Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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23

Das Fest der Oesterots war von einer ungewöhnlich klaren Junisonne begünstigt. Die Teilnehmer fuhren in zwei Nachmittagszügen an den Fuß des Gebirges und ließen sich über einen See auf eine Insel hinüberrudern, wo die Vorbereitungen zum Fest getroffen waren. Oesterots, die Geschwister Sanders, Dr. Cornelius und Bettina Selch fuhren in dem ersten Zug. Sie saßen in einem Abteil, getrennt von den übrigen zwanzig bis dreißig Eingeladenen. Jedes hatte ein kleines Handköfferchen mit seinem Kostüm bei sich. Bisweilen wehte frischer Heugeruch von den Wiesen, wo braun verbrannte Bauernweiber mit weißen Kopftüchern zwischen den Schobern beschäftigt waren. Es herrschte noch keine rechte Stimmung unter den Fahrenden. Oesterot war ängstlich, ob auf der Insel alle seine Anordnungen getroffen sein würden, und flüsterte aufgeregt mit Thea. Bettina glaubte sich berufen, der Stimmung aufzuhelfen, indem sie in ihrer gewohnten Weise schwatzte: daß sie nämlich die Künstler und die bessere Lebewelt in ihrem Salon vereinigen wolle und dergleichen mehr. Cornelius gab ihr keine Antwort, wenn sie sich an ihn wandte. Frau Thea versuchte verbindlichst mit ihr von Monte Carlo und Ostende zu sprechen. Dafür mußte sich eine Kokotte doch interessieren. Hermann fühlte eine Art schlechten Gewissens, und Amélie geriet in Verlegenheit bei den groben Schmeicheleien, die ihr die Kokotte machte.

»Jo, Sie hab'n a Haar,« sagte sie, »akkurat wie die Gräfin Montgelas.«

Als man auf der Insel angekommen war, – nicht ohne einiges Gekrähe Bettinas, die fürchtete, das Boot würde kippen, – lief der Doktor nervös umher, gab dem kugelrunden kleinen Wirt des gemieteten Wirtshauses noch einige Anordnungen, und veranlaßte die Gäste, sich in zwei als Herren- und Damengarderoben eingerichtete Zimmer zu begeben, um sich umzukleiden. Inzwischen deckten ein paar alte Kellnerinnen von unwahrscheinlicher Robustheit im Freien eine lange Tafel mit Erfrischungen.

»Himmi Herrgott Blutsakrament!« schrie die Aelteste und Dickste, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging und soff hie und da aus einem Maßkrug, den sie in einem Gebüsch niedergestellt hatte.

Eine gedämpfte Streichmusik empfing die in helle, antike Gewänder gekleideten, zum größten Teil sehr vorteilhaft aussehenden Menschen. Man setzte sich zwanglos umher. Gruppen lagerten am Boden, manche warfen Steinchen ins Wasser und scherzten. Eine goldene Nachmittagsonne unter einem halkyonischen Himmel verklärte die Szene. Einige Paare drehten sich auf einem ländlichen Tanzboden.

Cornelius kam mit rückwärtsgekämmtem, dunklem Haar, Amélie am Arm, vom Tanz an die Tafel zurück, der Oesterot vorsaß. Ein bekränzter Stuhl war für Friedrich Wartegg frei gelassen worden, der erst mit dem zweiten Zug erwartet wurde.

»Wenn man sich jetzt ins Wasser stürzen und schwimmen dürfte!« rief Cornelius, erhitzt sein Gewand hin- und herziehend.

»Warum darf man denn nicht?« fragte Oesterot, »wenn wir es nicht dürfen, wer darf's denn da?«

»Hier wird's ja koane Schwimmanzieg' geb'n,« rief Bettina.

Schon war Cornelius auf einen in den See ragenden Vorsprung geeilt und warf seine Kleider ab. Einen Augenblick stand die schlanke, gebräunte Jünglingsgestalt in der Sonne und sprang in die Flut. Bettina lachte sich halbtot.

»Naa, so was, naa, so was!« krähte sie.

Oesterot folgte Cornelius und überredete Thea, ein Gleiches zu tun.

»Kommen Sie mit, Amélie!« rief diese, und so ermutigte eines das andere.

Frau Theas erblühte, weiße Glieder verschwanden in den sonnigen Wellen. Es folgte die schlanke, elfenbeinfarbene Amélie, die, fast bewußtlos und wie in einem Traum, tat wie alle anderen, die glaubten, eine schöne Nacktheit den Blicken aussetzen zu dürfen. Bettina blieb am Tisch zurück. Sie war von einer Art moralischen Entsetzens erfaßt.

»Naa, so was hab' i aber noch net g'sehn!«

Dann lachte sie wieder unsicher, als hielte sie es doch für einen ausgezeichneten Witz. Sie fühlte jedenfalls nicht die geringste Lust, »ihre echte Pariser Figur« zu zeigen. Eine kleine, schwarze, häßliche Person mit schiefem Mund, die aussah wie ein herumfahrendes Aeffchen, und von irgend jemand mitgebracht war, sagte mit norddeutschem Tonfall:

»Finden Sie da was bei? Zu Hause hab' ich immer mit meinem Schwager luftjebadet. Wissen Se, wir da oben im Norden, wir können das ruhig tun, wir sind nämlich gar nich sinnlich; kalt wie die Hundeschnauzen.«

Sie warf ihr klägliches griechisches Gewand ab, es kam ein graues Mieder und einiges häßliches Unterzeug zum Vorschein, und plötzlich stand ein geschlechtsloser, dürrer Körper da, der mit unglaublicher Behendigkeit ins Wasser stürzte.

Während die Badenden sich auf der Landzunge wieder ankleideten, kamen auf mehreren Kähnen die Gäste an, die erst mit dem zweiten Zug gefahren waren. Unter ihnen befanden sich Friedrich Wartegg und Lina Schüler.

Sie gingen in die Garderobe, um sich zu kostümieren. Oesterot hatte Lina geraten, als gefangene Barbarin zu erscheinen, mit offenem, grün bekränztem Haar. Die etwas formlose Wildheit dieses Aufzuges, unter dessen mit Spangen gehaltenem Gewand eine Schulter nackt herausragte, sowie die durch gekreuzte Bänder zur Geltung kommenden hohen Beine, alles das gab ihr eine flüchtige Schönheit, obwohl ihre einzelnen Züge eher grob waren. Sie tanzte bald mit etwas absichtlich wirkender Ausgelassenheit umher, als wolle sie sich für jahrelange Beschäftigung mit Mystik und Plato entschädigen.

Nachdem Cornelius und Amélie durch das Tanzen wieder warm geworden waren, schlug er ihr einen Spaziergang durch die Waldwege der Insel vor. Er ging neben ihr auf den von braunroten Tannennadeln glatten Wegen, hielt ihre Hand, die sie ihm ließ, und sprach lange kein Wort.

»Hoffentlich langweilen Sie sich nicht?« begann er auf einmal.

»Wie sollte ich mich denn langweilen?«

»Ich tanze eine halbe Stunde mit Ihnen, ich führe Sie durch den Wald, und ich spreche nichts, aber ich weiß wirklich nicht, was man in so wundervollen Augenblicken sprechen soll. Es ist so schön, bloß da zu sein und zu genießen.«

»Das ist wahr.«

Amélie atmete tief den Tannenduft ein. Sie blickte Cornelius etwas überrascht an, weil er so sprach. Bisher hatte sie ihn immer nur in überlegener, oft in spottender Weise reden hören. Das antike Gewand und der von der Nachmittagssonne rötlich durchleuchtete Wald schienen ihn umgewandelt zu haben.

»Wissen Sie,« sagte er weitergehend, »dieses Leben, diese Schönheit hat etwas Unheimliches. Ich habe das Gefühl, daß das nicht lange so weitergehen kann.«

»Wie schade wäre das!« klagte Amélie. »Glauben Sie wirklich? Es ist das Schönste, was ich je erlebt habe.«

»Ich fühle, wir wandeln im Augenblick eine verbotene Straße. Diese Menschen wollen keine Männer und Frauen sein. Sie wollen Mädchen und Epheben bleiben und den unentschiedenen, berauschenden Spannungszustand der Jugend bis über die Lebensreife hinaus verlängern. So etwas, wie dieses gemeinsame Bad – es war ein glühender Augenblick – aber fühlen Sie nicht, so etwas darf man nie wiederholen, dann würde es häßlich und gemein oder zum mindesten gewollt und gesucht werden, wie das, was diese Apostel tun, die heute Nacktkultur predigen. Wir sind an die Grenze solchen heute möglichen heidnischen Daseins gelangt, wie es Oesterot nennt, und dies Fest ist die letzte Ausschöpfung. Oh, wenn wir nur stark genug sind, aufzuhören, ehe der Rest schal wird!«

Der düstere Tannenwald hatte aufgehört. Der Weg führte zwischen niedrigen Buchen weiter. Cornelius freute es, mit den nackten, nur von Sandalen bekleideten Füßen durch die trockenen Blätter abseits des Weges zu waten.

»Ich verstehe nicht alles, was Sie sagen,« erwiderte Amélie, »aber ich glaube, Sie haben recht. Sie müssen schon vieles erlebt haben, nicht?«

Ein spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen. Er riß einen Zweig ab und kaute an den Blättern.

»Nein, gar nicht viel, das ist ja mein Schmerz. Ich habe nur sehr, sehr viel – geschaut und gedacht.«

Der Weg hatte sie an eine andere Stelle des Ufers gebracht. Die Sonne stand nahe dem Wasserspiegel und übergoß die Insel mit purpurgoldnem Licht. Cornelius zog Amélie auf eine Bank, setzte sich neben sie auf das graue Moos und legte ihre Hand auf seine Wange. So saßen sie am Rande der Insel in ihren weißen Gewändern, wie zwei Gestalten aus ferner Vorzeit. Sie fühlte, daß eine vorahnende Schwermut in ihm war, während ihr Leib noch von der Festlust glühte. Plötzlich rief er:

»Wir müssen ja zurückgehen! Nach Sonnenuntergang soll das Festspiel anfangen.«

Sie schritten schnell durch den dämmernden Wald. Er hatte den Arm um sie gelegt. Amelie fühlte sich still und froh und jubelte innerlich, daß es dieser war, der sie nun zu Oesterot führte. Sie kamen bei beginnender Dunkelheit zu den übrigen zurück. In einem weiten Zelt waren einige farbige Papierlampen angezündet über Tafeln, an denen das Nachtmahl genommen werden sollte. Das Festspiel ergab sich wie von selbst aus der Lage. Wartegg saß in purpurnem Cäsarengewand, einen Kranz über seinem Imperatorengesicht, ernst, fast finster in einer Ecke. Seine Hand spielte in den Locken eines Jünglings. Um ihn sammelten sich die, welche in dem Spiel die streitenden Philosophen darstellten. Sie begannen ihre Verse zu sprechen. Cornelius trat mit den beiden Geschwistern zu ihnen und sprach seine Rolle mit leise bebender Stimme. Amélie schauerte zusammen vor Glück, und ihre Verse waren der natürliche Ausdruck ihrer augenblicklichen Stimmung. Hermann sprach mit verlegener, aber rührender Ungeschicklichkeit. Oesterot fand in seiner Dionysosstrophe, die Erkenntnis und Lust versöhnen sollte, ein wundervolles Pathos, das Amelie fast trunken machte. Um sein großes, von dem schwarzen Bart umrahmtes Haupt war etwas wie eine Lichtheit, als habe ihn wirklich der Gott berührt, den er verkörpert«. Am Schluß des Spieles sank Amélie in seine Arme und spürte plötzlich seinen Kuß auf ihren Lippen.

Es war eine träumerische Stille über der ganzen Gesellschaft ausgegossen; schweigende und flüsternde Paare und Gruppen saßen und lagerten umher, während die letzten Lichtscheine des Abends sich in den leise seufzenden Wassern spiegelten.

»Jessas, is des a Stümmung! Das is wirklich unverfälschtes Kinstlerleben,« rief plötzlich Bettina Selch.

Das Abendessen wurde in dem Zelt aufgetragen, der Tirolerwein erregte bald eine heitere Stimmung der Gäste. Hermann war nach dem Spiel von Bettina mit Beschlag belegt worden. Sie fügte sich, so gut es ging, in die allgemeine Lage. Hermann litt namenlos unter ihr. Er fühlte, daß ihre triviale Nähe ihn von der Schönheit des Festes ausschloß. Als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, lehnte sie sich zärtlich an ihn und flüsterte:

»Jetzt geht der Buwi mit sei'm Bauernmadel hübsch heim, und wenn er recht brav is, darf er noch a biss'l mit 'naufkomma.«

Aber gerade dazu hatte Hermann heute nicht die geringste Lust. Bettina verabschiedete sich von Oesterots, die sie nicht allzu eifrig zurückhielten. Als sie aber den Hermann durchaus mitnehmen wollte, sagte Oesterot, der die Sachlage übersah, das gehe unter gar keinen Umständen, das Festspiel solle noch einmal wiederholt werden, und da sei Hermann unentbehrlich. Hermann brachte sie bis zum Boot, das sie übelgelaunt bestieg.

»Des is gar net scheen von dir,« sagte sie ihm beim Abschied, »das hat ma davo', daß ma' amal umasonst liab zu ei'm gewesen is.«

Hermann eilte erleichtert zu dem Fest zurück. Lina Schüler kreuzte seinen Weg und hängte sich an seinen Arm:

»Nun, hast du jetzt auch ein bißchen Zeit für mich?« fragte sie liebenswürdig.

Hermann war glücklich, das Versäumte so schnell nachholen zu können. Sie schwärmten zusammen durch den dunklen Wald. Zwischen den schwarzen Stämmen der Mitsommernacht hingen bunte Lampions, unter denen Paare und Gruppen teils still, teils lärmend lagerten. Hie und da fielen Scheine von Feuern, die am Ufer schwelten, durch die Bäume. Lina sagte, sie wüßte einen besonders schönen Platz und zog Hermann etwas abseits, wohin die Lichtscheine nicht fielen. Sie lagerte sich mit ihm in einer laubgefüllten Mulde des Bodens. Eigentlich war sie ihm ein wenig zu lebhaft für ein »anständiges« Mädchen, er wußte nicht recht, was er mit ihr machen sollte. Sie gefiel ihm auch nicht besonders, aber ihre einschmeichelnde Zuvorkommenheit reizte ihn doch. Erst lehnte sie sich an ihn, und als das nichts half, bewarf sie ihn mit dürren Blättern, berührte seine Hand mit ihrem entblößten Arm, und schließlich lagen beide Mund auf Mund. Sie küßte ihn ganz genau so, wie es Bettina im Wagen getan hatte, und es wunderte ihn sehr. Er glaubte, so küßten nur Kokotten. Aber schließlich erstickten ihre heftigen Liebkosungen seine Ueberlegung. Da hörte man Schritte in der Nähe, und er kam zur Besinnung.

»Um Gottes willen, das geht ja nicht,« sagte er sich, »sie ist ja doch ein anständiges Mädchen.«

Er wollte aufstehen, aber sie hielt ihn zurück und fragte:

»Willst du schon gehen?«

Er war in Verlegenheit, denn er fürchtete die Erregung, in die sie ihn versetzte.

»Was hast du denn auf einmal?« drängte sie, »sprich doch.«

»Ach, wir wollen doch keine Dummheiten machen.«

»Wieso Dummheiten?« fragte sie fast spöttisch.

»Ich kann Sie ja doch nicht heiraten, ich bin doch noch zu jung.«

Sie brach in eine Art künstlich frivolen Lachens aus:

»Ich hätte gar nicht gedacht, daß du so ein Spießbürger bist.«

»Ich bin kein Spießbürger, ich weiß auch, daß man nicht gleich zu heiraten braucht; aber wir haben uns doch gar nicht lieb.«

»Ach, bist du schwerfällig! Ich dachte, du wärst ein Lebemann, der Freund von Bettina Selch.

»Das ist doch etwas ganz anderes.«

»Wieso?«

»Ich kann mit Mädchen über so etwas nicht sprechen.«

»Warum? Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren. Ich bin doch in dem Oesterotschen Kreis; wir sind Heiden.«

»Also dann sag' mir zuerst: Hast du schon mit einem Mann ein Verhältnis gehabt?«

»Das geht doch dich nichts an,« lachte sie, »übrigens hab' ich noch keins gehabt, wenn du's wissen willst. Komm, küss' mich wieder.« »Nein, ich will nicht mehr,« sagte er trotzig.

Er lief weg, und wo er ein Mädchen allein stehen sah, bat er sie zum Tanz und jagte mit ihr wie toll umher.

Erst gegen Morgen dachte man an den Aufbruch. In den letzten Stunden war wie rasend getanzt worden, Phantasie- und Reigentänze. Ehe man die Boote zur Rückfahrt bestieg, wollte man sich etwas abkühlen. Wartegg, Oesterot, Amélie, Cornelius, Thea und Hermann gingen in einer langen Reihe – eines hielt die Arme um die Hüften des anderen gelegt – am Uferplatz auf und ab, während ihnen die frische Morgenluft die Schläfen kühlte. Als die weißen Gestalten die Boote bestiegen, verbreitete sich bläuliches Licht über den See. In zufriedener Mattigkeit fuhr man in die Stadt zurück, während ein goldener Junitag heraufstieg.


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