Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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2

Zweimal in der Woche ging Mely in den Konfirmandenunterricht bei dem Propste Nothaft. Ohne zu wissen, warum, nahm sie das doch etwas ernster als die Schule. Die Lehrer waren Menschen, für die man Schwärmerei oder Spott hegte. Was aber dieser ältliche, hüstelnde Mann mit den dünnen Lippen sagte, die sich oft wie Deckel eines Etuis über einer überraschenden Perlenkette falscher Zähne auseinanderschoben, das klang so weltfern und außermenschlich, daß sie ihm ehrfürchtig zuhörte, wenn er mit seinen dicken Zugstiefeln vor den Sitzreihen in der langen kahlen Stube auf und ab ging. Sie mußte ihm innerlich recht geben, daß er den Mädchen Flatterhaftigkeit, Eitelkeit und weltlichen Sinn vorwarf, und auf die Pflichten der Nächstenliebe, besonders gegen die Armen, hinwies. Aber der Gedanke, daß man nach diesen schönen Worten sein Handeln wirklich einrichten könne, war ihr niemals gekommen. Was sie hier Erbauliches hörte, gefiel ihr, aber es gewann nicht die mindeste Wirkung auf ihr Leben, während sie draußen war. Sie hatte sozusagen eine platonische Liebe zu allem Guten; so kam sie nicht ungern in den Konfirmandenunterricht und unterwarf sich willig dem augenblicklichen Bann, den die Atmosphäre der ärmeren und ganz armen Mädchen aus Mittel- und Volksschule auf sie ausübte, ja, sie scheute nicht einmal so sehr den dumpfigen Kleineleutegeruch, den jene ausströmten, denn sie empfand ihn als Gegensatz zu ihrer eigenen, heiteren Welt und ihn einzuatmen ein bißchen als Sühne dafür, daß es ihr sonst so gut ging. So schlimm aber war diese Sühne nicht, daß sie darunter ernstlich gelitten hätte, und darum fand sie es in der Ordnung, ja angenehm, sie auf sich zu nehmen.

Die Bevorzugte des Pfarrers, Elisabeth Schlosser, die wohl auch außerhalb des Unterrichts in seinem Hause aus- und einging, machte auf Mely einen großen Eindruck. Sie war ein ernstes, schon ziemlich entwickeltes Mädchen von etwas breiter und gedrungener Gestalt. Das glatt gescheitelte Haar über einem nicht unregelmäßigen, aber gar nicht reizvollen Gesicht gab ihr den Anschein einer angehenden Krankenpflegerin. Der dünne Mund war herb und sprach von Pflicht und Verantwortlichkeitsgefühl, das vielleicht frühe Lebenserfahrungen in ihr entwickelt haben mochten, aber die braunen Augen waren doch nicht ohne eine gewisse Sanftheit. Sie gab rasche und knappe Antworten. Mely betrachtete sie immer wie ein Ideal (so drückte sie sich aus), obwohl sie in eine geringere Schule ging als sie.

Eines Tages verließen Elisabeth und Mely zusammen das Pfarrhaus. Elisabeth fragte ein klein bißchen von oben herab:

»Wo gehst du jetzt hin?«

»Schwimmen. Und du?«

»Ich will eine arme Familie besuchen gehen.«

Mely wurde etwas verlegen.

»Unsere frühere Aufwärterin«, fuhr Elisabeth fort, »hat sich wieder verheiratet, jetzt ist der Mann im Spital und sie sitzt mit zwei kleinen Kindern da.«

Mely fühlte, daß sie jetzt irgend etwas sagen müsse.

»Wir haben ein Mädchen schon seit Mamas Hochzeit und die ist immer noch bei uns.«

»Das ist schön,« erwiderte Elisabeth, »aber die meisten meinen eben, sie müßten unbedingt heiraten, dann läßt das Unglück nicht lange auf sich warten.«

»Schrecklich dumm eigentlich,« meinte Mely aus tiefster Ueberzeugung, und sie kam sich außerordentlich erwachsen vor, denn mit niemand hatte sie bisher in dieser Art über Dienstboten gesprochen.

»Wenn ihr zu Haus alte Kleider habt oder hie und da etwas übriggebliebenes Essen, dann wäre ich dir sehr dankbar, wenn du es mir für die arme Frau geben wolltest.«

»Ach ja,« rief Mely plötzlich, wie befreit von dem Druck, den das zu ernste Gespräch auf ihr nicht an dergleichen gewöhntes Gemüt ausgeübt hatte.

Der Gedanke entzückte sie, sich auf diese Weise tätig zu sehen. An so etwas hatte sie noch gar nicht gedacht.

»Sicher haben wir alte Sachen und auch etwas zu essen. Ich will es der Mama gleich sagen, dann schicken wir die Lene hin.«

»Bring's doch selbst,« sagte Elisabeth streng, »hier sind wir übrigens angekommen.«

Sie blieb vor der Tür eines ärmlichen Hauses stehen, dessen graue Mauern auch in diesen Frühlingstagen nicht ganz trocken wurden.

»Willst du gleich einmal mit hereinkommen?« fragte Elisabeth prüfend, als überlege sie, ob Mely eine für ihre Zwecke geeignete Persönlichkeit sei.

Mely ging mit. Sie zitterte, so etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie folgte Elisabeth durch einen Hof. In einem dunklen Raum schlug ein Schmied glühendes Eisen, im Freien arbeitete ein Schuster. Es roch aus verschiedenen Küchen nach gekochtem Kohl. Sie gingen eine enge, gewundene Treppe hinauf.

Oben wurde die Luft immer dumpfiger. Elisabeth klopfte in der Dunkelheit an eine Holztür. Mely mußte den Atem anhalten. So unangenehm ihr manches hier war, sie fühlte sich wie im Märchen und hätte sich nicht gewundert, wenn hinter der Tür eine alte Hexe am Spinnrocken gesessen wäre. In dem Raum stand eine dürftig angezogene Frau vor einem Kochofen, ein Kind spielte am Boden, ein anderes war in eine Kiste geklemmt. Auf einem schmutzig überzogenen Sofa, das wohl gleichzeitig als nächtliche Lagerstätte diente, häufte sich allerlei ärmliches Zeug. Elisabeth sprach mit der Frau, die zwar fast unterwürfig, aber so grobe Mundart redete, daß Mely kaum ein Wort verstand. Sie mußte sich erst an die ungewohnten Eindrücke gewöhnen. Dann rief sie aus:

»Ach Gott, wie süß ist doch das Kleine!«

Sie hob eine Rassel vom Boden und spielte mit dem schmutzigen Kind in der Kiste. Elisabeths Zeit war knapp bemessen. Sie sagte, sie müsse noch in andere Häuser gehen. Beim Abschied erinnerte sie Mely daran, die arme Frau ja nicht zu vergessen.

Als Mely nach Hause kam, erzählte sie gleich der Mutter das Geschehene. Frau Sanders war gerne bereit zu helfen. Am Nachmittag trug Lene die Sachen zu der Frau. Mely ging mit, aber sie hätte sich nicht allein hingetraut. Als die Frau die alten Kleider sah und die Würste, die Lene auspackte, wollte sie das ältere der Kinder zwingen, sich schon zu bedanken, aber es brach in unartiges Weinen aus. Mely fiel auf, in einem wie anderen, unbefangenen Ton die Frau heute nachmittag redete im Vergleich zu der etwas gedrückten, schüchternen Art, wie sie mit Elisabeth gesprochen hatte. Sie war eigentlich ganz gut gelaunt und machte Scherze, so daß Mely bei sich dachte, so schrecklich arm könne sie doch wohl gar nicht sein. Sie nahm z.B. eine der Würste, hielt sie dem Kinde in der Kiste vor die Nase und rief:

»Hast de Dorscht, beiß' in die Worscht.«

Darüber mußte Mely laut lachen, und sie freute sich schon darauf, wenn sie diese Redensart in der Schule gebrauchen würde.

Auf dem Heimweg sagte das Lenchen zu Mely:

»Wer weiß, das sind vielleicht ganz schlechte Leut'. Eine ordentliche Frau läßt ihre Kinder nicht so im Schmutz verkommen.«

»Aber sie hat doch kein Geld.«

»Wasser kost' nix,« sagte Lene entschieden.

»Warum sie bloß heiraten mußte?«

»Ja, das weiß der liebe Herrgott! Das weiß selber keine, aber jede muß hineintappen, und dann ist's zu spät.«

Mely stand vor einem Rätsel.


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