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I.
Verarmt.

Der naßkalte, unfreundliche Novembertag wandelte sich bereits in graues Zwielicht, denn obgleich es noch nicht vier Uhr nachmittags war, schwand die Helligkeit mit jedem Augenblick. Ein feiner Regen rieselte hernieder, und die Gaslaternen der Hafenstadt D. warfen ihren gelben Schein auf das Pflaster, das von Feuchtigkeit glänzte.

Nur wenige Menschen eilten hastig vorbei, sie hüllten sich fröstelnd enger in ihre Mäntel, während sie die Regenschirme verdrossen aufgespannt hielten. Alles trug den Stempel der Trostlosigkeit und Schwermut, die diesem dunkelsten, sonnenarmen Monat anhaftet.

Vor einem hohen, düstern Hause, in einem schmalen, abgelegenen Gäßchen, hielt ein hochbepackter Möbelwagen. – Einige Dienstleute hoben die darauf befindlichen Sachen herunter und trugen sie polternd die engen Treppen hinauf, die zum dritten Stock führten.

Das häßliche, kasernenartige Haus in der einsamen Straße schien nicht zu ihnen zu passen, es stach seltsam ab gegen die eleganten Samtstühle, Oelgemälde und Kunstgegenstände, gegen die wertvollen, schöngeschnitzten Schränke, Marmortische und geschliffenen Spiegel in breiten, vergoldeten Rahmen, die das Innere des Wagens anfüllten.

Das mochten wohl auch die spärlich Vorübereilenden denken, denn allmählich hatten sich mehrere an der Hausthür versammelt. Der Regen strömte jetzt heftig hernieder, trotzdem sahen sie voll Neugier dem Abladen der Sachen zu.

»Wer zieht hier ein?« fragte eine dicke, alte Frau einen der Dienstleute.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte der Mann, »die Möbel sind schwer in den dritten Stock hinaufzutragen, die Treppen sind zu schmal.«

»Nun, es müssen doch reiche Leute sein,« meinte eine andere, die Frage und Antwort gehört hatte. »Es sind wunderschöne Sachen, aber sonderbar bleibt es, daß sie in dieses Haus gebracht werden, das in dem abgelegenen Stadtviertel liegt.«

Jetzt hoben die Dienstleute einen Flügel auf das Pflaster, sie betrachteten ihn kopfschüttelnd. »Den kriegen wir nicht hinauf,« meinten sie bedenklich, »die Treppe macht eine Biegung. Das Ding ist zu breit.«

Sie versuchten es dennoch unter derben Zurufen und polterndem Stampfen.

»Es geht nicht, Fräulein!« riefen sie, als oben an der Glasthür, die zum dritten Stock führte, ein blonder Mädchenkopf erschien.

»Versuchen Sie es bitte noch einmal,« antwortete eine sanfte, sehr angenehme Stimme, »vielleicht gelingt es, mir liegt viel daran.«

Es lag eine so flehende Bitte in den Worten, daß die Leute ihr Möglichstes zu thun versprachen, aber es ging auf keine Art. Jetzt erschien ein zweiter Kopf neben dem ersten. Er gehörte einer älteren Dame, sie wandte sich an das junge Mädchen.

»Kein Gedanke, liebes Kind, der Flügel kann nicht hinaufgeschafft werden.«

»Aber Gertrud wird darüber sehr traurig sein. Du weißt, wie sie ihren Bechstein liebt. Die Musik ist ihr Lebensbedürfnis. Was wird sie sagen, wenn sie ihr schönes Instrument entbehren soll?«

Die Dienstleute standen wartend auf der Treppe. »Was sollen wir machen?« fragten sie hinaufblickend und sich den Schweiß von der Stirn trocknend. Die ältere Dame rief ihnen zu:

»Tragen Sie bitte den Flügel wieder hinunter und warten Sie im zweiten Stock auf mich, ich komme gleich.« Dann, sich umwendend, sagte sie: »Ich werde vorläufig unsern Hauswirt bitten, den Bechstein bei sich aufzunehmen. Wenn Gertrud hier ist, mag sie selbst bestimmen, was damit geschehen soll.« Die kleine, zierliche Frauengestalt eilte die Stufen hinunter und klingelte an der Thür, auf deren blankem Messingschild man den Namen: »Benno Sträußel« las.

Nach einigen Minuten des Hin- und Herredens fand das Instrument daselbst Aufnahme. Die Dienstleute trugen noch die letzten Sachen hinauf und wurden abgelohnt. Die beiden Frauen standen sich in dem mit Gegenständen verschiedenster Art vollgekramten Zimmer gegenüber.

Wer kennt sie nicht, die Unbehaglichkeit eines Umzuges? Alles liegt noch bunt durcheinander, man findet das nicht, was man sucht, dafür aber hunderterlei unnütze Dinge. Die Stuben sind kalt, die Fenster schlecht geputzt, auf der Diele liegt Stroh von der Verpackung, kurz, es ist nichts weniger als gemütlich.

»So, nun soll Grete vor allen Dingen ein tüchtiges Feuer anmachen,« sagte fröstelnd die ältere Dame, »es ist ja eisig kalt, die Thüren schließen schlecht.« Sie zündete ein Licht an und stellte es auf einen Schrank.

»Sieh doch, Tante Dora,« lachte das junge Mädchen, »da ist wieder einer von Gretes Aberglauben. Sie hat eine Brotrinde, etwas Salz und einen Pfennig auf den Speisetisch gelegt. Ich muß sie fragen, was es zu bedeuten hat.«

Sie eilte in die Küche, wo eine derbe, rotwangige Magd rüstig Ordnung schaffte.

»Grete, was soll das heißen, daß du Salz, Brot und Geld auf den Speisetisch gelegt hast?«

»Nun, Fräulein Mariechen, das heißt, daß es den Herrschaften hier an nichts mangeln soll. Salz und Brot machen die Wangen rot und bedeuten die Notdurft des Lebens und die Gesundheit. Der Pfennig soll die Vorbedeutung sein, daß es Ihnen allen nicht an der Arbeit fehlen soll, durch die man das tägliche Brot verdient.«

Das junge Mädchen trat in das erste Zimmer zurück und blickte seufzend zum Fenster hinaus. Die trüben Laternen verschwanden fast in dem nebeligen Regenwetter.

»Machen Sie Feuer an, Grete,« befahl Frl. Hagener, die ältere Dame, die von ihrer jungen Schutzbefohlenen Tante Dora genannt wurde. »Es ist hier entsetzlich kalt.«

»Ja, aber wir haben kein Holz,« entgegnete die Magd.

»Das ist wahr. Nun, begleiten Sie mich, ich gebe Ihnen soviel Sie brauchen, um beide Öfen anzuheizen.«

Sie gingen über den Flur und kehrten bald wieder zurück. Grete trug schwer an dem Holz und machte sich sofort daran, der Weisung zu folgen.

»Heimchen, Kind, wo bist du?« rief das alte Fräulein und sah sich suchend in dem Wirrwarr von Möbeln und Gegenständen um, die in buntem Durcheinander die Stuben füllten.

»Ach hier!« Sie trat an das Fenster, da hörte sie ein leises Schluchzen und sah die schlanke Gestalt wie Stütze suchend dagegen lehnen.

»Mut, Mut mein Herzchen,« sagte sie tröstend. »Du bist mein starkes Mädchen und darfst den Kopf nicht hängen lassen, bedenke, wieviel auf deinen Schultern ruht.« Sie umfaßte innig die Weinende, das junge, blonde Haupt liebevoll an ihre Schulter ziehend.

»Es kam so plötzlich, Tante. Wie wird Mama sich an die veränderten Verhältnisse gewöhnen? Wird sie sich nicht sehr unbehaglich in dieser engen Wohnung fühlen? Und die jüngeren Geschwister, die so sehr an die frische Luft und Freiheit gewöhnt sind, wie traurig ist es für sie, daß sie in den so kleinen Stuben eingeschlossen bleiben müssen. In Holmstein sprangen sie den ganzen Tag draußen umher. Besonders schmerzlich ist mir der Wechsel für unsern kranken Willy.«

»Komm mit mir,« entgegnete Fräulein Hagener. »Wir wollen es uns drüben gemütlich machen. Unterdessen wird es hier warm werden, dann machen wir uns mit frischen Kräften an die Arbeit und ordnen heute, soviel sich thun läßt.«

»Es ist gut, daß wir drei Tage Zeit haben, ehe sie kommen,« meinte das junge Mädchen. »Aber wo hat Grete so schnell Holz herbekommen? Das Feuer prasselt bereits lustig im Ofen.«

»Du hast mich oft Fee Wundermild genannt, da muß ich doch etwas thun, um diesen Namen zu verdienen,« scherzte Fräulein Hagener. »Aber nun komm schnell,« sagte sie, den dankbaren Blick mit freundlichem Lächeln erwidernd, »ich habe einen ungeheuren Kaffeeappetit, und du gewiß auch.«

Sie nahm das Licht und schritt über den kleinen Flur, gefolgt von ihrem Schützling, und während sie geschäftig die Lampe anzündete, den Kaffee bereitete und das runde Tischchen deckte, sah sich ihr Gast in dem freundlichen Zimmer um, das von altjüngferlicher Ordnung und peinlichster Sauberkeit sprach.

»Es ist sehr traulich bei dir, Tante Dora,« sagte Marie, oder Heimchen, wie sie meist genannt wurde. »Welch ein Glück, daß du so leicht zu erreichen bist und uns mit deinem erfahrenen Rat beistehen kannst. Wir alle möchten der Mutter soviel wie möglich alles Schwere abnehmen. Du sahst es ja selbst, wie tief gebeugt sie durch des Vaters Tod und den Verkauf Holmsteins ist.«

»Wie kam es eigentlich? Ich habe noch nichts Näheres erfahren.«

»Daß es mit den Geldverhältnissen schon lange traurig bei uns aussah, ahnten wir drei älteren Geschwister, seit unser Haus in der Stadt voriges Frühjahr verkauft wurde. Der Vater schien um Jahre gealtert und war fieberhaft erregt, wenn die Börsenzeitungen ankamen; auch erhielt er Geschäftsbriefe, die ihn häufig fortriefen und von Hause fern hielten.«

»Und deine gute Mutter, wie trug sie es?«

»Sie litt unbeschreiblich und sorgte sich um den Vater, obgleich sie es ihm nicht zeigte. Sie hat seit dem Winter ganz weiße Haare bekommen. Der Wechsel trifft sie schwer, da sie ihr ganzes Leben an Reichtum und Luxus gewöhnt gewesen ist.«

»Sie ist aber eine sehr gute, liebevolle Mutter,« warf Fräulein Hagener ein, »und so lange sie alle ihre Kinder um sich hat, wird sie ihnen leben wollen.«

»Willy ist sehr krank, Tante,« fuhr Heimchen fort. »Du weißt, er ist ihr Liebling, weil er immer so zart und schwach war. Für unser Nesthäkchen fürchten wir so sehr den Mangel an frischer Luft, die große Veränderung in unserem Leben. Er war mit der Mutter und Gertrud in Italien, als der Zusammensturz kam. Egon befand sich in Pension, da er das Gymnasium in W. besuchte, nachdem er in Berlin ausgeschlossen wurde, Axel stand bei seinem Regiment, die Zwillinge, Ilse und Erna, blieben bei mir in Holmstein, als die Mutter verreiste. Ach! Tante Dora, wie habe ich mich da nach dir gesehnt! Wie hübsch war es, wenn du früher, in Abwesenheit der Eltern, bei uns bliebst und uns die schönen Märchen erzähltest. Und wenn wir im Winter zur Stadt zogen, hattest du soviel Geduld mit mir, der talentlosen Klavierschülerin. Desto mehr Freude machte dir Gertrud.«

»Ja, sie ist außerordentlich musikalisch begabt.«

»Aber ihr Flügel ist nicht da,« seufzte Heimchen betrübt, »sie wird ihn schmerzlich vermissen.«

»Sie kann mein Piano benutzen,« tröstete Tante Dora, »ich bin ja wenig zu Hause und gebe meine Stunden außerhalb.«

»Für Axel und Gertrud ist es am schwersten, sich in unsere jetzige Lage zu finden, sie sind wie reiche Leute erzogen, denen jeder Wunsch erfüllt wurde.«

»Nun, ich denke, auch du bist es ebenso gewöhnt, liebes Kind!«

»Ja, Tante Dora, aber du weißt, wie gleichgiltig mir alle diese Dinge von jeher gewesen sind, ich bin eben nur das Heimchen, wie ihr mich alle nennt. Ein unscheinbares, kleines Geschöpf, das nur in seinen eigenen stillen vier Wänden glücklich und zufrieden ist und nicht nach Glanz und Reichtum verlangt.«

Die alte Dame strich liebkosend über das schlichte, dunkelblonde Haar der Sprechenden.

»Der Kaffee ist fertig,« sagte sie. »Setze dich zu mir und laß es dir schmecken.«

Das Licht der Lampe beleuchtete jetzt scharf beider Gesicht. Das des jungen Mädchens war keineswegs hübsch, etwas farblos und nüchtern sah es mit den hellen Augen und unregelmäßigen Zügen aus, es hatte aber etwas Anziehendes, denn der Ausdruck der Herzensgüte spiegelte sich deutlich darauf ab. Die schmächtige, kleine Gestalt sah fast kindlich in dem Trauerkleide aus, man hielt sie trotz ihrer siebzehn Jahre noch für einen höchstens fünfzehnjährigen Backfisch.

Die ihr Gegenübersitzende war fein und zierlich gebaut, hatte stark mit Grau gemischtes Haar, freundliche, braune Augen und mußte in ihrer Jugend sehr gut ausgesehen haben. Es lag Energie und Klugheit in ihrem Antlitz, und ein weicher, freundlicher Ausdruck spielte um ihren etwas zu großen Mund, während es oft heiter in den Augen aufblitzte.

Fräulein Dorothea Hagener war eine prächtige alte Seele, stets bereit zu helfen, selbstlos und gutmütig. Man gab ihr überall den Namen Tante Dora, obgleich sie recht allein stand und nur eine weitentfernt lebende, verheiratete Schwester besaß, die sie selten sah. Sie lebte erst seit einem Jahre in D. und verdiente sich ihr Brot als Musiklehrerin. Sie war mehrere Jahre hindurch bei Brenkens, Heimchens Eltern, im Hause gewesen, dort hatte sie sich die Liebe der ganzen Familie erworben. Als beschlossen wurde, daß die nach D. ziehen sollte, war sie sogleich mit Rat und That zur Hand. Sie liebte sie alle; Marie oder Heimchen war ihr indes besonders ans Herz gewachsen, obgleich Gertrud ihr als Schülerin mehr Freude machte.

»Nun erzähle mir weiter,« bat sie, als der Kaffee getrunken war. »Wir wollen noch ein halbes Stündchen hier bleiben, bis es drüben warm geworden ist. Ich will nur für Grete den Kaffee fortstellen, es ist ein Glück, daß ihr wenigstens fürs erste die tüchtige Person mitgenommen habt.«

»Sie wollte uns durchaus beim Umzuge helfen. Sie liebt die Zwillinge und Willy so sehr, daß sie sich nicht gleich von ihnen trennen konnte. Ich hoffe, wir behelfen uns mit ihr, ich will selbst tüchtig mitangreifen und Ilse und Erna unterrichten. Mir fehlt der Mut, in einer öffentlichen Schule Stunden zu geben.«

»Was wird denn aus Axel werden? Er wird wohl den Militärdienst aufgeben müssen?«

»Er that es schon und ist bei der Mutter, die er hierher begleitet. Es ist ihm nicht leicht geworden, denn er war mit Leib und Seele Soldat. Aber natürlich kann jetzt von dem teuren Garde-Dragoner-Regiment nicht mehr die Rede sein. Er hätte zur Linie übergehen können, aber er meinte, daß er dort nicht die Möglichkeit habe, der Mutter zu helfen, und kaum selbst genug zum Leben erübrigte.«

»Axel ist in vieler Beziehung ganz dein Bruder, während Egon und Gertrud sich wenigstens äußerlich gleichen, schade, daß er nicht mehr von ihrem festen Charakter besitzt.«

»Wenn Egon jetzt doch besser vorwärts käme!« seufzte seine Schwester bekümmert. »Er ist ein sehr fähiger Junge und trotzdem so faul, daß er oft die Schulen gewechselt hat. Mama verwöhnt ihn, denn er ist ihr großer Liebling, sie kann ihm nichts abschlagen. Wenn er ihr nur in Zukunft die Sorgen erspart und den Ernst des Lebens einsieht.«

»Ich hoffe, er thut es, Heimchen. Für Gertrud habe ich schon Stunden gesucht, es wird ihr bald nicht an Schülern fehlen.«

»Ja, wir müssen alle arbeiten! Wie sollten wir sonst mit den 1500 Mark jährlich auskommen, die alles sind, was die Mutter durch eine Lebensversicherung zu erwarten hat? Welch ein Glück, daß Papa dafür sorgte, als noch bessere Zeiten waren.«

»Aber ihr seid so viele,« warf Tante Dora bedächtig ein.

»Nun, ich denke, wenn wir sehr vernünftig sind und alle arbeiten, wird es gehen,« erwiderte das junge Mädchen zuversichtlich. »Es ist doch besser als nichts.«

Die alte Dame schwieg zu diesen mutigen Worten. Sie sah das zarte, junge Geschöpf mitleidig an, und ihr eigenes Leben zog an ihr vorbei. Alle die Demütigungen, Sorgen und Entbehrungen, die der Kampf ums Dasein in sich schließt, die man selbst erfahren muß, um sie zu verstehen.

»Axel will hier zu Herrn Westerholz hingehen, der ein Jugendfreund unseres verstorbenen Vaters ist. Er will sich um eine Stelle in seinem Kontor bemühen. Natürlich muß er von Anfang an beginnen. Wie soll ein Gardeoffizier etwas von kaufmännischen Kenntnissen und Buchführung wissen!«

»Da thut er recht daran; Herr Westerholz ist als edler, wohlmeinender Mensch bekannt. Er ist von strenger Ehrenhaftigkeit, soll viel verlangen, aber trotzdem gütig gegen seine Untergebenen sein. Ich glaube, Axel wird sich bei ihm gefallen und ihm zusagen, er ist so gewissenhaft, pflichttreu und begabt.«

»Ja, gottlob, daß wir den lieben Bruder haben,« rief Heimchen warm.

Nachdem sie noch einiges hin und her erwogen hatten, gingen sie hinüber und waren erfreut, die neue Wohnung wohldurchwärmt zu finden. Grete hatte unterdessen nach besten Kräften aufgeräumt, und die drei Frauen machten sich eifrig an die Arbeit.

»Warum sind weder Axel noch Gertrud mitgekommen?« fragte Tante Dora. »Sie hätten dir doch behilflich sein können.«

»Axel wollte es gern,« versetzte Heimchen, »aber er hatte noch mit seinen Austrittspapieren zu thun, und die Mutter konnte Gertrud beim Einpacken der letzten Sachen nicht missen.«

»Und deshalb schiebt man dir immer alles zu, Packeselchen,« lachte die Dame halb unwillig, halb belustigt.

Marie – Heimchen sah sie erstaunt an. »Das ist doch ganz selbstverständlich,« meinte sie bescheiden. »Wozu bin ich denn da? Ich bin froh, wenn ich ihnen etwas Unangenehmes ersparen kann.«

Sie traten in das Nebenzimmer. »Hier werden, denke ich, Mama und Willy schlafen. Es ist ein gutes, großes Zimmer, und wir könnten es abteilen, da ist auch für Mamas Schreibtisch Platz. Gertrud und die Zwillinge wohnen nebenbei, das vierte Zimmer bleibt für die Brüder.«

»Und du selbst?« fragte Tante Dora voller Rührung, den leisen Vorwurf in der Stimme. »Wo sollst du hin?«

»Die Couchette in Mamas Zimmer ist noch frei, die paßt sehr gut für mich, da ich nicht groß bin.«

Tante Dora schüttelte den Kopf. »Nachdem du den ganzen Tag umhergelaufen bist, um für alle zu sorgen! Du wirst müder als sie alle sein, mein gutes Kind! Nein, nein, das erlaube ich nicht,« fuhr sie energisch fort. »Eine der kleinen Schwestern kann dort schlafen, und du teilst das Zimmer mit der andern und Gertrud.«

Nur ungern fügte sich Heimchen in ihrer Selbstlosigkeit dieser Anordnung. »Die beiden Unzertrennlichen sind unglücklich, wenn man sie trennt,« sagte sie bedauernd, »sie hängen sehr aneinander.«

Drei Tage später war die Wohnung vollständig eingerichtet, die Oelbilder in den schwarzen Rahmen bedeckten wenigstens teilweise die häßlichen Tapeten, einige kostbare Statuen standen auf schwarzen Marmorsockeln in den Ecken, feine Spitzengardinen hingen vor den Fenstern, und die eleganten Möbel waren geschmackvoll zusammengestellt. Das ziemlich niedrige, einfache Zimmer sah aus, als passe es nicht recht dazu.

»Wenn es der Mutter nur nach Sinn ist,« sagte Heimchen zaghaft, als sie mit ihrer alten Freundin prüfend durch die Räume ging. Sie dachte an das große, schöne Haus in der Stadt, an die vielen hohen, bequemen Zimmer in Holmstein, und ihr wurde recht bange, wenn sie sie mit den fünf engen, vollgekramten Dachstuben verglich. –

Als sie den letzten Abend als Tante Doras Gast zubrachte, berechneten sie genau, was sie im besten Fall jährlich auszugeben hatten. Frau von Brenken hatte eine Summe von einigen hundert Mark aus dem Ruin gerettet, der Umzug kostete fast soviel. Wenn Gertrud und Axel etwas verdienten, würden sie vielleicht alles bestreiten können. Das mutige junge Mädchen hoffte es zuversichtlich. Sie hatte ja keine Ahnung, wieviel unvorhergesehene Ausgaben sich einstellen, wie teuer die Lebensmittel sind, und daß es fast unmöglich ist, eine so große Familie mit einem so kleinen Einkommen zu unterhalten.

Tante Dora wußte es besser. Sie hatte früh auf eigenen Füßen gestanden und noch für ihre alte Mutter sorgen müssen. Aber sie mochte ihrem Liebling nicht schon jetzt, ehe der Kampf um das tägliche Brot begonnen hatte, den frischen Mut rauben.

»Armes Kind,« murmelte sie, als Heimchen schon fest und süß den Schlaf der Jugend schlief. »Armes Kind, du bist so jung und zart, nicht gewöhnt zu darben und jeden Groschen zu sparen. Es ruht viel auf deinen Schultern, mir ist bange um dich, um euch alle. Werdet ihr verzichten lernen auf alles, was das Leben verschönt? Es ist nicht leicht, und die Kraft wird frühzeitig gebrochen, wenn zahllose kleine und große Sorgen das Herz drücken.«

Sie bückte sich liebevoll über die blonde Schläferin, die sie gastlich bei sich aufgenommen hatte, und küßte ihre reine Stirn. »Gott segne dich, mein Heimchen,« sagte sie leise und bewegt. »Er stehe dir und den Deinen bei in den euch so ungewohnten, veränderten Verhältnissen, in dem mühevollen Ringen und Erwerben, in den Fehlschlägen, Demütigungen und Enttäuschungen, die nicht ausbleiben können, wenn es heißt: ›Arbeiten, um nicht zu verhungern, arbeiten, um nicht Mangel zu leiden, arbeiten ums Brot!‹«


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