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Amélie freute sich aufrichtig auf den Fastnachtsdienstag. Sie ließ sich bei einer guten Schneiderin, die ihr Frau Dr. Oesterot empfohlen hatte, ein Kleid machen, ganz weiß mit glitzerndem Flitterbesatz. So wie man nach einer langen Bergwanderung kaum erwarten kann, in der nächsten Stadt seinen Koffer zu finden und wieder weiße Wäsche und Stadtkleider zu tragen, so freute sich Amèlie darauf, nach all der Verwahrlosung wieder einmal sorgfältig und sauber angezogen zu sein; ja, sie schlug sogar die Einladung zu einem Fest am Fastnachtsdienstag aus, obwohl Oesterots und viele andere Bekannte dieses Fest dem bal paré vorzogen. Cornelius war darüber glücklich.
Der Fastnachtsdienstag war einer jener sonnigen Februartage, wie sie gegen Ende des Winters in München vorkommen und einen in den Mittagsstunden glauben lassen, daß man sich südlich der Alpen befinde, so blau wölbt sich der Himmel über der lichten Stadt. Cornelius und Amèlie beschlossen, nur eine kurze Rundfahrt durch das Treiben der Konfettischlachten auf den Straßen zu unternehmen, damit Amélie Zeit fände, vor dem Ball noch etwas zu ruhen und sich ohne Eile umzukleiden. Während er sich mit ihr, in eine Wagenkette eingereiht, in der Maximilianstraße befand, wo durch die bläuliche Nachmittagsluft die roten und grünen Serpentinen flogen und sich die Menschen Kopf an Kopf um die Pferde drängten, die kaum vorwärts konnten, da jauchzte es manchmal in ihm, und hie und da wagte er Amelies Hand zu drücken. Die frische Luft hatte ihre Wangen, die noch vor wenigen Tagen bleich gewesen waren, schnell wieder gerötet, und einige goldblonde Löschen flatterten unter dem Pelzmützchen hervor. Cornelius war hingerissen von ihrer Schönheit und zwang sich, es nicht zu sehr merken zu lassen. Auch sie war glücklich und empfand für ihn ein Gefühl der Dankbarkeit, daß er sie so schnell wieder in eine lichtere Welt emporgezogen hatte, wo man ohne Selbstvorwürfe fröhlich sein konnte, gehoben, nicht herabgedrückt durch das Genießen.
Abends um halb zehn hielt Cornelius im Auto vor Amélies Fenstern. Sie war schon seit einigen Minuten fertig – ein Wunder bei ihren Gewohnheiten – und erwartete ihn, hinter den Scheiben stehend, in einem hellfarbigen Abendmantel, den sie noch vom vorigen Winter aus ihrer Heimatstadt besaß. Er kam schnell herein, einen leichten Pelz über dem Frack, in der einen Hand den Zylinder, in der anderen ein paar Rosen für sie. Er brachte etwas von der geheimnisvollen Luft der Vorfrühlingsnacht mit herein.
»Wie entzückend Sie aussehen!« rief er, ihre beiden Hände küssend, während das blitzende, weiße Kleid unter ihrem Abendmantel hervorlugte.
Amélies Gestalt war nun ganz reif entwickelt, schlank und doch weich, ihr Gesicht hatte noch etwas Kindlichkeit, während sich gleichzeitig bereits eine frauenhaftere Art darin andeutete; das hellblonde Haar, das heute von einer Friseuse gewellt worden war, lag wie eine Krone über der weißen Kinderstirn und war Cornelius' besonderes Entzücken. Zum ersten Male sah er sie in einem wirklichen Kleid und mit Sorgfalt angezogen.
»Es ist so warm heute nacht,« sagte er, »daß ich ein offenes Auto genommen habe.«
»Das ist recht,« antwortete Amélie erfreut und stieg ein, während er die Blumen und ihr Täschchen hielt.
Dann fuhren sie durch die von herber Vorfrühlingsluft erfüllte Stadt, die ein buntes Treiben von Masken belebte. Cornelius war es gelungen, im Deutschen Theater eine Parkettloge zu belegen; der Kellner empfing die beiden mit tiefen Bücklingen, wie ein Diener seine heimkehrende Herrschaft.
Bald stand der Champagner auf dem Tisch. Man sah Paare in eleganten Kleidern vor den Logen tanzen und in den Gängen umhergehen. Auf die mit rotem Samt überzogenen Brüstungen stützten sich Frauenarme, in der purpurnen Logendämmerung leuchteten die weißen Frackhemden der Herren. Amélie bewunderte unbefangen die ausgezeichneten Toiletten einiger Damen.
»Die Cenzi verlobt?« rief eine magere Brünette in schwarzem Spitzenkleid mit blitzendem Jet über zwei Logen hinaus, »daß i net lach'. So a Verlobung kenn i!« Ein Strahl giftmörderischen Hasses blitzte aus den dunklen Augen, die sich sofort zu sanftem Feuer mäßigten, als ihr ein Kavalier vom Saal aus mit einer Rose das Kinn kitzelte. »Jessas, der Baron Gustel,« rief sie aus und zeigte ihre vollendeten Zähne unter verbindlichem Lächeln.
»Es ist sehr viel Demimonde da,« sagte Cornelius.
»Wo?« fragte Amélie naiv.
Cornelius mußte ihr einige jener interessanten Damen zeigen.
»Ist es nicht entzückend,« fragte er, »hier abgegrenzt in einer Loge zu sitzen und das alles um sich herum branden zu sehen?«
Auch Amélie war überrascht von dem Licht, dem Glanz und den Farben. Sie mußte nun innerlich Cornelius in allen seinen Gründen recht geben. Gewiß, hier gab es auch sehr viel zweifelhaftes Volk, aber was ging es einen an? Es war nur der Hintergrund für die eigene Freude, man schwebte selig, aber unberührt davon, zwischen all dieser farbigen Luft, während man auf den Künstlerfesten entweder der allgemeinen Stimmung erlag, sich weiter reißen ließ, als man wollte, oder aber ausgeschlossen abseits stand.
»Ich glaube, Sie haben mich jetzt bekehrt,« sagte Amélie. »Mir gefällt es hier auch viel besser, als auf der Elendenkirchweih und dem Gauklerfest.«
Cornelius führte sie überall herum; auch hier sah man in manchen Nischen zusammengeknäulte Pärchen, denen es offenbar an der geeigneten Wohnung fehlte, und die sich nun hier in der halbdunklen Öffentlichkeit schadlos hielten. Amélie dachte mit einem gewissen Grauen an die Szenen, die sie selbst mit Rittmeier erlebt, und sie fühlte sich sicher an Cornelius' Arm, denn sie wußte: so sehr er sie lieben mochte, er würde sich hier nicht die mindeste Freiheit erlauben. Cornelius hatte einmal gesagt, jede bessere Kokotte betrage sich würdiger, als so ein Schwabinger Mädel. Nun sah sie, wie recht er hatte; die Kokotten schlugen den Angetrunkenen, die sich öffentlich Freiheiten erlauben wollten, recht unsanft auf die Finger, während die Schwabingerinnen solchen dionysischen Temperamentsausbrüchen gegenüber duldsam, wenn nicht beseligt waren. Sie fühlte jetzt selbst einen Ekel vor alledem.
Cornelius war ein guter Tänzer, und Amélie freute es, wieder einmal richtige Tänze zu tanzen und nicht einfach herumzuspringen, wie auf den Schwabinger Festen. Sie saßen nun abwechselnd eine Zeitlang als Zuschauer in der Loge, dann stürzten sie sich wieder unter die Tanzenden, Cornelius war von sprudelnder Laune, und Amélie kam es vor, als ob sie ihn liebhabe.
So wurde es Mitternacht, der Aschermittwoch brach an, der letzte Faschingsball war zu Ende. Als sie hinaustraten, stand der Mond am Himmel, und Amélie rief:
»Was für eine wundervolle Nacht!«
»Wissen Sie was, Amélie,« sagte Cornelius, »wir fahren bis zum Englischen Garten und gehen dann dort noch ein Stückchen zu Fuß bis nach Ihrem Hause.«
»Ach,« rief sie, »wollen wir nicht noch ins Café Luitpold gehen?«
Das gab ihm wieder einen Stich. Zunächst aber nahm er sich zusammen.
»Gut, wenn Sie wollen.«
Als sie im Auto saßen, stellte er sich lebhaft vor, wie das nun gehen würde. Er hatte die schönsten Stunden seines Lebens hinter sich und fühlte, daß auch Amélie ihm wieder sehr nahe war. Auf dem Ball in der ihr fremden Umgebung hatte sie nicht den Wunsch gehegt, seine Seite nur einen Augenblick zu verlassen; im Gegenteil, sie bedurfte seines Schutzes. Ganz anders würde es im Café gehen. Er kannte das Treiben der Kerle, die am Abend keinen Domino gefunden hatten und sich nun mit wüsten Händen auf die leicht bekleideten Frauen stürzten, die hereinkamen. Dort würden auch gewiß zweifelhafte Bekannte von Amélie sein; alles, was er an diesem Abend gewonnen hatte, stand wieder auf dem Spiel. Wie er sich dazu auch stellte, es würde lächerlich sein. Plötzlich sagte er:
»Amélie, hören Sie einmal: es war heute abend so schön! Ich habe gesehen, daß auch Sie glücklich gewesen sind. Wollen Sie das wirklich wieder zerstören?«
»Wieso denn zerstören?« fragte sie schnippisch.
»Man wird sich auf Sie stürzen, Sie anfassen, kurz, es ist wie auf jenen Festen.«
»Ach, das glaube ich nicht, Oesterots werden auch da sein; sie haben versprochen, nach Mitternacht hinzukommen, und noch viele andere Bekannte sind da. Ich will hingehen.«
»Amélie, ich halte das nicht mehr aus,« stöhnte er. Mühsam rang er mit den Worten. »Amélie, ich liebe dich so rasend, daß mir jetzt alles andere gleichgültig ist. Ich muß es dir sagen, in diesem Augenblick. Eigentlich wollte ich morgen mit dir ins Isartal fahren und es dir dort gestehen. Aber jetzt, wo du wieder in all diese Widerwärtigkeit zurückwillst, jetzt halte ich dich fest, du bist mein, Amélie, ich lasse dich nicht mehr los, du mußt meine Frau werden.«
Er schloß sie in die Arme und erdrückte sie fast.
Amélie war von diesem plötzlichen Ausbruch sehr betreten. Aengstlich machte sie sich von ihm los, ohne eine Antwort zu finden. Sie wollte nun einmal ins Café Luitpold gehen und dort das Ende des Faschings sehen. Nun war die Stimmung des Abends wieder verdorben. Warum hatte er nicht bis morgen warten können? Die Fahrt ins Isartal wäre gewiß sehr schön gewesen. Oh, er war doch ein ganz abscheulicher Tyrann und Egoist!
»Nein,« rief sie erregt, »wir passen nicht zusammen, niemals werden wir zusammen passen. Sie würden mich entsetzlich tyrannisieren. Sie haben im Augenblick die Fähigkeit, eine unglaubliche Macht über mich auszuüben, dann aber, wenn ich mich selber wiederfinde, sehe ich ganz klar, daß ich im Begriff war, mich zu verlieren. Ja, ich gebe es zu, ich bin manchmal einen Augenblick schwach, aber weil Sie gerade diese Augenblicke immer ausnutzen wollen, gerade darum werde ich nie ihre Frau werden.«
Sie waren vor dem Café angekommen, in das sich unter den Bogenlampen eine dichte Menschenmenge schob. Cornelius war wie betäubt. Er bedurfte der äußersten Energie, um in diesem Augenblick nicht irgendeine Torheit zu begehen, laut aufzuheulen oder in irgendeins der derblustigen Gesichter zu schlagen, die sich heiß um ihn und Amélie herumdrängten. In diesem Zustand lag es ihm nun ob, Amélie durch das Gewühl des Saales zu führen. Wie er vorausgesehen hatte, griffen viele Hände nach ihr und faßten sie an ihren nackten Armen.
Plötzlich kam ein als Straßenräuber verkleideter, langer Mensch auf Amélie zugestürzt, ergriff sie am Arm und zog sie von Cornelius weg, indem er laut rief:
»Na, da finde ich dich ja wieder mal! Wo haste denn die janze Zeit jesteckt? Ich dachte doch, du würdest mich mal besuchen?«
Es war Moritz Behrent, der Radierer, dem sie ihren Besuch bei der weihnachtlichen Gebirgswanderung in der Tat versprochen hatte. Amélie ließ sich von ihm fortziehen, und nun befand sich Cornelius allein im Gedränge.
»Gut so,« dachte er, »nun aber mache ich selber Schluß. Die Geschichte ist aus.«
So sehr er an allen Gliedern bebte, es gelang ihm schnell, Haltung zu gewinnen, und er blickte sich um, ob er irgendwo Bekannte finden wurde, mit denen er trinken und das Geschehene vergessen könnte. Da sah er schon an einem Tisch unter den Säulen Oesterot in einem von dunkelblauen und grünen Tönen schillernden indischen Seidegewand. Seine hohe Gestalt überragte alle, er schien eine pathetische Ansprache an die Versammelten zu halten, die ihn fortgesetzt mit lauten, lustigen Zurufen unterbrachen. Kaum sah er Cornelius, als er ihm entgegenkam, ihn mit etwas übertriebener Gebärde in die Arme schloß und sofort an den Tisch holte. Dort war auch Frau Thea und die lustige Baronin Wernitz von den Oesterotschen Jours. Thea trug jenes stahlblaue Kleid, das sie sonst im Hause so trefflich kleidete, die Baronin war in einem Rokokokostüm, zu dem die hohe Frisur ihres schon fast weißen Haares über dem jungen, lebhaften Gesicht ausgezeichnet wirkte. Sie sah aus wie eine Marquise auf einem alten, galanten Stich. An dem Tisch war auch Hermann in einem weißen, mit rotem griechischen Muster umrandeten Gewand, auf seiner einen Seite saß Lina Schüler, wieder als gefangene Barbarin, wie im vorigen Sommer, auf der anderen, zu Cornelius' nicht geringem Erstaunen, Linas behäbige Mutter in weißem Babykostüm, und gegenüber der Fürst Kraminsky in seinem schwarzen Sammetflaus mit dem Barett über dem scharf geschnittenen Kopf. Sofort wurde Cornelius in die allgemeine Lustigkeit hineingezogen, und er setzte sich absichtlich mit dem Rücken gegen den Saal, um nicht zu sehen, was Amélie tat und wo sie war.
»Wo haben Sie denn Amélie gelassen?« fragte Thea, die wußte, daß sie mit Cornelius auf dem bal paré gewesen war.
»Ich weiß nicht,« sagte er zerstreut, »sie hat ein paar Bekannte getroffen, bei denen sitzt sie.«
»Ach, das geht aber nicht,« rief Oesterot, »sie muß unbedingt zu uns kommen. Holen Sie sie doch.«
»Ich werde nachher nach ihr schaun,« sagte er.
Aber er bewegte sich nicht von seinem Platze und war fest entschlossen, sie sich selber zu überlassen. Da kam in montenegrinischer Bauerntracht plötzlich der herkulische Rittmeier an dem Tisch vorbei. Er blieb stehen und begrüßte die ihm Bekannten. Während er die Hand auf den Tisch stemmte, zitterten alle Gläser und Teller. Als er Hermann sah, fragte er ihn:
»Wo hast du denn dein Schwesterchen gelassen?«
»Sie sitzt drüben irgendwo bei belanglosen Leuten, anstatt an die Tafel der Götter zu kommen, wo sie hingehört,« rief Oesterot unzufrieden, »Rittmeier, geh, such' sie und bring' sie hierher.«
»Wo hat sie denn den ganzen Abend gesteckt? Ich habe sie ja gar nicht gesehen.«
»Sie war mit Cornelius auf dem bal paré,« antwortete Frau Thea.
»Und du hast sie auskommen lassen?« sagte Rittmeier ganz verwundert zu Cornelius. »Nein, das gibt es nicht, die Amélie muß an unseren Tisch.«
Er stürzte sich in das Gewühl und kam nach wenigen Minuten zurück, wie ein Seeräuber ein gestohlenes Weib, Amélie auf der Schulter herbeischleppend.
»In einer schönen Proletengesellschaft hab' ich sie gefunden!« rief er aus, indem er sie sanft auf den Boden niederließ. Ein weiches Lächeln lag in ihrem Gesicht, sie schien ganz hingegeben an die Stimmung der Stunde. Für Cornelius, den Störenfried, hatte sie keinen Blick. Hermann fuhr sie vertraulich über die Mähne und rief:
»Guten Tag, Brüderchen, was treibst denn du?«
Dann begrüßte sie Oesterot und Frau Thea in fröhlicher Vertraulichkeit. Sie setzte sich neben Rittmeier, der ihr den Hof machte und seinen montenegrinischen Mantel um sie hing, unter dem er sich mit ihr zusammenkauerte, ihre Hände erfassend, die sie ihm gerne ließ. Cornelius litt unsäglich, manchmal ging er fort in der Hoffnung, irgendein Mädel an den Tisch zu bringen, um Amélie zu zeigen, daß alles aus sei. Aber wie damals auf dem Gauklerfest, gelang ihm keine Anknüpfung. Als er wieder an den Tisch zurückkam, saß auf Amélies anderer Seite Moritz Behrent.
»Na, knutschen Se doch det Fräulein nich so,« rief er Rittmeier zu, was Amélie immer mehr veranlaßte, sich unter Rittmeiers Schutz stehend zu fühlen. So sehr dieser auch ein Draufgänger war, man merkte ihm doch immer den wohlerzogenen Menschen an, und wenn sich auch seine Hände, dem allgemeinen Faschingsstil entsprechend, hie und da verirrten, so waren doch seine Worte niemals roh und verletzend. Behrent, der nicht mitkonnte und sehr wohl fühlte, daß sein Humor immer gerade dann versagte, wenn er sich einmal einen rechten Stoß gegeben und etwas gesagt hatte, was er selber für sehr ulkig hielt, ärgerte sich über Rittmeiers Gewandtheit. Er wollte sich bei Amélie beliebt machen und glaubte nun einen Trumpf auszuspielen, über den er, der Künstler, allein verfügte; er rief über den Tisch anderen Leuten zu:
»Die hat nämlich Talent! Wenn se wollte, die könnte was leisten! Ick habe Sachen von ihr jesehen, janz famos, sag' ick Ihnen.«
Alles das wirkte aber hier nur aufdringlich, auch Amélie war in diesem Augenblick ihr Talent vollkommen gleichgültig.
Bisweilen standen einzelne von dem Tisch auf und gingen zusammen in den Sälen umher, um sich das Treiben anzusehen. Das Baby, Frau Schüler, ergriff Hermanns Hand, zog ihn von seinem Stuhl und rief:
»Komm, Hermännche, mir wolle' e bisje wild sei', nachher kannsde widder zu deiner Lina geh'.« Sie verschwand mit ihm im Gewühl.
Als Oesterot einmal mit der Baronin Wernitz, Rittmeier und Amélie durch den Saal gingen, kamen sie an einer Tür vorbei, vor der zwei Männer in einem Kostüm standen, das dem der bayrischen Hartschiere ähnlich war. Oesterot erkundigte sich, was diese braven Männer so ernst bewachten, und erfuhr, daß dort in einem besonderen Raum der Münchener Prinz Karneval seinen Hof hielt. Da kam Oesterot ein Einfall. Er ging mit seinen Freunden zum Tisch zurück und schlug vor, sie wollten zusammen eine Gesandtschaft des rheinischen Prinzen Karneval darstellen – der größte Teil der Gesellschaft bestand in der Tat aus Westdeutschen – und dem bayrischen Prinzen Karneval ihren Gruß entbieten. Sofort wurde Oesterot als der Sprecher erwählt. Man legte die Stühle an die Tische und begab sich nach jener geheimnisvollen Tür, vor der die beiden Hartschiere standen. Oesterot ging voraus zwischen Amélie und der Baronin Wernitz, um deren Schultern er seine Arme legte und redete feierlich den einen der Hartschiere, einen stumpfsinnig blickenden Kerl mit blondem Seehundsschnurrbart an:
»Gebe er hinein zu seinem Prinzen und entbiete er ihm den Gruß seines erlauchten Vetters vom Rhein.«
Der Hartschier blickte ihn mit etwas glasigen Augen an und fragte dann:
»Wos wullen's?«
Oesterot wiederholte noch deutlicher das, was er eben gesagt hatte. Eine Reihe von Masken blieben stehen, um der »Hetz« beizuwohnen. Aber der Hartschier verstand immer noch nicht und wendete sich an seinen Kollegen, ein verhutzeltes Männchen mit dürftigem Stoppelbart in seinem mageren Altmännergesicht.
»Was will denn der Herr?« fragte dieser beinahe liebenswürdig.
Oesterot sagte:
»Ihr seid doch die Hartschiere des Münchener Prinzen Karneval?«
»Jo, jo,« erwiderte der Mann, »des san mer.«
»Gut, am Rhein da residiert ein anderer Prinz Karneval, von dem sind wir geschickt, um Eurem Prinzen Karneval seinen Gruß zu entbieten.«
»Ja so,« sagte das bedenkliche alte Männchen, »ja, da missen S' amal mit dem Herrn Festvorstand sprechen.«
»Er meint den Zeremonienmeister des Prinzen,« sagte Oesterot, »bringe Er ihn her.«
»Ja, des wird net gehn,« sagte der Alte, »der Herr Hinterhuber is halt jetzt sehr beschäftigt.«
»Mich gelüstet, ein Wort mit diesem Hinterhuber zu reden,« versetzte Oesterot.
Alle Anwesenden brachen in Gelächter aus über das dauernde Mißverständnis der Lage durch die beiden hilflosen Hartschiere. In diesem Augenblick kam der Geschäftsführer des Lokals und rief unliebenswürdig:
»Ja, was gibt's denn hier? Was ist denn hier los? Bitte, meine Herrschaften, die Passage muß frei bleiben. Stehenbleiben ist nicht erlaubt.«
Da faßte Oesterot den Geschäftsführer, einen sehr feierlichen, untersetzten Mann mit blondem Spitzbart und in langem Gehrock, bei der Schulter und sagte zu ihm:
»Bringe Er mir diesen Hinterhuber tot oder lebendig herbei, daß er uns zu seinem Herrn und Gebieter, dem Münchner Prinzen Karneval führe.«
»Naa, des gibt's nicht,« sagte der Geschäftsführer fast hochdeutsch, »des gibt's nicht! Das ist eine Prifatgesellschaft, da kann ich Ihnen nicht hineinlassen.«
»Als diplomatische Gesandtschaft,« fuhr Oesterot fort, »genießen wir die Rechte der Exterritorialität. Alle Türen öffnen sich uns.«
»Nein, nein, das geht nicht, meine Herren,« sagte der Geschäftsführer, immer unruhiger werdend, »die Passage muß frei bleiben! Meine Herrschaften, die Passage muß frei bleiben!«
Ein großes Getümmel erhob sich. Alles mögliche wurde durcheinandergeschrien: »Des is keine Art nicht!« »Saupreißen«, »rumspringen doan's wie die Geisbeck«. Gleichzeitig gerieten zwei Norddeutsche aneinander: »Mein Herr, ich verbitte mir das!« »Wie kommen Sie denn dazu?« »Wer ich bin? Wer sind denn Sie?« Andere riefen: »Ausreden lassen!« Und einige brüllten das Lied:
»Menschen, Menschen san mer alle
Fehler hat a jeder gnua!«
Plötzlich gab Rittmeier Oesterot ein Zeichen und faßte mit seinen Athletenarmen den Geschäftsführer an dem einen Bein, Oesterot, dem es an körperlicher Kraft auch nicht gebrach, faßte ihn an dem anderen, und nun hoben sie die von ihrer Würde so überzeugte Persönlichkeit hoch in die Luft und trugen sie durch den Raum, indem sie, von einem Menschenknäul gefolgt, schrien:
»Die Passage muß frei bleiben! Die Passage muß frei bleiben!«
Die Gesandtschaft des rheinischen Prinzen Karneval aber mußte auf die Audienz bei dem Münchner Prinzen Karneval verzichten.
»Jetzt lassen S' mich herunter!« rief der Geschäftsführer, fortgesetzt erregt mit den Armen in der Luft umherfahrend.
Der Oberkellner bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und rief:
»Jetzt is gnua, meine Herren, jetzt lassen S' den Herrn Käsbohrer herunter.«
»Das ist nun der Münchener Hamur,« sagte Rittmeier, während er mit Oesterot zusammen den unglücklichen Geschäftsführer wieder auf den Boden setzte. »Die Passage muß frei bleiben, das ist die Hauptsache.«
Das Opfer seiner Pflicht ging wütend hinaus, offenbar in der Absicht, den stierartigen Hausknecht kommen zu lassen, der in den meisten Münchener Lokalen irgendwo im Hintergrund gehalten wird, um gelegentlich unliebsame Elemente mit Brachialgewalt an die Luft zu befördern. Von diesem Vorhaben aber sah der Gekränkte bald ab. Man erblickte ihn noch in einer Ecke mit wütenden Gebärden, während mehrere ältere Kellnerinnen ihn friedlich stimmten.
»Jetz' olderier'n S' Eahna net so, Herr Käsbohrer, 's is halt Fasching.«
Bald darauf ging er wieder, wie es sein Amt war, mit geglättetem Antlitz und höflich grüßend in dem Raum umher, zupfte seinen Gehrock zurecht und sorgte dafür, daß die Passage frei blieb.
Nach diesem Zwischenfall ebbte die Stimmung merklich ab. Manche dachten ans Heimgehen. Da sagte plötzlich Fürst Kraminsky, der sich sonst von dem Fasching fernhielt und nur den Fastnachtsdienstag zu feiern pflegte:
»Meine Herrschaften, kommen Sie alle mit in mein Haus, wir werden dort den Rest der Nacht verbringen. Ich kann Ihnen nach einem alten Rezept der polnischen Könige einen Punsch bereiten.«
Dieser Vorschlag wurde sofort angenommen, man brach auf, und in mehreren Wagen fuhr die Gesellschaft nach dem Haufe des Fürsten. Nur Frau Schüler, das Baby, mußte nach Hause, sie fuhr mit Ludwig Stehr, der in einem schwarzen Gehrock erschienen war, um sie abzuholen. Er selbst beteiligte sich nicht an Festen und war nun schon eine Stunde, ihren Abendmantel auf dem Arm, wartend dagesessen, in seinem großen Schnurrbart wühlend.