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Nachdem Gertrud Holmstein verlassen, quälte sie eine tödliche Unruhe über den Ausgang des Zweikampfes. Sie und Haßfeld hatten sich nicht mehr gesehen, er blieb an dem Abend unsichtbar, früh am andern Tage reisten Stürzkobers ab, und Wochen vergingen, ehe sie etwas erfuhr. Sie konnte niemand bitten, ihr zu schreiben, und die Korrespondenz zwischen Herrn Gärtner sen. und seiner Schwester war keine eifrige.
Keine Kunde drang bis in die entfernte Gegend, kein Wort, das ihr Gewißheit gab. Sie sah durch die seelischen Kämpfe so angegriffen aus, als ob sie eine schwere Krankheit durchgemacht hätte.
Es fragte niemand danach, sie wurde ja bezahlt und mußte die hohe Gage verdienen. Wer kümmert sich viel um die Freuden und Leiden einer armen Gouvernante?
Sie waren schon beinah einen Monat zu Hause, da erzählte ein Freund Herrn Stürzkobers, der aus Berlin kam, daß Haßfeld tödlich verwundet sei, es hieß, er habe einen Unfall auf der Jagd gehabt; man vermute aber, daß ein Duell der wahre Grund gewesen.
»Der arme Teufel, er hat kein beneidenswertes Los mit dieser Frau,« fuhr der alte Herr gesprächig fort, »sie soll ihn übrigens so gut, wie sie es eben versteht, pflegen.«
»Was mag wohl die Ursache gewesen sein, und wer war sein Gegner?« fragte Frau Stürzkober voll Neugier.
»Ich weiß es nicht, eine Meinungsverschiedenheit beim Kartenspiel, ein schnell übelgenommenes Wort; Franz Gärtner ist seitdem verreist, man glaubt, Haßfeld habe sich mit ihm geschossen.«
»Haßfeld muß doch durch seine Frau sehr reich sein, meinte der Hausherr. »Der alte Bierbrauer Schmidtchen war ein Millionär, wie ich hörte.«
»Ja. Und er war so rücksichtsvoll, gleich nach der Heirat zu sterben, das junge Paar war noch auf der Hochzeitsreise. Die Schwiegermutter lebte zuerst bei ihnen und machte Haßfeld das Leben sauer. Zum Glück verzankte sie sich mit der Tochter und zog fort, sie ist in der Schweiz und belästigt den Schwiegersohn nicht weiter.«
Gertrud eilte, sobald man den Tisch verließ, in ihr Zimmer. Die verschiedenartigsten Gefühle durchtobten ihr Herz, Sie hatte fortwährend an Haßfeld denken müssen, seit der heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und Gärtner. Männlich und energisch hatte er dagestanden, es war doch Schneidigkeit in ihm. Sie vermißte den Mangel an Festigkeit und Stahlkraft früher oft, jetzt sagte sie es sich mit scheuer Freude, daß es nur des zündenden Funkens bedurft hatte, um diese Eigenschaften zu wecken, die sie beim Mann besonders hoch stellte.
Daß er für sie litt und vielleicht starb, erschütterte sie so mächtig, daß sie keinen andern Gedanken hegen konnte. Wie sehnte sie sich darnach, zu ihm hinzueilen, ihn zu pflegen; und wenn er wirklich dem Tode unrettbar anheimfiel, dann hätte sie ihm das Geheimnis ihres stolzen Herzens verraten, sie hätte es ihm nur einmal sagen müssen, daß er ihr teuer gewesen, seit jenen Tagen im sonnigen Italien. Erst jetzt, wo sie ihn verlieren sollte, wußte sie es, wie namenlos sie ihn liebte, und da sie ihn sterbend glaubte, schien es ihr kein Unrecht mehr.
Haßfeld hatte seinem Gegner gegenübergestanden mit dem traurigen Lächeln auf dem bleichen Gesicht, dann war er lautlos zusammengebrochen.
Franz Gärtner trat tief erschüttert auf ihn zu, der Verwundete winkte ihm, sich zu ihm niederzubeugen und flüsterte mit schwacher Stimme: »Bitte, schweigen Sie über den Grund des Zweikampfes, es ist vielleicht der letzte Wunsch eines Sterbenden.«
Der junge Mann versprach es bewegt und hielt Wort, er verreiste auf ein Jahr, und als er wiederkam, dachte niemand mehr an die Sache.
Die Zeit, die Gertrud jetzt verlebte, war für sie die schwerste ihres Lebens. Einmal hieß es, Haßfeld sei bereits seiner Wunde erlegen, dann wurde dieses Gerücht widerrufen, man sprach von langem Siechtum. Endlich, kurz vor Weihnachten schrieb Frau Gärtner, daß es ihm besser gehe und er nach Berlin gebracht sei, um später nach Mentone zu reisen. Gertrud sank, als sie allein war, auf die Kniee und dankte Gott im heißen Gebet für seine Rettung.
Jetzt, wo er am Leben blieb, suchte sie ihrer Liebe Herr zu werden; dem Toten wäre sie nachgefolgt, dem Lebenden durfte sie nicht gehören, das sagte sie sich in stummer Qual, und der aufreibende Kampf begann aufs neue.
Das Wiedersehen der Geschwister in Berlin war ein sehr freudiges. »Wie wohl und stattlich du aussiehst, lieber, alter Axel,« rief Gertrud, ihn immer wieder umarmend, »wie glücklich bin ich, daß du bei uns bleibst!«
Die zwei Jahre hatten ihn vorteilhaft verändert, er sah frisch und heiter aus und trug einen schönen, dunkeln Vollbart. Seine Gestalt war breiter und kräftiger geworden, während sie nichts an Geschmeidigkeit eingebüßt, die ernsten, grauen Augen hatten noch immer den sonnigen Ausdruck, wenn er lachte. Er sah sehr elegant und vornehm aus, das Bild blühender Männlichkeit.
»Ich kann dir leider nicht dasselbe sagen, Liebling,« erwiderte er zärtlich, »jetzt, wo die Erregung des Wiedersehens vorüber ist, bist du bleich und siehst zart aus, deine Augen blicken nicht eben fröhlich. Quält dich etwas, Trudchen?«
Sie verbarg den Kopf an des geliebten Bruders Schulter und verneinte hastig.
»Ich werde mich schon daheim erholen, Axel, ich war in letzter Zeit sehr viel mit Stunden überbürdet.«
»Ich lasse dich auch nicht wieder fort, mein Schwesterchen,« versetzte er, ihr weiches Haar streichelnd, »du darfst nie mehr eine Stelle annehmen; ich verdiene jetzt genug, damit du bei der Mutter bleibst.«
Später saßen sie Hand in Hand und sprachen über alles, was sich in der Zeit ihrer Trennung zugetragen; von Egons Heimkehr und Tod, von der Mutter Leiden, von Heimchen und den Unzertrennlichen. Axel mußte einige Tage in Berlin bleiben, da er Geschäfte hatte; Gertrud benutzte die Zeit, um für ihre Lieben Weihnachtseinkäufe zu machen.
Es herrschte schon ein geschäftiges Treiben auf den Straßen und in den Läden; sie fragte sich oft mit bangem Herzklopfen, ob sie Haßfeld sehen würde? Es konnte nur ein höchst unwahrscheinlicher Zufall in der großen Stadt sein, sie wußte nicht einmal, wo er wohnte und ob er nicht bereits nach dem Süden abgereist war. Eines Tages trafen sie doch zusammen, es schien ihnen beiden wie eine höhere Fügung des Schicksals.
Es war in der Leipzigerstraße, Gertrud ging von einem Laden in den andern, da sah sie eine elegante Privatequipage vor einem derselben halten. Ihre Augen streiften gleichgiltig über den darin sitzenden Herrn. Sie blieb wie angewurzelt stehen, es war Haßfeld, er sah noch sehr krank aus, so als könne er sich noch nicht recht entschließen, wieder zu leben, als habe ihn der Knochenmann nur ungern freigelassen.
Auch er erkannte sie und zog grüßend den Hut, wobei eine große Freude seine traurigen Augen verklärte. Gertrud war an den Wagen herangetreten, ihre Hände ruhten ineinander, ihre Blicke fanden sich, nur die Worte fehlten, das unerwartete Wiedersehen hatte sie allzumächtig ergriffen.
»Wie geht es Ihnen?« fragte sie endlich sehr leise. »Ich habe mich seit Wochen nach Nachrichten gesehnt.«
Er lächelte trübe. »Sie sehen, ich lebe noch,« antwortete er, und eine trostlose Verzweiflung gab sich in den wenigen Worten kund.
»Bleiben Sie jetzt hier?« fragte sie, nur um etwas zu sagen.
»Nein. Ich, – wir gehen in acht Tagen zu meiner Mutter nach Mentone, die Ärzte wünschen es.«
Die Gleichgiltigkeit seines Tones verriet deutlich, wie einerlei ihm alles war.
Ein beklommenes Schweigen, dann der hastig gesprochene Abschied: »Leben Sie wohl, Herr von Haßfeld, und Gott behüte Sie!«
»Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein,« gab er zurück, den Hut lüftend und sie grüßend.
Sie reichten sich nicht die Hand und vermieden es, sich anzusehen. Seine Augen folgten ihr, als sie so hoch und vornehm die Straße hinabschritt; wie von einem magnetischen Strom berührt, wandte sie sich noch einmal um und schaute zurück. Frau Rosalinde von Haßfeld war aus dem Laden getreten und gestikulierte und sprach lebhaft, ehe sie einstieg und der Wagen davonrollte. – – –
Mit großer Sehnsucht und Ungeduld erwartete man die Reisenden in D. Heimchen und die Schwestern rüsteten das Fest und hatten alle Hände voll zu thun.
Tante Dora blieb bei Frau von Brenken, während die drei jungen Mädchen den beiden ältesten Geschwistern zum Bahnhof entgegen gingen. Die Badekur in Rehme hatte der Kranken wunderbar gut gethan, sie war fast von ihren Schmerzen befreit und konnte besser gehen. Sie sah frischer aus, und heute lag ein Ausdruck tiefinnerlichen Glückes auf ihrem feinen Gesicht.
Sie saß auf ihrem Stuhl am Fenster, ihre dunkeln, noch immer schönen Augen ruhten auf den Bildern ihrer Kinder, die vor ihr an der Wand hingen. Wie freute sie sich, Gertrud und Axel wiederzusehen, ihren Ältesten besonders, den sie zwei lange Jahre entbehrt, der ihr in der trübsten Zeit ihres Lebens Stütze und Halt gewesen war. Auch an Egon dachte die Mutter mit einem stillen Gebet, sie ahnte nicht, wie weit ihn sein Leichtsinn fortgerissen, die Liebe ihrer Kinder hatte es ihr verheimlicht. Ihr kleiner Willy, der ihr so früh genommen, ruhte nun schon zwei Jahre auf dem Friedhof, sie wußte das zarte Kind wohlgeborgen im ewigen Vaterhause und sehnte ihn nicht zurück auf diese Erde, wo er so viel gelitten hatte. – – –
Der strahlende Glanz der Weihnachtskerzen spiegelte sich in den frohen Gesichtern der Mutter und ihrer fünf wieder vereinten Kinder. Tante Dora und Doktor Hansen gehörten so ganz zur Familie, daß sie selbstverständlich die Bescherung mitansehen mußten.
Axel lernte den alten, freundlichen Mann erst jetzt kennen und dankte ihm in warmen Worten für das, was er in seiner Abwesenheit an den Seinen gethan hatte.
Ilse und Erna sollten zu Ostern eingesegnet werden; sie waren fast so groß wie Gertrud, zwei hübsche blonde Mädchen, rosig und blauäugig, voll frischer Heiterkeit und Schelmerei.
Im Sommer hofften sie, mit einem guten Examen die Schule zu beenden. Der Doktor bat Frau von Brenken, ihn das Schulgeld für die Unzertrennlichen bezahlen zu lassen, da es für dieses letzte Semester ziemlich hoch war. Als sie Einwände erhob, sah er sie mit den kleinen Augen bittend an und sagte, mit bei ihm ungewöhnlich weicher Stimme: »Wenn Sie mich nun damals genommen hätten, wären es meine Mädel, und ich müßte ohnehin für sie sorgen.« Es war das einzige Mal, daß er ihr gegenüber seiner Jugendliebe erwähnte; Heimchen war zugegen und flüsterte der Mutter zu, seinen gütigen Vorschlag anzunehmen, und als sie es that, dankte er ihr so herzlich, wie wenn er ihr Schuldner sei, der eine Wohlthat empfangen habe.
Kein einziges Gesicht sah aber so glücklich aus, wie das Heimchens, sie steckte immer mit Tante Dora zusammen, flüsterte mit ihr und saß oft in ihrer Stube.
»Wem schreibst du eigentlich so viel?« fragte Ilse neugierig. »Jedesmal, wenn ich in Tante Doras Stube trete, finde ich dich vor einem dichtbeschriebenen Briefblatt.«
Sie lachte etwas verlegen und erwiderte: »Kleine Mädchen brauchen nicht alles zu wissen, sie werden sonst bald alt, Schwesterchen!«
»Du Liliput!« versetzte Ilse neckend, »ich bin kein kleines Mädchen mehr, da ich einen halben Kopf größer bin als du.«
»Kind,« hatte Tante Dora gesagt, »es ist kein Grund, deine Verlobung mit Robert noch länger geheim zu halten. Gertrud bleibt jetzt zu Hause, es geht deiner Mutter viel besser, und ich werde in Zukunft mehr bei ihr sein. Schreibe deinem Bräutigam, daß er sobald wie möglich kommt und bei Axel und deiner guten Mutter um dich wirbt.«
Und so geschah es denn auch; Warnbeck kam gleich nach Weihnachten, er sagte Frau von Brenken, daß sie sich schon lange innig liebten, aber nicht davon sprechen mochten, weil Heimchen sich verpflichtet gefühlt hatte, bei der Mutter in ihrem leidenden Zustande zu bleiben.
Die Geschwister äußerten ihre Freude über das frohe Ereignis in sehr verschiedener Art. Axel drückte dem neuen Bruder herzlich die Hand und sagte: »Ich vertraue dir unser Schwesterchen gern an, lieber Robert, ich weiß, daß du ihrer wert bist und sie sehr glücklich machen wirst.«
Gertrud umarmte die junge strahlende Braut und flüsterte ihr zu, wie froh sie ihr Herzensbund mache. »Wenn ich dich nur ersetzen lernte,« fügte sie etwas ängstlich hinzu, »ich bin lange nicht so praktisch und hausmütterlich beanlagt.«
»Ach Gertrud,« meinte das bescheidene Heimchen, »du kannst ja alles viel besser als ich, das weiß ich bestimmt.«
Erna und Ilse waren ganz wild vor Jubel.
»Siehst du, er heiratet sie doch,« rief Erna. »Wir haben es schon lange gemerkt, Robert, daß du in sie verliebt warst. Nicht wahr, Ilse?«
»Ja, aber wir wußten nicht, ob man sich heiratet, wenn man es ist,« bemerkte Ilse naiv.
Sie lachten alle bei diesen Worten.
»Es ist kein glänzendes Los, das ich deiner Schwester fürs erste bieten kann,« sagte Warnbeck zu Axel. »Nur ein bescheidenes Häuschen und ein geringes Einkommen, das ist alles, was ich besitze.«
Seine Braut schmiegte sich innig an ihn an. »Ich habe ja dich, Liebster, und damit mein Glück,« flüsterte sie ihm leise zu.
Sehr drastisch und originell war Doktor Hansens Gratulation. »Wieder ein Opfer mehr,« stöhnte er, die Hand Warnbecks drückend, »es thut mir um jeden Bethörten leid, der in die Falle geht und nicht als Junggeselle lebt und stirbt. – Sie hätten sich auch etwas Klügeres ausdenken können,« wandte er sich verdrießlich an Heimchen.
»Mir fiel aber nichts ein, Doktorchen,« lachte sie.
»Na, dann muß ich euch wohl Glück wünschen,« polterte er, »die Menschen verstehen jeder etwas anderes darunter. – Ich hoffe nur, Ihr macht keine solche Dummheiten!«
Er drohte den Unzertrennlichen scherzend mit dem Finger, »wartet nur, dann habt ihr es mit mir zu thun!«
»Onkelchen,« rief Erna fröhlich, »allzulange warten wir nicht, wenn der Rechte kommt!«
»Er muß uns aber schrecklich lieben,« setzte Ilse hinzu.
»Nein, das ist mir zu toll,« schrie er, im Zimmer auf- und ablaufend, »das geht mir über den Spaß! So jung und schon so verdorben, ich drücke mich lieber, um den Unsinn nicht länger anhören zu müssen!«
Heimchen neigte sich zu der Mutter Ohr und sagte neckend: »Du mußt für diese Ansichten verantwortlich gemacht werden, Mütterlein.«
Frau von Brenken nickte lächelnd dazu.
Seit sie in D. lebten, hatten sie sich alle noch nie so froh erregt gefühlt. Der Kampf ums Brot drückte sie nicht mehr nieder, und das Glück des Brautpaares war ihnen das schönste Weihnachtsgeschenk.
Frau von Brenken verglich ihr Alter mit einem schönen klaren Herbsttage, an dem die Sonne noch einmal voll sommerlicher Wärme alles erhellt und überstrahlt.