen, taten ihn ab mit den Worten, er sei »zu hoch« für sie, aber sprachen von ihm mit verwunderter Hochachtung, wie von einem unwirklichen Wesen. Gerade ihn kennenzulernen, wäre Amélie bisher am unwahrscheinlichsten erschienen, dann noch eher Gerhart Hauptmann oder Sudermann, so romantisch entrückt auch diese beiden Persönlichkeiten für sie waren.
Frau Oesterot sprach von einem sommerlichen Gartenfest, das sie nächstens zu Ehren des Dichters geben wollten. Es sollte gewissermaßen einem Jugendtraum von ihm für einige Stunden eine flüchtige Wirklichkeit verleihen. Sein vor zwanzig Jahren nur für die Freunde erschienener Gedichtband »Symposion« würde die Anregung geben. Dort war von antiken römischen Gärten die Rede, von schwarzem Laub, unter dem schlanke Epheben mit schleierverhüllten Mädchen auf dem Rasen tanzten, von klaren Wasserbecken, in die sich die von Wein Trunkenen stürzten, von Gastmählern im gemeinsamen Genuß entzückter Männer und Frauen. Es sei sehr schwer, meinte Frau Thea, die Gäste zu einem solchen Fest zu finden, da man sich ebenso fern halten wolle von der platten Lustigkeit der Künstlergelage, wie von der philisterhaften Wohlanständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Amélie hörte nur zu. Jedes Wort zog sie tiefer in eine seltsame Welt von Wundern hinein.
Die ersten Gäste des Jours traten ein und riefen Amélie wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Sie hielt sich in der Nähe der sie freundlich bemutternden Hausfrau, die ihr die meisten der Ankommenden erläuterte. Ein rothaariges Wesen von starrer, bleicher Schönheit stürzte sich auf Thea. Amélie konnte seine Sprache kaum verstehen: ein Gemisch seltsam übertriebener Ausdrücke und grammatischer Fehler in einem bald abstoßenden, bald reizvollen, fremdländischen Tonfall.
»Oh, wie soll ich Ihnen danken, liebe Frau,« rief sie, »meine trunkene vor Glick Selle hat Ihnen gestern den ganzen Tag zugejauchzt. Oh, liebe Frau, Sie missen das gefiehlt haben, aber zum Briefschreiben hatte ich nicht Kraft.«
Amélie erkannte zu ihrem Erstaunen, daß dieses Mädchen ein Kleid trug, in dem sie Thea noch in der vorigen Woche in der Malschule gesehen hatte. Thea erklärte Amélie, das Fräulein sei eine junge russische Studentin, die »von nichts« lebe und es auf. rätselhafte Weise fertig bringe, Hochschulen zu besuchen und sich zu bilden. In ihr sei die Seele einer Dichterin, die sich eines Tages befreien müsse. Vorläufig suche sie noch ziellos umher, bald in der Religion, bald im Anarchismus, bald im werktätigen Handeln.
»Ob, nichts, nichts, ich sage Ihnen gar nichts,« hörte man Katja in einer Gruppe ausrufen, »ganze Dörfer haben von nichts gelebt, nur die Trunkenheit ihrer Sellen hat die Leute aufrechterhalten.«
Sie sprach über die russische Revolution von 1906.
Mehrere bartlose junge Menschen mit teils ungewöhnlich hübschen Gesichtern und in sorgsamer Kleidung standen umher. Einer überreichte Frau Thea ein schlankes, in Pergament gebundenes Buch, seine eben erschienenen Gedichte: »Die Gärten von Rhodos«.
Ganz im Gegensatz zu dieser ästhetischen Welt stand ein kleiner, etwas verwachsener Mensch mit grünlichem, lederartigem Gesicht und kalmückisch herabhängenden Schnurrbartenden, in altmodischem Stil gekleidet: Gehrock, Umlegkragen und feste schwarze Seidenhalsbinde; er begrüßte Frau Thea in jener etwas banalen Liebenswürdigkeit der kaum vergangenen Zeit.
»Wie steht das werte Befinden, schöne Hausfrau?« sagte er und überreichte ihr ein paar Blumen.
Frau Thea erklärte Amélie lächelnd, dies sei Woldemar Susemil, ein Musiker, einer der komischsten Leute, die es gäbe, dem es oft genug schlecht gegangen sei, den aber sein Witz immer wieder gerettet habe. Im Sommer lebe er in großen Schweizer Gasthöfen, er verstünde es, sich durch seine geselligen Talente, seine Musik – eine Besonderheit von ihm war der sogenannte musikalische Ulk – so beliebt zu machen, daß ihn die Wirte schließlich ohne Bezahlung dabehielten und ihn als Attraktion benutzten. Nachmittags schickte der Musiker die Gäste meist auf von ihm zusammengestellte Ausflüge in die Berge, und so fand er Zeit, seine seltsamen Lieder zu komponieren und seine Schnurren zu schreiben. Er sei eine E. T. A. Hoffmann-Natur und heute zum erstenmal auf einem Oesterotschen Jour.
Woldemar Susemil war es in diesem Augenblick gelungen, die Unterhaltung an sich zu reißen, und er erzählte mit einer etwas gewöhnlichen Witzigkeit, auf Kosten der eigenen Würde, aus seinem Leben:
»Wissen Sie, wie Sie mir hier alle miteinander vorkommen? Wie Kinder. Das ist ja hier das reine Paradies: lauter feine, ästhetische Menschen, denen es allen viel zu gut geht, als daß sie niederträchtig werden könnten.«
»Oh, sagen Sie das nicht,« rief plötzlich Katja; ihre fieberhaften Augen flammten, und die bläulichen Lippen zuckten in dem bleichen Gesicht.
Susemil drehte sich um und rief erstaunt und onkelhaft: »Himmel, da ist ja auch die Wasserleiche! Wie kommst du denn hierher, Katja?«
Alle erstarrten bei dieser Begrüßung.
»Wasserleiche? Wasserleiche?« flüsterte man erstaunt.
Der Musiker, der nie die Galanterie vergaß, erklärte sofort:
»Diese junge Dame ist das interessanteste Weib unserer Zeit.«
»Was war denn das mit der Wasserleiche?« fragte jemand.
»Das ist ein Kosewort,« rief Woldemar Susemil, »womit wir sie im Caféhaus benennen. Nicht wahr, Katja, das nimmst du uns doch nicht übel?«
»Aber wo denkst du hin, Woldemar, wir sind doch freie Menschen.«
»Sehen Sie,« fuhr der Musiker fort, »Katja und ich, wir haben den Hunger und die Not gekannt. Ich bin ein Kind kleiner Leute von der polnischen Grenze.«
»Sind Sie eigentlich Jude?« unterbrach eine schnarrende, etwas anmaßende Herrenstimme.
»Jude?« erwiderte Susemil mit Gelassenheit, »viel schlimmer, ich bin Tartar.«
Und dann erzählte er weiter, wie er als Kind gebettelt habe, bis sein musikalisches Talent entdeckt worden sei, wie er zwischen vierzehn und siebzehn Jahren, wo andere Leute sich Ideale anschaffen, mit ein paar fahrenden Musikanten in russischen Freudenhäusern die Nächte durch musiziert habe.
»Langsam habe ich mich emporgearbeitet, Stunden gegeben, mir durch Kompositionen einen Namen gemacht, und heute sitze ich am selben Tisch mit Richard Strauß und Eugen d'Albert. Sehen Sie,« rief er aufstehend, mit seiner knochigen Hand an die etwas höckerige Brust schlagend, »was ich als Künstler wert bin, das weiß ich selber nicht, aber eins weiß ich: wenn ich heute als Leiche gelandet würde, stünde in den Zeitungen: ein den besseren Ständen angehöriges Individuum ist ertrunken aufgefunden worden. Das ist mir nicht an der Wiege gesungen worden.«
Es trat eine Stille ein, teils des Entsetzens, teils der Demütigung durch einen Menschen, der das Leben so bitter geschmeckt hatte. Woldemar Susemils Lippen kräuselten sich zu einem befriedigten Lächeln. Er verbeugte sich mit derselben Förmlichkeit wie vorhin und sagte:
»Unsere schöne Wirtin muß mich beurlauben; die Destiny ist auf der Durchreise hier und erwartet mich im Bayrischen Hof.«
Es wollte nach dem Aufbruch des Musikers kein rechtes Gespräch in Gang kommen. Plötzlich hörte man aus einer Ecke, wo sich eine Gruppe gebildet hatte, ein halb unterdrücktes, tierisches Brüllen. Ein Sänger erklärte, wie ihm die Wagner-Schule die Stimme verdorben habe; Woldemar Susemil lehre ihn, wie man sie wiedergewinnen könne. Man müsse nämlich tun, als habe man überhaupt nie eine Stimme, ja keine artikulierte Sprache gehabt. Man fängt mit tierischen Naturlauten an, mäßigt und verfeinert sie durch langsames Ueben so lange, bis die gesunde Tonbildung des Gesanges entsteht.
In einer anderen Ecke sprach man heftig über die Frauenfrage. Die Baronin Wernitz, eine beherzte, ergrauende Dame mit etwas lebhaften Farben in dem lustigen Gesicht – eine geschickte Bildnismalerin, wie Frau Thea Amélie erklärte –, sagte unumwunden, am besten seien die Mädchen des kleinen Bürgerstandes dran. Sie gingen einfach in ein Geschäft, machten sich dadurch vom Hause unabhängig und fänden dann schnell einen Schatz, der ihnen für das Vergnügen sorgt.
»Aber wenn er sie sitzen läßt?« fragte Frau Thea.
»Na, dann finden sie eben einen anderen,« antwortete die Sprecherin vergnügt, »darum ist mir nicht bange.«
Die Baronin hatte immer eine natürliche Antwort bereit und das fiel unter diesen gewundenen oder verbogenen Geistern als Originalität sondergleichen auf, so daß sie zu ihrer eigenen Verwunderung in den Ruf kam, geistreich zu sein.
»Ach, ich finde das doch schrecklich,« sagte ein mageres, zartes Fräulein von etwa dreißig Jahren mit strengem Gesichtsausdruck, »es ist zu schade, daß diese Mädchen in den Geschäften nicht die nötige Kultur besitzen, um ihre Triebe umzusetzen.«
»Umzusetzen?« wiederholte die Baronin laut lachend, »etwa in Kunstgewerbe oder Buchschmuck? Das haben diese gesunden Mädels, Gott sei Dank, nicht nötig.«
Frau Thea erklärte Amélie, die dünne junge Dame sei noch vor kurzem strenggläubige Christin gewesen, aber jetzt ausgesprochene Gottesleugnerin.
»Wissen Sie, wie sie dazu geworden ist?« sagte die lustige Baronin, die eben zu Frau Thea herangetreten war. »Als sie erfuhr, woher die kleinen Kinder kommen –, und das ist noch gar nicht lange her –, wollte sie es nicht glauben in ihrer Frömmigkeit. So etwas, dachte sie, würde ›mein Herr Jesus‹ nie zulassen. Nachdem sie sich aber dann der Wahrheit nicht länger verschließen konnte, und sah, wie unanständig die Welt eingerichtet ist, da ist sie aus Ekel Atheistin geworden.«
»Sie sind boshaft, Baronin,« lenkte Thea ein, »ich finde, sie ist ein rührendes Geschöpf in ihrem Streben. So hat sie z. B. immer sagen hören, die Frauen hätten keine Logik. Um dem abzuhelfen, hat sie sich nun die ›Logik‹› von Lipps gekauft.«
»Und hat ihr das geholfen?« fragte die Baronin lachend.
In diesem Augenblick hörte man das strebsame Geschöpf zu einem schwarzlockigen Knaben sagen:
»Also Sie geben zu, daß die Frauen Menschen sind?«
Er gab es zu.
»Nun, dann müssen Sie auch die Schlußfolgerung dieses Vordersatzes zugeben, daß die ihnen einseitig auferlegte Mutterschaft eine schreiende Ungerechtigkeit ist.«
»Juvenal hat gesagt,« warf Dr. Oesterot lächelnd ein, »daß er lieber in einer Schlacht stehen, als ein Kind gebären wolle.«
»Sehen Sie,« rief das Fräulein entzückt, »habe ich nicht recht? Ist es nicht logisch, was ich sage?«
Während die Gäste kamen und gingen, führte Dr. Oesterot bisweilen einzelne ins Nebenzimmer zu seinem Freunde Wartegg, der sich nicht gern unter vielen Menschen bewegte.
Das Gespräch über die Frauenfrage nahm seinen Fortgang. Als Oesterot nach einiger Zeit wieder hereintrat, forderte man ihn auf, seine Ansicht zu sagen.
»Frauenfrage,« meinte er lächelnd, »warum will man denn aus den Frauen durchaus eine Frage machen?«
»Nein, Sie dürfen uns nicht ausweichen,« rief eine Frau aus dem neuneckigen Halsausschnitt ihres Reformkleides heraus, »Sie sollen einmal Farbe bekennen.«
Oesterot lächelte, nahm ein altes Buch von dem Gestell und sagte:
»Ich will Ihnen lieber etwas aus dem Westöstlichen Diwan vorlesen.«
Er las Mahomeds Schilderung des Huriparadieses:
»Und nun bringt ein süßer Wind von Osten
Hergeführt die Himmelsmädchenschar;
Mit den Augen fängst du an zu kosten,
Schon der Anblick sättigt ganz und gar.
Führen zu Kiosken dich und Lauben.
Säulenreich von buntem Lichtgestein,
Und zum edlen Saft verklärter Trauben
Laden sie mit Nippen freundlich ein.
Eine führt dich zu der anderen Schmause,
Den sich jeder äußerst ausersinnt,
Viele Frauen hast und Ruh' im Hause,
Wert, daß man darob das Paradies gewinnt.«
Oesterot las mit tiefer, entzückter Stimme. Manchmal strich er sich durch den weichen blauschwarzen Bart. Bei der letzten Strophe hatte er unbefangen den Arm um die Schultern Amélies gelegt, die neben ihm stand. Alle übrigen saßen lauschend zu seinen Füßen; Frau Thea sah mit ruhigen, sinnenden Blicken zu ihm auf. Er hatte das törichte, zwecklose Reden von den Dingen wie durch Bezauberung überflüssig gemacht. Alle standen unter seinem Bann, obwohl kaum eine der anwesenden Frauen überzeugt worden wäre, wenn er das, was er jetzt durch die Stimmung äußerte, in logischen Sätzen und kategorischen Forderungen ausgesprochen hätte. Niemand wagte mehr, ein neues Gesprächsthema zu beginnen. Man redete noch ein wenig halblaut miteinander, dann brach man in einer angenehmen, versöhnlichen Stimmung auf.
Amélie kehrte heim in einem Gefühl, als sei sie im Paradies gewandelt.