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Die in D. Zurückgebliebenen hatten einen schweren, sorgenvollen Winter; das Übel der Frau von Brenken nahm überhand und beraubte sie fast des Gebrauches ihrer Füße.
Heimchen löste sich mit Gertrud in der Pflege ab, die Stunden der Nacht waren besonders qualvoll. Gern hätten sie eine trockene, gute Wohnung gehabt, aber es war ihnen unmöglich, eine höhere Miete zu zahlen.
Herrn Westerholz' Werbung hatte keinen günstigen Erfolg gehabt, Gertrud sagte ihm offen, daß sie sich nicht entschließen könne, ohne Neigung zu heiraten, daß das Gefühl aufrichtiger Achtung und Freundschaft, welches sie für ihn hegte, nicht genug sei, um ihr Herz auszufüllen.
Selbst der Gedanke, daß sie ihre Familie aus der Armut retten könne, vermochte das schöne, stolze Mädchen nicht, sich ohne Liebe zu verkaufen.
Der kluge Mann mußte ihr recht geben, und nachdem er die erste Enttäuschung überwunden hatte, blieb er, trotz seines empfangenen Korbes, der treue Freund der Familie.
Es ist seltsam, wie leicht solche Privatangelegenheiten an die Öffentlichkeit kommen, man weiß es selbst nicht, wie es zugeht, aber der liebe Nächste erfährt oft mehr als uns lieb ist. So wurde es bald in D. bekannt, daß der reiche Kaufherr von der armen, schönen Schwester seines früheren Kassierers abgewiesen worden war.
Natürlich beurteilte man Gertrud verschieden; während viele Leute sie tadelten und es ihr als Hochmut auslegten, meinten andere, sie sei zu jung und schön, um einem soviel älteren Manne anzugehören.
Nach den Sommerferien wollte sie D. verlassen und unter äußerst günstigen Bedingungen die Stelle als Musiklehrerin in dem Institut in Stuttgart antreten, dessen Zögling Alma Westerholz war. Sie freute sich, eine so gute Bekannte in der Fremde vorzufinden.
Das junge Mädchen schrieb lange Briefe voll Heiterkeit und Lebenslust, ihre elastische Natur paßte sich leicht ihrer Umgebung an. Heimchen antwortete ihr und erzählte von ihnen allen, auch Gertrud und die Unzertrennlichen fügten noch ein Blättchen hinzu.
Im Laufe des Winters hörten sie einmal von Egon, durch ein Schiff, das aus Marseille ankam. Er war Matrose auf einem Dampfer, der zwischen London und Sydney ging. Weiter erfuhren sie nichts, und die Mutter betete still für den verlorenen Sohn, der ihr soviel Kummer zufügte und den sie trotzdem nicht verstoßen konnte.
Die Anwesenheit Robert Warnbecks war für sie ein wahrer Segen. Er hatte sich vollständig bei ihnen eingelebt und gehörte zur Familie, nahm innig teil an Leid und Freude, las ihnen am Abend vor und vertrat die Stelle des ältesten Sohnes und Bruders, soweit es möglich war. Gegen Frau von Brenken besonders war er voll zarter Rücksichten, er hob und trug sie mit Gretes Hilfe in das Wohnzimmer, sein frisches, fröhliches Wesen, sein aufrichtiges, wahres Christentum thaten der schwergeprüften Frau unendlich wohl.
Die Pension, die er zahlte, war eine wesentliche Hilfe im Haushalt und gestattete der Kranken manchen kleinen Luxus. Trotzdem mußte die größte Sparsamkeit angewandt werden, um nicht in Schulden hineinzukommen; es blieb selten etwas zur Kleidung oder zu unvorhergesehenen Ausgaben übrig und noch manches wertvolle Stück mußte verkauft werden.
Ilse und Erna besuchten fleißig die Schule und wuchsen heran, sie glichen wirklich den frischen Apfelblüten, die ihr Bild schmückten. Zum Verwechseln ähnlich, blond und rosig, teilten sie alles und hingen mit inniger Liebe aneinander.
Wenn ein langer Brief aus Kairo kam, war es jedesmal ein wahrer Festtag für jung und alt. Es ging Axel gut, seine Gesundheit kräftigte sich, sein neuer Prinzipal war mit ihm zufrieden, er hatte interessante Reisen in das Innere des Landes gemacht, die er hübsch beschrieb. Oft lag ein besonderes Blatt für Gertrud oder Heimchen dabei, in dem er sich mit ihnen über ihre Geldsorgen aussprach. Er zahlte jeden Monat eine Summe bei Hirsch und Lewy ab, es blieb nicht allzuviel übrig, denn er wollte die lästige Schuld sobald wie möglich tilgen.
Mit Gertruds ablehnender Antwort auf Herrn Westerholz' Antrag war er zufrieden. Seine Lieblingsschwester durfte sich nur aus wahrer Liebe verheiraten, und so hoch er seinen gütigen Freund stellte, so wenig schien er ihm zum Gatten des schönen jungen Mädchens passend. Der große Altersunterschied mußte sich früher oder später rächen und manchen schmerzlichen Konflikt mit sich bringen.
Keinen Augenblick dachte er daran, daß ihr »Ja« ihm die Last von den Schultern genommen hätte. Er arbeitete für die Seinen mit so großer Freudigkeit, daß sie es nie als Opfer empfinden sollten.
Heimchen schlüpfte eines Sonntags abends, wie sie oft that, zu Fräulein Hagener hinüber und setzte sich zu ihren Füßen in dem tiefen Erkerfensterchen, wo es sich so gemütlich plaudern ließ.
Ihr Herz war recht schwer und sorgenvoll. Sie hatte diesen letzten Monat einige größere Ausgaben gehabt, es blieb wenig Geld für die letzten vierzehn Tage noch. –
Sie erwogen hin und her, wie sie es einrichten sollten, um durchzukommen. Wenn das »Plus« ein so geringes, ist es kein leicht zu lösendes Problem.
»Welchen Arzt werden wir jetzt nehmen, Tante Dora?« fragte das junge Mädchen nach einer Pause. »Leider zieht unser bisheriger Doktor fort, die Mutter denkt mit schwerem Herzen an den Wechsel.«
Fräulein Hagener sann einen Augenblick nach und rief dann plötzlich: »Ich werde morgen nach der Schule zu Doktor Hansen gehen, er ist ein altes Original, aber ein tüchtiger Arzt für alle Nervenleiden, dabei ist er ein herzensguter Mensch, der gern hilft und von Armen überlaufen wird.«
Heimchen seufzte. »Wir gehören ja auch zu ihnen, Tante, sage es ihm gleich, vielleicht übernimmt er dann Mutters Behandlung lieber.«
»Wenn wir nur eine trockenere, bessere Wohnung haben könnten, es ist sehr feucht drüben.«
»Ach Tante, ich sah neulich ein allerliebstes Häuschen. Es liegt ganz im Garten und hat eine große Veranda. Es befindet sich in der Neuen Straße, ganz am Ende der Stadt, man wäre da fast wie auf dem Lande. Aber es ist viel zu teuer für uns, es kostet über tausend Mark Miete, wie sollen wir das bezahlen!«
»Ja, das ist ein zu hoher Preis,« stimmte die alte Dame bei.
»Die Mutter wäre im Sommer draußen. Im Garten sind Rosen, Jelängerjelieber und Fliedersträuche. Ich habe, seit wir Holmstein verließen, keinen Flieder gerochen,« sagte Heimchen ganz wehmütig.
»Das muß Robert, sein,« rief Fräulein Hagener, als geschellt wurde, »der Nachmittags-Gottesdienst ist beendet.«
Sie stand auf und öffnete ihm.
»Noch im Dunkeln?« sagte seine fröhliche Stimme.
»Ja, wir haben uns mit Heimchen verplaudert,« antwortete seine Tante.
»Ich werde die Lampe anzünden,« rief das junge Mädchen.
»Erlauben Sie mir, Fräulein Heimchen, daß ich Ihnen dabei helfe,« sagte der Vikar.
Er nannte sie wie alle bei dem traulichen Namen. Wenn er sie hausmütterlich schalten und walten sah, meinte er, es passe keine andere Bezeichnung so trefflich zu ihr.
Ein sehr heiteres Stündchen verbrachten die drei bei der brodelnden Kaffeemaschine. Die beiden jungen Leute neckten sich gegenseitig, ihr helles Lachen erfüllte das kleine Zimmer. Sie dachten an ihr erstes Begegnen hier, und wie sie sich sogleich zurechtgefunden hatten.
»Eigentlich mußten Sie mich für ein Dienstmädchen halten,« meinte Heimchen lachend, »die große Schürze und die aufgerollten Ärmel paßten dazu.«
»Sie sagten aber, wenn ich nicht irre: ›Tante Dora, wie fange ich es an, um –‹ nun Sie wissen das Ende,« scherzte er.
Das eben noch lachende Gesicht des jungen Mädchens umwölkte sich plötzlich, ein schwerer Seufzer hob ihre Brust.
»Wer weiß, wer ihm jetzt seine Strümpfe stopft?« sagte sie in schwesterlicher Fürsorge, »Axel hat in Kairo nichts von ihm gehört, er wollte dort Erkundigungen einziehen.«
»Es war recht unbedacht, daß ich Sie an Ihren Bruder erinnerte,« sagte Warnbeck bedauernd.
»Ach, wir denken oft an ihn. Wenn er doch ein ordentlicher, guter Mensch werden wollte, er hatte so glänzende Gaben von der Natur mitbekommen.«
Die Zwillinge traten in Tante Doras Stübchen und baten, sie möchten hinüberkommen, um das hübsche Buch weiter zu lesen, die Mutter und Gertrud warteten schon ungeduldig. Die Abende vereinten sie immer in der gemütlichen Ecke um den runden Tisch, und während Warnbeck mit seiner klangvollen Stimme vorlas, arbeiteten seine Zuhörerinnen, Frau von Brenken strickte, Gertrud und Heimchen besserten aus oder nähten Wäsche, die Unzertrennlichen halfen, so gut es ging, und Tante Dora spann, das leise Schnurren des Rades trug zur Behaglichkeit bei.
»Weißt du, Erna,« sagte Ilse, als sie am andern Sonntag abend zu Bett gingen, »ich glaube, Robert ist in Heimchen verliebt, er sieht sie immer so freundlich an und setzt sich am liebsten neben sie.«
»Ach! Unsinn,« erwiderte Erna altklug. »Heimchen ist noch viel zu jung, um zu heiraten; wenn er daran dächte, müßte es Gertrud sein.«
»Man muß doch nicht gleich heiraten, wenn man verliebt ist,« meinte Ilse. »Oder muß man es? Was glaubst du?«
Über dieses interessante Problem schliefen sie ein.
Fräulein Hagener hielt Wort und ging am folgenden Tage nach der Schule zu Doktor Hansen. Sie schellte, wobei sich ein Höllenlärm im Innern der Wohnung erhob. Zwei Hunde bellten laut, eine Katze miaute, ein Kanarienvogel schmetterte dazwischen, und eine heisere Stimme rief fortwährend: »Wer ist da? Wer ist da?«
Die Thür wurde geöffnet, eine alte, korpulente Frau mit einem runden, freundlichen Gesicht stand vor ihr.
»Guten Morgen!« rief es aus dem Nebenzimmer mit derselben seltsamen Stimme. »Guten Morgen, mein Herzchen!«
Verwundert blickte Fräulein Hagener hin und sah einen grünen Papagei im blanken Messingkäfig sitzen. Das Gekläff der Hunde dauerte fort, die große, weiße Katze schnurrte und rieb sich an dem Rock der alten Dienerin, die fröhlichen Triller des Kanarienvogels vervollständigten das Konzert.
»Kusch dich, Zampa! Ruhig Lulu,« rief eine männliche Stimme, und ein kleiner, breitschultriger Herr trat in das Vorzimmer. Er trug eine Brille, hatte brandrotes Haar und war von fast komischer Häßlichkeit.
»Heraus mit dem Schuft!« kreischte der Papagei, aufgeregt mit den Flügeln schlagend. »Heraus! Heraus!«
Fräulein Hagener lächelte über den eigentümlichen Empfang, der ihr zu teil wurde, und sagte:
»Sie haben sehr gelehrige Tiere, Herr Doktor.«
»Meine Familie ist allerdings sehr klug,« erwiderte er stolz.
»Wie sagten Sie?« fragte sie erstaunt.
Er wiederholte die Worte mit dem größten Ernst und fügte hinzu: »Ich bin, Gott sei Dank, unverheiratet, meine Tiere sind meine Familie.«
»Ah so!« sagte Tante Dora ebenso ernst, obgleich sie gewaltsam ihre Heiterkeit bekämpfte. Dann brachte sie ihr Anliegen vor und bat ihn, am nächsten Tage zu Brenkens zu kommen.
»Brenkens! Brenkens,« sagte er sinnend. »Lebt die Familie schon lange hier? Ich habe nie von ihnen gehört, aber der Name ist mir bekannt, sollte ich meinen.«
»Erinnere mich morgen daran, Lina,« wandte er sich an die Alte. Dann nahm er die weiße Katze zärtlich auf den Arm und streichelte sie, während der Papagei unaufhörlich: »Bravo, bravo!« rief und die Hunde an ihm emporsprangen.
»Welch ein sonderbarer Mensch,« dachte Fräulein Hagener im Nachhausegehen, »ein vollständiges Original!«
Sie berichtete ihren Freunden alles, was sie gesehen und gehört hatte, und sagte ihnen, daß er zu kommen versprochen.
Frau von Brenken war allein, als der Arzt gemeldet wurde, sein Name war kein ungewöhnlicher, dennoch fühlte sie sich eigentümlich erregt. Sie hatte in ihrer Jugend einen Mediziner gekannt, der Hansen hieß, einen häßlichen, rothaarigen Menschen, der ihr den Hof gemacht und schließlich um das schöne, gefeierte Mädchen angehalten hatte. Sie war ihm nie mehr begegnet, denn der abgewiesene Freier schloß sich bald darauf einer wissenschaftlichen Expedition nach Afrika an, sie heiratete und zog aus dem Süden in den Norden Deutschlands.
Kaum war er eingetreten, so erkannte sie ihn, er sah noch genau so aus, nur viel stärker war die kleine, breitschultrige Gestalt geworden, das Haar war mit Grau gemischt und die kleinen, gutmütigen Augen blinzelten wie früher durch die Brille. Sie war so sehr durch die Sorgen und die Not des Lebens verändert, frühzeitig gealtert und gebrochen, daß er eine Fremde vor sich zu sehen glaubte. Erst im Lauf des Gespräches erkannte er seine alte Jugendliebe in ihr wieder. Sie nannte zufällig den Namen ihres frühverstorbenen Bruders, der an demselben Übel wie sie gelitten und den er gut gekannt hatte.
»So sind Sie Thekla von Schrader,« rief er lebhaft, ihre beiden Hände ergreifend und schüttelnd. »Wir sind ja alte Bekannte, gnädige Frau! Das freut mich, das freut mich ungemein!«
»Ich habe Sie gleich wiedererkannt, Herr Doktor,« sagte Frau von Brenken etwas befangen. »Es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen.«
»Ja, viele, viele Jahre,« entgegnete er kurz.
Er stand hastig auf und trat an das Fenster. Das unerwartete Wiedersehen mit der einst Heißgeliebten ergriff ihn mächtig. Er verglich in Gedanken die kranke, traurig aussehende Frau mit dem jungen, blühenden Mädchen, das er leidenschaftlich geliebt. Wie immer, wenn er sich weich werden fühlte, kehrte er die schroffe Seite hervor.
»Ich werde mich mit Ihrem bisherigen Arzt über Ihren Zustand besprechen,« sagte er trocken. »Leben Sie wohl.«
Er verbeugte sich linkisch und wollte gehen, da flog die Thür zum Wohnzimmer auf, und ein paar allerliebste, ganz gleich aussehende Mädchen von vierzehn Jahren stürzten lachend hinein und ihm fast in die Arme.
»Meine beiden Jüngsten,« sagte die sanfte Stimme der Kranken.
»Wie viele Kinder haben Sie denn eigentlich?« fragte er in seiner burschikosen Art.
»Wir sind sechs Geschwister,« antwortete Ilse etwas vorlaut.
»Unser kleiner Willy starb kurz vor Weihnachten,« fügte Erna hinzu.
»Ein ganzes halbes Dutzend, brrr!« rief er entsetzt. »Das geht über den Spaß!«
Im Hinausgehen murmelte er vor sich hin: »Gott sei Dank, daß es nicht alle meine Kinder sind! Arme Frau,« fuhr er in Gedanken fort, »wie anders sehe ich sie wieder. Ich dachte, sie sei reich und glücklich. Ich erinnere mich jetzt, daß sie einen Brenken heiratete, daher war mir der Name bekannt. Es ist eine weitverbreitete Familie, deshalb fiel ich nicht darauf, daß es Thekla sein könne. Sie müssen ihr Vermögen verloren haben, denn ich hörte, sie habe einen wohlhabenden Gutsbesitzer geheiratet. Arme Frau, arme Frau!«
Die neue Behandlung, die er einschlug, that der Kranken augenscheinlich gut. Er kam alle Tage und machte allmählich die Bekanntschaft der ganzen Familie, mit Einschluß Robert Warnbecks.
Die Unzertrennlichen, wie er Ilse und Erna immer nannte, waren ihm besonders lieb geworden. In ihrer kindlich zutraulichen Art hingen sie bald zärtlich an ihm und gewannen sich das Herz des alten Mannes.
»Kommt und lernt meine Familie kennen,« sagte er eines Tages und mit wahrem Stolze zeigte er ihnen den Papagei und Kanarienvogel, seine Hunde und die große, weiße Katze.
Seitdem holte er die Zwillinge öfters in seinem Wagen ab, und das war für die Kinder immer ein Festtag. Der Herr Doktor ließ dann von dem nahen Konditor die schönsten Sachen holen und freute sich, wenn es ihnen schmeckte.
Gegen Gertrud war er ritterlich höflich und galant, sie erinnerte ihn sehr an die Mutter, er machte ihr in altfränkischer Art den Hof, was oft die stille Heiterkeit Heimchens erregte und Tante Dora und ihrem Neffen viel Spaß machte.
»Er ist trotz seiner Absonderlichkeiten ein vortrefflicher Mensch,« erzählte der junge Prediger. »Ich weiß es von den Armen der Gemeinde, denen er unentgeltlich hilft und denen er oft noch Geld giebt, statt es von ihnen zu fordern.«
Kurz vor Ostern traf er Gertrud auf der Straße und sagte zu ihr: »Sie müssen eine andere Wohnung für Ihre Frau Mutter mieten, ich verlange es als Arzt. Es ist unmöglich, daß sie noch länger in diesen feuchten, ungesunden Zimmern bleibt. Sie müssen dort alle krank werden. Ich habe ein hübsches, kleines Haus gesehen, das mir passend scheint.«
»Wenn es nur nicht unsere Mittel übersteigt,« sagte Gertrud ängstlich, »mehr als sechshundert Mark können wir nicht zahlen.«
»Das ist ja eben der Preis, den man fordert,« sagte er erfreut. »Es liegt etwas entfernt in der Neuen Straße, deshalb ist es billiger, als die Wohnungen in der Stadt. Ein Gärtchen ist auch dabei.«
»Heimchen sprach von einer Wohnung, die in dieser Straße liegt, sie gefiel ihr sehr, war aber viel teurer.«
»Wir könnten sie uns am Sonntag ansehen, was meinen Sie, Fräulein Gertrud?«
»Gewiß, dann bin auch ich den ganzen Tag zu Hause.«
Voller Erwartung begaben sich beide Schwestern, wie verabredet war, in die Neue Straße, sie fanden den Doktor nicht dort. Zu Heimchens Verwunderung war es gerade dasselbe nette Häuschen, das sie besehen und das ihr so sehr gefallen hatte.
»Es muß ein Irrtum sein,« sagte sie zu der Frau, die sie in den hellen, freundlichen Stuben umherführte. »Sie sagten doch, die Miete sei tausendeinhundert Mark, und Herr Doktor Hansen glaubte verstanden zu haben, daß der Preis nur sechshundert Mark wäre.«
Die Frau lachte spöttisch. »Für diese kleine Summe können wir nicht vermieten,« erwiderte sie trocken. »Tausendeinhundert Mark ist nicht zu viel für eine so schöne Wohnung.«
»Dann müssen wir uns leider anderweitig umsehen,« sagte Heimchen kleinlaut, und sie schritten zur Thür hinaus. Ein Mann trat ihnen im Gärtchen entgegen.
»Nun?« fragte er, »gefällt Ihnen mein Haus nicht?«
»Ja sehr, aber es ist für uns zu teuer,« entgegnete Heimchen betrübt.
»Wie, ist sechshundert Mark nicht spottbillig, Fräulein?« fragte er erstaunt.
»Ihre Frau nannte ja fast den doppelten Preis,« rief Gertrud erstaunt.
»Da habe ich nun was Schönes angerichtet,« sagte der Mann ärgerlich. »Ich habe es ganz vergessen, ihr einzuschärfen, daß der Herr Doktor Hansen hier war und mir dringend befohlen hat, nur von den sechshundert Mark zu sprechen. Der wird jetzt böse sein! Er selbst wollte die fehlende Summe zahlen, die Fräuleins sollten um alles in der Welt nie etwas davon wissen.«
Die Schwestern sahen sich verwundert an, sie begriffen den Zusammenhang nicht. Wie kam der Doktor, der ihnen noch so fremd war, darauf, sich ihnen gegenüber als Wohlthäter zu benehmen? Es lag etwas Verletzendes darin, und als eben der Wagen des alten Herrn heranrollte, sagte Gertrud mit einem hochmütigen Ausdruck in dem schönen Gesicht: »Wie sollen wir es verstehen, daß Sie uns die halbe Miete schenken wollen?«
Doktor Hansen wurde kirschrot vor Verlegenheit. Der Wirt des Hauses trat auf ihn zu und drehte die Mütze in der Hand, indem er verwirrt eine Entschuldigung stotterte: »Dummer Kerl!« schnitt der cholerische Sonderling dieselbe ab. »Er hat mir den ganzen Spaß verdorben,« brummte er verdrießlich.
Dann wandte er sich an die Schwestern und sagte: »Bitte, meine Damen, kommen Sie mit mir und hören Sie mich ein Weilchen geduldig an, ich muß Ihnen eine kurze Geschichte erzählen.«
Heimchen und Gertrud sahen sich erstaunt an, denn seine Stimme klang seltsam bewegt, und es zuckte krampfhaft in dem häßlichen Gesicht, als er begann:
»Es war einmal, – Sie sehen, meine Damen, ich fange als richtiger Erzähler mit den üblichen Worten an. Also: Es war einmal ein wunderschönes, reiches Mädchen, das ebenso klug als gut war und somit alle Vollkommenheiten in sich vereinigte. Und es war auch einmal ein kleiner, häßlicher, junger Mann, der so kühn war, das herrliche Geschöpf von ganzer Seele zu lieben. Er beging die Thorheit, um sie zu werben, und bekam natürlich ein zierliches Körbchen. – Bald darauf verließ er das Vaterland, um unter andern Zonen schneller zu vergessen. Er blieb lange der Heimat fern und wurde darüber ein alter Junggeselle voll Sonderbarkeiten, denn er war so unklug, alle Frauen mit seiner Jugendliebe zu vergleichen, und er fand keine, die ihr nur annähernd zur Seite zu stellen war.«
Gertrud machte hier eine lebhafte Bewegung, als ob sie ihn unterbrechen wollte, er winkte abwehrend mit der Hand und fuhr fort:
»Da sah er sie nach vielen Jahren wieder, sie waren beide alt geworden. Er fand sie sehr verändert, vom Leben hart mitgenommen und von der Sorge ums Brot fast gebrochen.«
»Nun, meine Damen, der kleine, häßliche Mensch, der das schöne Mädchen geliebt hat, bin ich –«
»Und sie ist unsere Mutter,« unterbrach Heimchen ihn leise.
Der alte Mann nickte und fuhr dann fort: »Als Arzt wünschte er dringend, daß sie eine bessere Wohnung nehme, es ist eine Lebensfrage für sie. Aber sie und ihre Familie waren zu arm dazu, es ging nicht, nun und da, – da –«
Er stockte verlegen, nahm seine Brille ab und wischte eifrig an den Gläsern umher.
»Da wollten Sie die Hälfte der Miete zahlen, Herr Doktor,« rief Gertrud tief bewegt, »in Erinnerung an die alte Zeit.«
»Unsinn!« sagte der Alte schroff. »Nur aus Dankbarkeit, daß sie mich nicht genommen hat und ich Junggeselle geblieben bin!«
Er lachte, daß ihm die Thränen über die Backen liefen.
Die beiden jungen Mädchen sahen sich lächelnd und dennoch tief bewegt an.
»Nun,« schrie der Doktor polternd, »der Spaß ist mir durch den Kerl dort verdorben! Aber ich denke, Ihr sagt Ja, Kinder,« fügte er sanft und bittend hinzu.
Als die Schwestern zögerten, sagte er: »Bedenkt, wenn sie damals ja gesagt, hätte ich Euer Vater sein können und müßte jetzt für Euch alle sorgen. Was meint Ihr, schlagt doch ein!«
Er hielt ihnen beide Hände hin, Heimchen und Gertrud mußten der freundlichen Bitte nachgeben und wollten ihm danken, er wehrte es ihnen fast ärgerlich.
»Schweigt doch, schweigt doch!« schrie er und hielt sich die Ohren zu. »Wem thue ich damit Schaden? Mir selbst nicht, ich habe mehr, als ich verbrauchen kann; meiner Familie ebensowenig. Ich füttere sie alle Tage dicker, und wenn ich sterbe, habe ich nur lachende Erben, laßt mir doch meinen Spaß, Kinder. – Und jetzt kommt, wir wollen unser gemeinschaftlich gemietetes Haus besehen.«
Sie thaten es, und Heimchen sagte: »Da auch Gertrud uns verläßt, wäre es zu groß für uns, wenn nicht Tante Dora zu uns ziehen wollte. Selbstverständlich wird ihre Miete nicht zu den 600 Mark gerechnet, die wir zahlen, die ziehen wir von dem Gelde ab, das Sie so gütig sind –«
»Was soll das nun wieder heißen!« polterte der Doktor verdrießlich, aber beide Schwestern blieben diesmal fest auf ihrem Willen bestehen, und er mußte schließlich nachgeben.
Im Sommer zogen sie in das hübsche Häuschen ein. Gertrud hatte noch die Freude, ihnen beim Umzuge zu helfen, ehe sie nach Stuttgart ging. Nach den engen und dunkeln Zimmern erschien ihnen die neue Wohnung doppelt angenehm und geräumig.
Der Doktor kam am Abend zum Thee, er war in der heitersten Stimmung, neckte Heimchen,, machte Gertrud den Hof und ließ sich von seinen beiden Lieblingen Ilse und Erna verhätscheln. Dabei zwinkerte er seinen beiden Mitverschworenen öfters listig zu und war gegen Frau von Brenken voll Aufmerksamkeit und ergebener Höflichkeit.
»Sonntag schicke ich Ihnen meinen Wagen, wenn das Wetter gut ist,« sagte er beim Abschied. »Ich wünsche, daß Sie viel an der frischen Luft sind, gnädige Frau. Und Ihr,« er wandte sich an die Unzertrennlichen, »Ihr müßt bald kommen und Euch Minettes junge Kätzchen ansehen. Meine Familie hat sich wieder vergrößert.«
»Jetzt sind es schon über ein halbes Dutzend,« neckte Heimchen.
»Ja, aber sechs Kinder wären viel schlimmer,« meinte er trocken.
Beide jungen Mädchen begleiteten ihn bis zur Gartenpforte, er legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Nichts ausplaudern,« flüsterte er, »sie darf es nicht wissen, niemand außer uns dreien, vergeßt es nicht, Kinder!«
Sie versprachen es und schüttelten ihm warm die Hand.
»Wie muß er unsere Mutter geliebt haben,« sagte Gertrud sinnend zu ihrer Schwester.
Heimchen stimmte ihr bei, und beider Herz war von Dankbarkeit gegen ihren alten Freund erfüllt.
Auch Herr Westerholz besuchte Brenkens bald in ihrer neuen Wohnung.
»Ich freue mich, daß Sie meine Kleine in Stuttgart unter Ihre Obhut nehmen können, bitte thun Sie es gütigst, Fräulein Gertrud,« sagte er. »Sie ist ganz glücklich, Sie dort zu haben. Im Sommer will ich eine Reise mit ihr machen und später bringe ich sie wieder nach Schlesien zu den Verwandten.«
»Auch ich bin sehr froh, Alma in Stuttgart vorzufinden,« entgegnete Gertrud herzlich. »Es wird wie ein Stückchen Heimat sein.«
»Leben Sie wohl,« er reichte ihr die Hand, »ich hoffe, Sie gefallen sich in Ihrer Stellung und es geht Ihnen dort in jeder Beziehung gut, gnädiges Fräulein.«
Mit weltmännischer Sicherheit verbarg er seine Enttäuschung, und auch Gertrud überwand ihre anfängliche Verlegenheit und trat ihm wieder frei und zwanglos entgegen. Sie achtete ihn hoch und konnte es nie vergessen, daß er ihr seine Hand und seinen Namen angeboten hatte, und wie gütig er gegen Axel gewesen war. Sie ging in eine abhängige Stellung in die Welt hinaus, sie wußte nicht, was ihrer wartete, aber sie fühlte sich frei und ungebunden und nahm freudig den Kampf ums Brot auf, den sie alle in verschiedener Weise kennen gelernt. Es galt ja, so besser für die geliebte Leidende sorgen, dieser Gedanke erleichterte dem mutigen, schönen Mädchen den Abschied von der Heimat.