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Herr und Frau Dr. Cornelius begaben sich auf ihre lang geplante Reise. Nach einigen Tagen, in denen es immer wieder kleine Zwistigkeiten gab, erreichten sie den Ortasee, wo sie einige Zeit zu verweilen gedachten. Orta ist eine kleine, alte Stadt von zerbröckelnder Pracht mit üppigen Gärten am Seeufer, fern sieht man die milden und doch kräftigen Bergformen. Die Häuser haben Atrien, durch die Durchblicke von den engen Gassen aus auf den See möglich sind.
Möblierte Wohnungen gab es kaum oder sie waren in zu schlechtem Zustand. Nachdem Cornelius zehn- oder zwölfmal vergebens treppauf, treppab gelaufen war, immer mit der brummenden Frau an der Seite, verließ ihn fast die Geduld. Sie setzten sich erschöpft auf eine Bank in einer öffentlichen Anlage. Da beobachteten sie einige Schritte entfernt auf einem niedrigen Gemäuer einen Mann mit einer riesigen blauroten Nase, die wie aus lauter Trauben zusammengesetzt war, bei seinem Mittagsmahl. Vor ihm stand ein zerbrochener Topf, in den er abwechselnd eine rote Tomaten- und eine grüne Peperonischeibe tauchte, ehe er sie in den Mund führte.
Cornelius stand auf und sah ihm lächelnd zu.
»S'accomodi,« sagte der Mann mit höflicher Gebärde und wies ihm, weiteressend, einen Platz auf der Mauer an. »Kann ich Ew. Exzellenz mit etwas dienen? Ich bin Tromba (= Rüssel), a cosa del mio naso!« Er deutete auf seine Traubennase.
»Ja, vielleicht kannst du mir dienen,« antwortete Cornelius belustigt. »Ich suche eine Wohnung für die Signora und mich, für ein paar Wochen. Wir wollen nicht im Gasthof wohnen. Schon den ganzen Vormittag sind wir vergeblich herumgelaufen.«
»Bagatelle,« erwiderte Tromba und trank, nachdem Tomaten und Peperoni verspeist waren, den Essigtopf aus. »Andiamo.«
Sie folgten dem Mann durch einige Straßen, in denen sie bereits die Schilder an den Geschäften kannten, und wurden in ein Haue geführt, wo Tromba eine demütige Vertraulichkeit zeigte. In einem angenehm kühlen, kaum möblierten, dämmerigen Raum stand ein Leinwandsessel mit dem Rücken gegen die Tür; über die Lehne ragte, wie der aufgehende Mond, ein kahler Schädel. Dann wurde ein großer rostiger Schlüssel nach rückwärts gereicht. Tromba ergriff ihn und führte das Paar wieder hinaus.
»Das war der Eigentümer,« sagte er, »wenn es heiß ist, bewegt er sich nicht und spricht nichts.«
Sie zogen in einen leerstehenden, notdürftig möblierten Palast am See. Unter der Treppe war ein Ziehbrunnen mit rasselnden Ketten. Tromba schickte seine einäugige Frau zur Bedienung.
Amélie fand diese Umgebung zunächst romantisch, und so ging anfangs alles gut, zumal sie sich in den großen Räumen etwas fürchtete. Nachts wollte sie immer bei Cornelius schlafen. An den Palast stieß ein kleiner Blumengarten, der bis an das Ufer reichte. Man konnte die Morgentoilette im See machen, und kam dann mit nassem Haar zurück, die bloßen Füße an dem schon sonnenwarmen Grase trocknend.
An einem der nächsten Abende fuhren sie mit dem Boot hinüber nach Pella. Nach Landessitte ruderte eine kräftige Frau. Sie aßen dort in der abendlichen Laube; bei der Heimkehr über den mondbeschienenen See lehnte sich Amélie an Cornelius' Schulter.
»Ach, ich bin manchmal so traurig,« sagte sie zu ihm, während sie eine Hand in das sommerlich warme Wasser tauchte.
Er rückte nahe zu ihr und fragte:
»Aber warum denn, Amélie, kannst du mir das sagen?«
»Wenn ich daran denke, wie ich innerlich heruntergekommen bin!« antwortete sie und begann nun auf einmal dem erstaunten Cornelius ein sonderbares Geständnis abzulegen.
»Du weißt nicht, wie ich früher vor allem Großen und Schönen auf den Knien gelegen bin, z. B. wenn ich eine Beethovensche Sinfonie hörte oder ein Shakespearesches Drama oder eine großartige Landschaft sah, aber das ist nun alles vorbei. Ich bin ganz abgestumpft gegen alles. Nun bin ich hier in der schönen Natur, aber ich fühle nicht mehr die Wirkung in mir wie früher, als ich in Italien war. Ich bin wie ein Sünder, der nicht mehr beten kann. Ach, du hättest mich früher kennenlernen müssen, da war ich eine andere. Da hätte ich auch gut zu dir gepaßt.«
Cornelius war einen Augenblick erschüttert und suchte sie zu trösten, er wolle ihr helfen, daß alles das Verlorene wiederkomme. Er dachte nicht daran, daß Amélie in der letzten Zeit einige Romane gelesen hatte, die ihr das Material zu diesem Geständnis lieferten.
Cornelius gefiel es in dem alten Palazzo immer besser. Er liebte den Süden und verstand die Art des dortigen Lebens. Sowie die Morgensonne die Fenster traf, schloß er alle Läden und es freute ihn, sich in die grünliche Dunkelheit zu vergraben, während man durch einen Spalt im Laden draußen auf dem See die weiße Mittagsglut zittern sah, in der Segelboote dahinzogen.
Eines Tages begann er zu arbeiten, und es ging ihm gut von der Hand. Es war so heiß, daß sie keinen Spaziergang machten. Statt dessen badeten sie gegen Abend noch einmal im See. Sie saßen in ihren Bademänteln auf den Ufersteinen im Garten. »Ich möchte nur noch Dinge schaffen,« sagte er, zufrieden mit seinem Tag und bezaubert von dem abendlich violetten See, »die ganz aus unserer Gemeinschaft stammen und jedes Wort, was ich schreibe, soll dich als Publikum haben. Es ist nicht wahr, daß der Künstler um seiner selbst willen schafft, er will die Bilder, die er in sich trägt, anderen sichtbar machen.«
Darauf antwortete Amélie, während sie mit der großen Zehe ihrer rosigen Füßchen Seewasser aufspritzte:
»Du denkst eben immer nur an dich, auch ich möchte schaffen.«
»Hindere ich dich etwa daran,« antwortete Cornelius etwas gereizt.
»Vielleicht nicht du persönlich,« erwiderte sie unsicher, »aber diese unselige Ehe.«
»Und wer hat dich vor dieser unseligen Ehe daran gehindert?« fragte er scharf.
Mit einem haßerfüllten Blick ging sie ins Haus, um sich anzukleiden. Cornelius blieb noch eine Zeitlang in der lauen, rosigen Abendluft sitzen. Er dachte an seine früheren Reisen zurück. Wohl war da mancher Abend herber Einsamkeit gewesen, wo er gefühlt hatte, daß alle Schönheit der Welt unvollkommen ist, solange man sie nicht der Geliebten zeigen kann. Und doch wieviel tiefer und lebendiger waren jene Abende, da sein Fuß, ohne das herabzerrende Gewicht dieses ewig unzufriedenen Weibes, auf langen Wanderungen die staubige Erde schlug im kühlen Anhauch der Berge und Seen, und heimkehrend die noch warmen Steine einer belebten Stadt unter den Sohlen spürte. Wie entrückt in jene Zeit saß er da, als er Amélies Stimme vernahm, die in dem Palazzo Trombas einäugiger Frau Aufträge für das Abendessen gab. Hier waren doch eigentlich alle Vorbedingungen zum romantischsten Glück erfüllt. Wie viele Paare würden sie beneidet haben, die gezwungen waren, ihre Liebe in banale Großstadthäuser zu vergraben!
Am Abend gingen sie unversöhnt zu Bett, den nächsten Vormittag wurde kaum ein Wort gesprochen. Dann gingen sie zu Tisch. Sie speisten in einem schattigen Garten in der Nähe. Amélie war in München blutarm geworden, und so kümmerte sich Cornelius mit Eifer darum, daß sie sich gut ernährte.
Aus Trotz rührte sie die Speisen kaum an. Nachher erklärte sie, eine Stunde allein spazierengehen zu wollen. Es war das erstemal, daß sie einen derartigen Wunsch äußerte, so daß Cornelius etwas ängstlich wurde, was sie wohl vorhaben könne. Er ging allein nach Haus.
Es war ein grauer, entnervender Schirokkotag von fiebriger Hitze. In der Luft lag etwas wie ein leicht salpetriger Geruch. Noch vor einer Stunde war die Atmosphäre quälend still gewesen. Jetzt erhob sich ein heißer Wind, der alles mit Staub erfüllte. Er drang fein in Nase und Hals, überall dörrende Trockenheit verbreitend. Der Himmel wurde dunkler als der bleich flimmernde See. Hohe, düstere Zypressen schienen wie stöhnend vor Schmerzen ihre Aeste zu recken. Die Läden klapperten an den Häusern. Aber es kam kein Regen. Die grauen Wolken, die Dunkelheit verbreiteten, waren aus Staub. Wenn dieser Wüstenwind naht, rennt im Süden alles nach Hause und schließt Türen und Fenster, um das Eindringen des Staubes zu hindern. So tat auch Cornelius.
Amélie hatte gesagt, um drei Uhr wollte sie wieder zurück sein. Er ging erregt, in Schweiß gebadet, in dem saalartigen Zimmer auf und ab und malte sich die schrecklichsten Dinge aus. Wer weiß, bei ihrer Unberechenbarkeit stellte sie irgendein Unglück an! Da sah er ihren Morgenrock an einem Nagel hängen und einen dunkelblauen Schal, den sie bisweilen umhing, wenn sie abends noch hinaus an den See gingen. Er lehnte den Kopf an diese Kleidungsstücke, in denen ihr Duft hing, und Tränen traten ihm in die Augen.
Um halb vier Uhr kam sie zurück und beachtete Cornelius kaum.
Abends wehte eine leise Tramontana. Es war kühl und frisch wie nach einem Gewitter. Die Rosen und Oleander dufteten im Garten. Hie und da schlug eine Nachtigall.
Indessen fühlte Cornelius, daß in ihm ein neues, einsames Leben fern von Amélie zu reifen begann, er wurde ruhiger, alles um ihn her nahm größere Formen und stärkere Tiefen an. Zuerst wurde ihm dieses Neue eines Morgens bewußt, als er gegen sechs Uhr hinausgegangen war. Eine Viertelstunde von dem Palazzo entfernt stand am Seeufer ein alter Feigenbaum, der seine großen Blätter an gewölbten Aesten über eine kleine Ausbuchtung des Ufers hing. Cornelius badete, und während er sich von den frühen, doch schon warmen Sonnenstrahlen trocknen ließ, trat ein Mann mit großem, grauem Bart und ungemein milden Augen, einen Melkkübel unterm Arm, aus einer Hütte und begrüßte ihn. Ob er denn nicht Angst habe, sich ein Fieber zu holen?
»Nein, Sonne und Wasser bringen kein Fieber,« erwiderte Cornelius.
Dann stockte die Unterhaltung. Der Alte ging nach einem kleinen Holzgehege, in dem eine Ziege ungeduldig mit den Hörnern an die Latten schlug. Er ließ das Tier heraus und molk das kissenartige Euter in den Kübel. Cornelius sah seinem ruhigen, wie selbstverständlichen Handeln zu. Als der Alte fertig war, ließ er die Ziege frei herumlaufen und rief Cornelius noch einmal zu: »Gute Gesundheit« und ging wieder in die Hütte.
Während Cornelius sich ankleidete, fühlte er eine beglückende Klärung in sich, und als er den weichen Pfad zum Palazzo zurückging, fragte er sich, was ihn so glücklich gemacht hatte. Es war ihm, als ob die Ziege, die Hütte und der Alte sonst nicht da, nur heute für ihn hingezaubert seien, um ihn an irgend etwas Einfaches, Gutes zu erinnern, was er sonst vergessen hätte, nun aber wieder wußte. Von jetzt ab würde alles in ihm wieder gerade und aufwärts gehen. Voll einer stillen Seligkeit, als wisse er nun etwas Besonderes vom Leben, ging er heim.
Amélies Launen beachtete er nicht mehr, er ließ sie murren und Gesichter schneiden, so daß Auftritte unmöglich wurden. Nachts sanken sie sich oft wortlos in die Arme. War Amélie heiter, so ging er darauf ein. Suchte sie Streit, dann ging er allein spazieren.
Sein einäugiges Weib hatte Tromba von der bevorstehenden Abreise des Paares unterrichtet. Eines Tages steckte er seine Himbeernase durch die Tür und erklärte, erstens wolle er den Exzellenzen einen Besuch machen, zweitens sich erkundigen, wann er das Gepäck an den Bahnhof besorgen könne. Sie kehrten über Mailand zurück.
Bald darauf war das Paar wieder in München. An einem der ersten Abende kamen Hermann und Lina zum Abendessen. Cornelius war über Hermanns kühle Zurückhaltung etwas erstaunt, und als er ihn nach dem Essen allein in seinem Arbeitszimmer sich gegenübersitzen hatte, brachte er ihn zum Sprechen. Hermann gab zu, während er ein Stückchen Siegellack zerkrümelte, sehr verstimmt gegen Cornelius zu sein wegen der Art, wie er seine Schwester behandele.
»Was meinst du damit? Hat sie sich bei dir beklagt?«
Nun holte Hermann aus seiner Tasche einen Brief, den Amélie von Mailand an ihn geschrieben hatte. Sie teilte dem Bruder folgendes mit:
»Ich sitze hier in der schrecklichsten Lage meines Lebens. Mein Mann ist auf und davon gegangen, ohne zu sagen, wohin und hat mich hier im Hotel eingeschlossen. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas zu essen bekommen werde, und ich kann auch nicht durch das Fenster auf die Straße herunterrufen, da ich ja die Sprache kaum kenne. Stelle dir vor, ich sitze in einer fremden Stadt und weiß nicht, wie das enden soll.«
Daraus, daß dieser Brief überhaupt abgeschickt worden war, hatte Hermann schließen können, daß die Lage sich irgendwie geklärt haben mußte, aber trotzdem fand er es brutal von Cornelius, so zu handeln. Dieser fragte:
»Weiß Lina davon?«
»Jawohl,« erwiderte Hermann, »sie hat den Brief gelesen.«
»Gib mir den Brief,« verlangte Cornelius und führte Hermann in das Zimmer, wo die beiden Frauen noch am Tisch saßen. Cornelius zeigte Amélie den Brief und sagte:
»Bitte, willst du vielleicht die Freundlichkeit haben, die Worte dieses Briefes zu erklären.«
Amelie wurde bleich und antwortete zunächst nicht. Cornelius drang in sie, und nun sagte sie:
»Was ist da zu erklären? Du weißt doch selbst, wie es gewesen ist.«
»Allerdings weiß ich das, aber es war doch wohl anders, als du es in diesem Brief schreibst. Wann habe ich dich jemals in einem Hotelzimmer eingesperrt?«
»Oh, damals in Mailand; du wirst es doch nicht in Abrede stellen wollen?«
»Du wirst dich entsinnen, daß die Tür nicht verschlossen war, daß du Geld in der Tasche hattest, daß ich ausdrücklich von einem Nachmittagsausflug gesprochen habe, also zum Nachtessen zurückkehren würde, und daß der Kellner beauftragt war, dir um halb fünf Tee zu bringen, den du auch getrunken hast. Um sechs Uhr war ich wieder zurück. Alles, was du hier schreibst, ist Lüge und Verleumdung.«
»Ich habe ja nicht gesagt, daß du die Tür zugeschlossen hast,« antwortete sie mit überraschender Dreistigkeit, »aber das ist doch so gut wie eingesperrt, wenn du weggehst und mich in einem fremden Hotel zurückläßt, wo ich kein Wort von der Sprache verstehe.«
Cornelius sagte zu Hermann und Lina:
»Nun, ich glaube, das genügt. Ihr werdet jetzt beide wissen, was ihr von diesem Brief zu halten habt.«
Nun suchte Lina Amélie beizuspringen und sagte:
»Aber warum hast du sie denn überhaupt allein gelassen? Wahrscheinlich hat sie das so nervös gemacht, daß sie sich in dem Augenblick wirklich nicht Rechenschaft davon gab, ob alles, was sie schrieb, im einzelnen stimmte. Die Hauptsache ist doch richtig, sie mußte in dem fremden Hotel allein bleiben.«
»Ueber die Gründe, warum ich einmal ein paar Stunden allein sein wollt«, kann ich euch leider keine Auskunft geben, da müßte ich euch zu tief in unsere Ehe hineinblicken lassen.«
Cornelius gewöhnte sich nun mehr und mehr an den Gedanken, daß diese Ehe in irgendeiner Weise ein Ende finden müsse.