Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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40

In ihrer Gefühlsverwirrung, die mit einer ans Unwahrscheinliche grenzenden Unkenntnis des Lebens gepaart war, sah Frau Schüler in Hermann Sanders, dem ehemaligen Liebhaber der Halbweltlerin Bettina Selch, so etwas wie einen Lebemann, der seine eigenen Wege gegangen war, und infolgedessen an die Tochter in mancher Hinsicht andere Ansprüche stellen würde, als der unerfahrene, etwas plumpe Ludwig Stehr an sie. Sie hielt es daher für notwendig, mit Lina kurz vor der Verheiratung darüber ein Gespräch zu führen.

»Die Hauptsach' is,« sagte sie eines Nachmittags am Kaffeetisch zu ihrer Tochter, »daß er dich nit für e' dumm Gä'nsche' hält. Nix find't so en Großstädter komischer, als e' spießbürgerlich Mädche' aus der Provinz. Also nur kei' falsch Schamhaftigkeit und Zurückhaltung. Was er von dir verlangt, des kannsde alles du', es is ja gar nix dabei.«

Lina kam sich ein wenig überlegen vor, da Frau Stehr ja nicht wußte, was in der Fastnacht zwischen ihr und Hermann vorgegangen war. Dennoch hatte sie eine große Achtung vor der Liebeserfahrung der Mutter, die so kühn alle Schranken des konventionellen Lebens überschritten hatte, und in der sie den Typus der sich frei schenkenden Hetäre in deutlicher Ausprägung erblickte.

»E Frau«, fuhr Frau Stehr, den Mund voll Kuchen, fort, »muß vor alle Dinge' dem Mann sei' Geliebte sei', nur des hält en fest bei ihr. Wie ich mit dem Ludwig zusamme' damals auf der Pariser Ausstellung gewäse bin, da hawe'm doch die Bauchdänzerinne' so gut gefalle; da haw' ich mer ganz genau abgeguckt, wie die arawische Mädcher des mache', un' nach e' paar Dag' konnt' ich's schon ganz gut. No, dem Ludwig sei' Auge hättsde seh' solle, wie ich em des eines Nachts e'mal vorgemacht hab'. Wie betrunke' is er gewäse vor Glick, und hat gerufe: Wenn mer auch wollt', Kathrine, dir kennt mer ja gar nit untreu werde', denn du vereinst ja die Reize von alle Fraue' in dir. No, un' wie dann nachher die Salomedänz' Mode geworde' sin', da haw' ich des auch noch gelernt.«

Lina sah mit bewundernden Blicken auf die Mutter, die sich etwas verschluckt hatte, da sie Kuchenessen und Sprechen vereinen wollte. Diese fragte geschmeichelt:

»Des hättsde deiner Mutter auch nit zugetraut, nit wahr?« fragte sie hustend, während Lina aufstand und ihr unaufgefordert etwas auf den breiten Rücken klopfte, bis der Brösel in die rechte Röhre geglitten war. »Danke schö«, es is schon widder gut. Jetzt, wo du selber e' verheirat't Frau wirst, da wolle mer Freundinne' sei' un' uns in der Beziehung alles sage', nit wahr?«

»Ja, Mutter,« rief Lina bewegt und mit den besten Vorsätzen erfüllt, ihren jungen Mann ebenso glücklich zu machen, wie die Mutter den Ludwig Stehr.

Lina war von einer brennenden Neugier erfüllt. Sie drängte daher Hermann oft zu Geständnissen über sein früheres Leben, und als er sah, mit wie flackernden Augen sie ihm zuhörte, empfand er selbst einen zwingenden Reiz, ihr davon zu erzählen. Ja, sie sollte alles wissen, seine Verirrungen kennen und sie verzeihen. Lina reizte es ganz besonders, daß Hermann die käufliche Liebe kannte. Sie wollte wissen, wie er zum erstenmal auf diesen Weg geraten war, und da erinnerte er sich auf einmal wieder eines längst vergessenen, aber, wie er jetzt fühlte, einschneidenden Erlebnisses, das er noch in seiner Heimatstadt gehabt hatte. An einem Frühlingsabend war er lüstern durch die Straßen geeilt, ohne den Mut zu finden, sich einer Frau zu nähern. Da trat plötzlich aus einer dämmerigen Gasse eine schwarzhaarige, schlanke Person an ihn heran mit blitzenden Augen und blanken Zähnen und rief in der Mundart der Stadt:

»Komm bei mich, du jung Oos (Aas)!«

Hermann wußte nicht, wie ihm geschah, schon hatte ihn das Mädchen in einen dunklen Hausflur gezogen, von wo sie ihn über eine schmale Holztreppe drängte, bis er mit ihr in einem engen, heißen, von Flitterkram behängten Raum versank. Seit dieser Zeit hatte er oft geglaubt, jenen Ruf zu vernehmen, der ihn wie ein Dämon in Abgründe hinabrief. Lina war von der Erzählung sehr erregt, und ihre Phantasie schweifte weit.

»Gott sei Dank, daß das nun alles hinter mir liegt,« sagte Hermann, »um Gottes willen nicht mehr dahin zurück.«

Am Nachmittag ihres Hochzeitstages fuhren Hermann und Lina nach Passau. Sie aßen abends fast allein in dem großen, unbehaglichen Speisesaal des Gasthofes, und als sie fertig waren, schlug es halb neun. Das war doch noch zu früh, um zu Bett zu gehen, meinte Hermann und überlegte, was man nun tun könne. Irgendeine Vorstellung war nicht an diesem Abend, und so gingen beide etwas planlos durch die Stadt, bis sie auf einem Platz ein kleines Kaffeehaus sahen. Dort traten sie ein, und Hermann verlangte illustrierte Zeitungen.

Es war fast leer in dem Raum. Die Luft roch nach abgekühltem Tabaksqualm. Ein kaltes und doch trübes Licht ging von den Auerflammen mit zerrissenen Glühstrümpfen aus. In einer Ecke saß ein alter Mann mit langem, braunem Mantel. Mit zitteriger Hand führte er das Teeglas an den Mund und erzählte dem pompösen Bufettfräulein, es ginge ihm immer schlechter; aber seine Wirtschafterin habe ihm gesagt: »Herr Beuschel, jetzt gehn's halt a biss'l ins Kaffeehaus, das bringt Sie auf andre Gedanken.« So war er denn hier.

»Der stirbt bald,« flüsterte Hermann.

»Ach ...« rief Lina erstaunt.

Beide blätterten eine Stunde lang in den Zeitungen; wohl niemand merkte ihnen an, daß sie ein junges Paar auf der Hochzeitsreise waren. Hermann empfand das, aber er sagte sich, als mache ihm jemand einen Vorwurf:

»Ja, was soll ich denn sonst tun? Um neun Uhr kann man doch noch nicht zu Bett gehen.«

Aber um halb zehn konnte man wohl; befreit stand Hermann auf und begab sich mit Lina in den Gasthof zurück. Als sie das große Zimmer betraten, in dessen Mitte zwei Betten nebeneinander standen, bemächtigte sich eine Unbehaglichkeit Hermanns, und Lina schien ihm geradezu wie eine Fremde. Wie kam er eigentlich dazu, mit ihr hier zu sein, während er gestern nacht noch allein in seinem Zimmerchen neben dem »Tirol« geschlafen hatte? Lina stand lachend mitten im Zimmer und begann ohne viel Federlesens sich zu entkleiden. Er ging etwas nervös herum, legte einstweilen seine Brieftasche auf den Nachttisch und zog seine Uhr auf; alles dies tat er mit viel mehr Sorgfalt als sonst. Da rief Lina auf einmal:

»Komm bei mich, jung Oos!« und lachte dazu.

Hermann schreckte geradezu auf bei diesem Ausruf, dann mußte er lachen, und er fühlte eine gewisse Befriedigung darüber, daß nun das Eis gebrochen sei; nichtsdestoweniger war auch ein Gefühl des Ekels in ihm, aber es gelang ihm infolge der Liebkosungen Linas dies fürs erste zu verdrängen. Vieles an ihr war ihm körperlich nicht angenehm, und wenn ihn der Gedanke durchzuckte, daß diese Frau mit diesem bestimmten Geruch und dieser bestimmten Art sich anzufühlen nun immer seine Frau sein würde, entsetzte er sich, aber er war imstande, im Augenblick alle Wolken schnell von sich wegzuschieben und sich von ihr in neue Umarmungen ziehen zu lassen.

Da geschah es, daß Hermann gegen vier Uhr früh plötzlich starke Magenschmerzen fühlte, was sonst bei ihm nicht vorkam. Eine gewisse Schwere und etwas Unbehagen hatte er allerdings bereits nach dem Abendessen gespürt. Lina merkte, daß ihn irgend etwas quälte; er sagte ihr um so bereitwilliger, daß er Schmerzen habe, als er dadurch seine Niedergeschlagenheit verheimlichen konnte. Nun zeigte sie sich sehr gefällig, sie zündete einen Spirituskocher an, bereitete etwas heißes Wasser und machte ihm einen Umschlag, der die Schmerzen auch bald linderte. Schon fiel das erste Morgenlicht durch die Vorhänge, als er einschlummerte. Er schlief fest und traumlos. Als er um halb neun erwachte und die ganze Wirklichkeit ihm wieder vor Augen trat, da war er im Begriff, laut aufzuseufzen: »Es ist ganz entsetzlich!«, aber noch beherrschte er sich, während er auf die mit offenem Munde neben ihm schlafende Lina blickte, deren zerzaustes Haar sie unschön, geradezu verwahrlost erscheinen ließ.

»Was soll ich nun tun?« dachte er, »mein Leben ist hin und verpfuscht.«

Dann durchzuckte es ihn einen Augenblick:

»Wenn ich ein rechter Kerl wäre, so würde ich jetzt aufstehen, meinen Irrtum anerkennen, sie zu ihrer Mutter zurückbringen und alle Folgen tragen.«

Er malte sich aus, wie er selber weg von München gehen und ein ganz neues Leben beginnen könnte. Er stellte sich mit einer Art wollüstiger Grausamkeit vor, was ihre Mutter für ein Gesicht dazu machen würde. Dann blickte er wieder auf Lina, und obwohl sich beide eigentlich nicht ähnlich sahen, fühlte er die Verwandtschaft ihres Fleisches, und er sagte sich:

»Ich hasse diese Rasse! Ich hasse sie!«

Da erwachte Lina plötzlich, lächelnd griff sie nach seiner Hand und fragte ihn:

»Nun, wie hast du geschlafen? Hast du noch Bauchweh?«

»Ach, es ist besser,« sagte Hermann vorsichtig, obwohl die Schmerzen vollkommen verschwunden waren, aber er fühlte wieder: wenn er sich etwas leidend stellte, war es leichter, die eigentlichen Gründe seiner Verstimmung zu verhehlen.

Nach dem Frühstück gingen sie wieder in ihr Zimmer, Hermann wie ergeben in sein Schicksal, Lina offenbar recht befriedigt und glücklich.

»Vielleicht lese ich dir etwas vor,« meinte sie gutmütig.

»Hast du denn etwas bei dir?«

»O ja, eine ganze Menge. Du hast mich doch öfters nach mystischen und theosophischen Dingen gefragt, aber wir sind bis jetzt nie dazu gekommen, ernst darüber zu sprechen. Ich könnte dir etwas darüber vorlesen; das Buch ist von einer Dame geschrieben, die ich kenne.«

Dieser Vorschlag gefiel Hermann ausnehmend. Er hatte allerdings längst etwas über diese Fragen wissen wollen, und nun setzte sie sich, während er auf dem Diwan lag, neben ihn und las. Das war eigentlich sehr angenehm und bequem.

In den Abschnitten, die Lina wählte, war die Rede davon, daß der Mensch seine geistigen und Willensfähigkeiten ins Ungemessene entwickeln könne, wenn es ihm nur gelänge, das sinnliche Leben zu bezähmen. Die Sinne verwirrten die Klarheit des Geistes, und sie allein seien schuld an den menschlichen Verirrungen. Solange man von ihnen erfüllt sei, erblickte man die Welt durch ein trübes Glas. Erst wenn ihre Forderungen in den Hintergrund träten und schließlich ganz verschwänden, sei die Welt der klare Spiegel, in dem der Mensch imstande ist, die Gottheit zu sehen.

Plötzlich unterbrach Lina und lachte:

»Eigentlich komisch,« sagte sie, »so etwas am Morgen nach der Hochzeit zu lesen. Früher habe ich das für ganz richtig gehalten und vielleicht werde ich es später wieder einmal für richtig halten, aber jetzt ist es doch alles Unsinn.«

Sie beugte sich über ihn, um ihn zu küssen.

»Vielleicht ist das gar nicht unsinnig,« erklärte Hermann nachdenklich und wendete sich ein wenig von ihr weg. »Wer weiß,« sagte er sich, einer Stelle über das Karma nachsinnend, »wer weiß, vielleicht ist die Enttäuschung dieser Nacht mein Karma.«

»Nicht wahr?« fragte er lebhaft, »Karma heißt das doch?«

»Ja, Karma,« belehrte Lina eifrig und wollte bereitwillig diesen Begriff erläutern.

»Sei einmal einen Augenblick ganz still,« unterbrach Hermann, »ich muß einmal über etwas nachdenken.«

Lina schwieg gehorsam.

»Karma ... Karma ...,« flüsterte er, und in ihm dämmerte irgend etwas auf. Plötzlich fragte er ganz bestimmt:

»Ist das Karma das gute oder das böse Schicksal?«

»Beides,« antwortete sie.

»Beides?« wiederholte er erstaunt. »Ach so, ja natürlich ... jetzt verstehe ich ...«

Und nun hatte er etwa folgende Gedanken: Es ist gerade der Sinn dieser Ehe, daß mir Lina sinnlich nicht angenehm ist, denn das ist die einzige Möglichkeit, daß das Sinnliche bei mir nun in den Hintergrund tritt.

Er griff plötzlich nach ihrer Hand, und sie war sehr glücklich über diese plötzliche Zärtlichkeitsäußerung:

»Weißt du, Lina,« rief er fast begeistert, »du bist mein Karma ...!«

»Ach!« rief sie. Sie fühlte sich außerordentlich geschmeichelt.

Er schlug ihr dann selbst einen Spaziergang vor, sie gingen an der Donau entlang; er war ziemlich gesprächig und glücklicher, als er seit langer Zeit gewesen. Dann fanden sie eine kleine Weinstube in der Nähe des Flusses, wo sie Karpfen aßen und auch alles andere erheblich besser war, als gestern abend. Der Wein verursachte ihnen Schlaflust, und sie begaben sich nach Hause. Die widersprechendsten Empfindungen bestürmten Hermann, und von selbst küßte er sie und schloß sie in die Arme. Wiederum empfand er zunächst ihren ihm unangenehmen Duft wie einen Schlag ins Gesicht, aber wiederum gelang es ihm, darüber hinwegzukommen und alle Hemmungen zu bewältigen. Als er wieder allein auf seinem Bett lag, um etwas zu ruhen, sagte er sich:

»Nein, nein, es soll doch nicht sein. Mein Leben muß anders werden.«

Aber er fühlte sich nun doch nicht mehr so unglücklich; er hatte das Gefühl, daß die Erstarrung der letzten Monate von ihm genommen war, und daß er sich nach einer ganz bestimmten Richtung hin weiter entwickeln würde.

Besonders dies zog ihn an der indischen Lehre an, daß sie nicht wie das Christentum verlangte, man müsse von heute auf morgen ein anderer werden. So überließ sich Hermann mit dem ihm angeborenen Phlegma dem Lauf der Dinge, bald der Sinnlichkeit nachgebend, bald den neuen Ideen, über die er nun der erfreuten und Verständnis zeigenden Lina lange Vorträge hielt. Bisweilen sagten sie: »Wir Mystiker« ... oder »Uns Theosophen«.

Nach fast vierzehn Tagen, die sie an der Donau verbracht hatten, fuhren sie nach München zurück. Sie zogen dort in eine Pension. Um einen Hausstand zu gründen, reichte das zur Zeit flüssige Geld nicht aus. Nun ließ sich die Fiktion, auf die Hermann seinen augenblicklichen Zustand gebaut hatte, nicht mehr lange aufrechterhalten, und er durchschaute das ganze Elend seiner Lage. Sehr bald merkte er, daß seine Sinnlichkeit keineswegs erloschen war, und die Tatsache, daß sie bei Lina keine Erfüllung fand, sondern immer mehr von ihr abgeschreckt wurde, ihn nicht davon heilte. Vielmehr wurde sie durch andere Frauen, die er in den Straßen sah, immer von neuem erweckt, und hier und da fühlte er den Drang, wieder die alten Wege zu geben.

Er gewöhnte sich plötzlich an, eine lange Pfeife zu rauchen, und während er das Pensionszimmer vollqualmte, quälte er sich dauernd mit dem Versuch, seine verworrene, dumpfe Natur zu ergründen. Lina war ahnungslos im selben Raum, kramte in ihren Sachen, las oder saß über einer Handarbeit. Sie wußte von ihrer Mutter, daß man einen Mann, wenn er seine Schrullen hat, in Ruhe lassen muß. Warum wirkte Lina nur so unangenehm auf ihn? fragte er sich. Sie war doch gut und gefällig, verursachte keinen Streit, fügte sich vielmehr allen seinen Wünschen. Es war doch auch ganz behaglich, so bei ihr zu sitzen. Hier und da glaubte er dann Erklärungen zu finden, und stückweise setzte er sich ein Bild seines Zustandes zusammen. Eine Frau, die seine Gefühle in andere Bahnen lenken könnte, mußte vielleicht gerade das Gegenteil von Lina sein, ein reines, sinnlich nicht zu waches Wesen.

Lina stand ahnungslos gerade in einem nicht besonders hübschen Mieder am Waschtisch und reinigte Kämme und Bürsten. Mit Zorn und Verachtung erinnerte er sich daran, daß sie ihn in der Nacht in Passau mit denselben Worten ermuntert hatte, die damals jener Dirne entschlüpft waren, und eine fanatische Forderung nach Unschuld der Gattin erfüllte ihn.

»Ach was!« rief er plötzlich, »es ist ja alles Wurst.«

Sie drehte sich erstaunt nach ihm um, ein schiefes Lächeln auf den starken Lippen. Sie war an solche Ausbrüche gewöhnt. Er hüllte sich wieder in den Rauch seiner Pfeife.

Lina nahm ihre Tätigkeit am Waschtisch wieder auf. Sie war eigentlich ganz glücklich, dachte indessen: »eine etwas komische Art hat er, das muß man sagen. Ob ich es wohl der Mutter erzählen soll?«

Hermann hatte sich bisher immer über Begriffe, wie »gute Familie«, »gute Erziehung« und dergleichen lustig gemacht, aber nun fühlte er auf einmal, daß sein Instinkt doch eng mit solchen Begriffen verknüpft war. Mit Wehmut dachte er nun oft an sein Elternhaus, dessen Wert ihm jetzt erst klar wurde. Waren sie zusammen in Gesellschaft, so geriet er in Verlegenheit, wenn seine Schwiegermutter allzu grotesk gutartig war. Immer wieder sagte er sich:

»Das habe ich doch alles vorher gewußt und auch hie und da komisch gefunden; wie kommt es bloß, daß ich trotzdem Lina heiraten konnte?«

Eines Nachts war seine Verzweiflung so groß, daß er sich plötzlich halb entkleidet auf den Boden warf, sich wälzte und laute Seufzer ausstieß. Nie sah er es so deutlich als in dieser Nacht, daß ihm nun für immer die Möglichkeit genommen war, in eine reine und anmutige Häuslichkeit den Weg zurückzufinden. Lina erschrak über diese Zustände, aber wie in der Hochzeitsnacht erklärte er, als er sich beruhigt hatte: er habe Bauchweh gehabt. Von nun an gewährte es ihm eine böse Freude, diesem Geschöpf gegenüber, das an ihn gekettet war, seine tiefsten seelischen Qualen »Bauchweh« zu nennen.

»Du bist ja an alledem nicht schuld,« sagte er einmal begütigend nach einem belanglosen Streit. Sie war gerade dabei, auf einem Spirituskocher Kamillentee aufzusetzen, da sie sich das Haar waschen wollte. »Du konntest es nicht wissen, deine Mutter hätte es dir eben sagen müssen.«

Er erschrak selbst, daß ihm dies entfahren war, als wisse Lina, was in ihm vorging; bis jetzt hatte er ihr nie bestimmte Vorwürfe gemacht.

»Was meinst du denn mit ›alledem‹?« fragte sie sofort.

»Ach, nichts Bestimmtes,« stotterte er ausweichend, »nur so im allgemeinen ...«

Sie fühlte sich tief verletzt, denn auf ihre bewunderte Mutter wollte sie nichts kommen lassen.

»Bitte, laß die Mutter aus dem Spiel,« sagte sie.

»Ich habe es ja nicht bös gemeint,« erwiderte er mit aufrichtigem Bedauern. Lina fühlte nun zum erstenmal, daß ein ernster Schatten über ihrer Ehe lag. Langsam öffnete sie das Haar und begann es, über den Waschtisch gebeugt, mit Kamillentee zu befeuchten. Das ganze Zimmer roch danach. Als sie den Kopf wieder hob, an dem das nasse Haar klebte, sah sie sehr häßlich aus. Hermann, den der Kamillengeruch arg an Kinderstube und gestörte Verdauung erinnerte, sagte, seine Reue schnell vergessend, mit einer teuflischen Genugtuung: »Hier riecht es aber nach Bauchweh.«

Trotz ihrer Verstimmung mußte Lina lachen.

»Es gibt nichts zu lachen, ich meine es ernst,« rief er schroff. Sie zog den ohnehin großen Mund zu einer langen Schnute. Hermann glaubte, nie etwas Häßlicheres gesehen zu haben.

Dennoch gab es Abende, an denen in ihrem Pensionszimmer eine freundliche, behagliche Stimmung aufkam. Hermann erkannte Linas Gemütseigenschaften immer an. Wurde aber daraus eine körperliche Annäherung, so kam es schnell wieder zu grauenvollen Zwiespalten in ihm. Bald fand er in sich höhnische oder mindestens skeptische Meinungen über Gemütseigenschaften im allgemeinen, dann verdammte er wieder Sinnlichkeit bei der Frau überhaupt oder wenigstens in der Ehe. Hie und da sprach er sich nun auch in diesem Sinne aus. Die arme Lina wurde ganz und gar nicht mehr klug aus ihm.

»Du hast mir doch selber erzählt, wie du früher gelebt hast,« sagte sie eines Abends beim Ausziehen, »wieso bist du denn auf einmal so anders geworden?«

»Weil die Ehe eben etwas anderes ist,« erwiderte Hermann scharf und warf einen Stiefel in die Ecke; und nun antwortete Lina mit weinerlicher Stimme das Unglücklichste, was sie hätte sagen können:

»Wie konnte ich denn das wissen? Das hättest du mir vorher sagen müssen, dann wäre ich ganz anders zu dir gewesen.«

Hermann brach in ein Hohngelächter aus:

»Ja, wie bist du denn nun wirklich? Du kannst so und so? Bist du eigentlich die Hetäre oder das gute Hausschaf?«

Sie rief schluchzend, sie wüßte es selber nicht mehr, und blieb in der Stellung sitzen, die sie beim Ausziehen der Strümpfe angenommen hatte. Hermann mußte immer auf ihr bleiches, ihm zu weich erscheinendes Fleisch blicken, als fände er darin eine Rechtfertigung für seinen nun unüberwindlichen Ekel.

Er vermied jetzt Annäherungen an seine Frau vollkommen, und wenn es auch zunächst die wirklich instinktive Abneigung war, die ihn dazu veranlaßte, so rechtfertigte er sie auch durch die Begründung, von dieser Frau wolle er nie und nimmer Kinder haben. Er haßte ihre Rasse. Manchmal lag er nachts neben ihr, von Begehren erfüllt, aber er verharrte lieber in diesem Zustande, als die Hand nach dem molluskenhaften Wesen an seiner Seite auszustrecken.

Lange rang er mit sich, ob er außer dem Haus das ihm daheim Versagte suchen sollte. Meistens fehlte es ihm dazu an Geld. Das Leben zu zweit erschien ihm erstaunlich teuer. Eines Nachts aber hielt es ihn nicht länger. Er erhob sich leise, sah, wieviel Geld er in der Tasche hatte. Es genügte für ein bescheidenes Abenteuer. Er zog seinen braunen Alltagsanzug über das Nachthemd, warf einen Radmantel um und schlich den gewohnten Weg von einst. Dies geschah nun öfters; nach etwa zwei Stunden kam er stets zurück mit einer Sehnsucht nach Reinheit, die ihm das Weib in seinem Heim nicht bieten konnte. Manchmal dachte er an Scheidung, aber der Richter könnte einfach sagen: »Wie, ein Schwein wie Sie verlangt nach Reinheit? Das fehlte noch.« Nein, Reinheit war ja auch ein ganz falsches Wort. Das klang nach Konfirmandenstunde. Aber wie sollte er seine Sehnsucht nennen, die ihn so quälte? Er fand keinen Namen.


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