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Väterchen, ich habe eine große Bitte an dich, du darfst sie mir nicht abschlagen!« rief Alma Westerholz in das Privatzimmer ihres Vaters stürmend und den Arm zärtlich um seinen Nacken legend, während sie mit der rechten Hand sein volles, graues Haar streichelte.
»Nun, mein kleiner, strenger Despot, was ist es?« fragte der alte Herr, der eben im Begriff stand, seine Geschäftsbücher zu schließen, denn es war spät, das Kontor bereits leer und die Thür stand offen.
Alma rief lebhaft: »Dürfen die Brenkens diesen Sommer unsere Villa in Z. bewohnen?«
Herr Westerholz sah seine Tochter verwundert an. »Wie kommst du darauf, Kind?« fragte er.
»Ja, siehst du, der kleine Willy ist so schwach und krank, und neulich war ich da, als der Arzt hinkam, der sagte, er müsse den Sommer durchaus am Meere zubringen. Frau von Brenken weinte später so sehr. Ich fragte sie, weshalb sie traurig sei, und da meinte sie, daß sie zu arm wären, um sich eine Wohnung am Strande zu mieten. Erna und Ilse haben mir oft von Holmstein erzählt, wo es so schön war und sie den ganzen Tag draußen umherliefen, dort ist Willy immer viel frischer gewesen. Bitte, bitte, liebes Väterchen, sage ja. Du kannst mir doch nichts abschlagen.« Sie küßte ihn stürmisch.
Herr Westerholz lächelte etwas und sann eine Weile nach: »Es ginge wohl,« erwiderte er. »Die Villa steht ohnehin diesen Sommer leer, da ich bald zur Kur nach Karlsbad muß, und du bist von den Verwandten deiner Mutter eingeladen. Da könnten die Brenkens wirklich – hm! hm!«
Alma unterbrach ihn lebhaft. »Es ist sehr lustig, seit Egon da ist, und ich habe Ilse und Erna gern, Heimchen ist mir aber viel lieber. Gertrud ist reizend, so schön und vornehm, ich bewundere sie schrecklich. Nur wenn Axel da ist, wird es langweilig, der arme Egon wird dann jedesmal ganz still. Er sagt, Axel sei ein Pedant, der die Freude störe.«
Ein leises Geräusch im Nebenzimmer unterbrach ihren Redeschwall, Schritte nahten, und der Getadelte stand auf der Schwelle.
Eine glühende Röte färbte das hübsche Gesicht des jungen offenherzigen Mädchens.
»Entschuldigen Sie, Herr Westerholz,« sagte Brenken, der ebenfalls verlegen schien, »ich war noch im Kontor beschäftigt und habe alles gehört, ohne es zu wollen.«
Alma flog wie ein Pfeil davon. Der Kaufherr stand auf und sagte: »Verzeihen Sie meinem Wildfang die unüberlegten Worte, sie ist ja noch ein Kind und spricht oft unbedacht.«
Dann fügte er nach einer Pause hinzu: »Ihr kleiner Bruder soll wieder recht leidend sein. Glauben Sie, daß es Ihrer Frau Mutter lieb wäre, für den Sommer nach Z. zu gehen? Meine Villa steht leer, sie könnte sie benutzen.«
In Axels ernsten Augen strahlte ein helles Licht auf, er ergriff die Hand des gütigen Mannes und dankte ihm mit warmen Worten. Das gewinnende Lächeln verwandelte und verschönte sein Gesicht und ließ es Herrn Westerholz zum erstenmal ganz anders erscheinen. »Bitte, sagen Sie den Ihrigen nichts, die Kleine soll selbst diese Freude haben.«
Axel versprach es und empfahl sich gleich darauf.
»Ein famoser Junge,« dachte der alte Herr bei sich. »Wie schnell hat er sich in das Geschäft hineingefunden, wie gewandt und zuverlässig ist er! Und welch ein guter Mensch er sein muß, das Herz trat ihm, als er mir eben dankte, geradezu in die Augen, sein ganzes Gesicht war wie umgewandelt. Warum habe ich keinen solchen Sohn?« Ein Seufzer schloß sein stilles Selbstgespräch. – – –
Natürlich wurde der Vorschlag freudig angenommen, die Familie siedelte sofort nach Z. über.
Alma sollte zuerst sechs Wochen bei ihren Verwandten in Schlesien zubringen und später vierzehn Tage bei den Brenkens am Strande bleiben.
Der unruhige Egon setzte es bei seiner schwachen Mutter durch, daß er trotz seiner schlechten Aufführung und Faulheit zu seinem Freunde Kurt von Malwitz reiste. Er war tief empört, daß er dritter Klasse fahren sollte. »Wie ein Lump!« rief er ärgerlich, als Axel es ihm sehr kühl ankündigte.
»Ein Lump kann ebensogut in der ersten Klasse sitzen, Egon,« sagte sein Bruder gelassen. »Der Platz bedingt es nicht.«
Er ermahnte ihn, sich bei den Eltern seines Freundes anständig zu betragen, aber Egon lachte ihn aus und kehrte ihm verächtlich den Rücken.
Einen neuen Sommeranzug hatte er der Mutter abgeschmeichelt, sie verkaufte einiges von ihren Sachen, um dem verwöhnten Jungen keine abschlägige Antwort zu geben, er fand es selbstverständlich und dankte ihr kaum.
Sie atmeten alle auf, als er endlich fort war. Auch Gertrud reiste zu einer verheirateten Cousine, die am Rhein lebte, Tante Dora begleitete sie ein Stück Weges und trennte sich dann von ihr, um ihre Schwester nach vielen Jahren wiederzusehen.
Heimchen und die Zwillinge waren überglücklich, am Strande zu sein, sie badeten fleißig und machten lange Spaziergänge. Auch Willys bleiche Wangen überzog allmählich eine zarte Röte, er schien kräftiger als im Winter. Nur Frau von Brenken fühlte sich nicht wohl, ihr rheumatisches Leiden nahm zu und erschwerte ihr das Gehen, es bereitete ihr viele Schmerzen, doch hoffte sie nach den warmen Seebädern, die ihr der Arzt verordnete, eine Linderung ihres Zustandes.
Axel hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ihrer kleinen Wohlthäterin für ihre gewichtige Fürsprache zu danken. Es schien ihm, als ob sie ihn absichtlich vermeide, denn sonst traf er sie oft im Hinausgehen, oder sie nickte ihm zutraulich vom Garten aus zu, wenn sie sich mit Diana und Sultan, ihren beiden Hunden, umherjagte.
Es war ihm bei seiner angestrengten Arbeit jedesmal eine Erquickung gewesen, wenn ihr silberhelles Lachen zu ihm heraufdrang. Zuweilen ertappte er sich darauf, daß er die Feder müßig in der Hand hielt und mit den Augen ihrer leichten, anmutigen Gestalt folgte, die, wie ein Schmetterling vorüberhuschend, zwischen den Bäumen und Sträuchern auftauchte.
Die steife, englische Miß mahnte vergeblich zur Ruhe und Vernunft, fand alles shocking, ohne sich Gehorsam zu verschaffen.
Mehrere Male huschte das junge Mädchen an Axel vorbei und that, als sähe sie ihn nicht. Ihm blieb das Wort im Munde stecken. Endlich ging er entschlossen direkt in den Garten, wo er sie soeben gesehen hatte. Es war Sonnabend, das Kontor geschlossen, er beabsichtigte, die Seinen zu besuchen, um den Sonntag in Z. zu bleiben.
Lange spähte er vergeblich umher, konnte aber keine Spur von Alma entdecken. Endlich kicherte es ausgelassen über ihm, er sah auf, und da saß sie auf dem Ast eines Kirschbaumes und schaukelte sich lustig.
»Wollen Sie Kirschen essen?« rief sie fröhlich und bombardierte ihn mit den frühreifen, wachsgelben Früchten. Er hob sie lachend auf und kostete sie. »Sie sind süß, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Ich wollte das Körbchen Willy bringen. Morgen reise ich fort, Papa hat mir versprochen, heute abend mit mir nach Z. hinauszufahren. Sie können uns begleiten,« schloß sie gnädig.
»Fräulein Alma, ich möchte Ihnen noch für Ihre freundliche Fürsprache bei Ihrem Herrn Vater danken, es war wirklich zu –« eine wohlgezielte Kirsche traf ihn gerade auf den Mund, er blickte erstaunt hinauf.
»Kehren Sie sich um,« befahl sie, »ich muß hinunterspringen. Aber da, nehmen Sie erst den Korb, er ist voll.« Er streckte den Arm danach aus und that ihr dann den Willen indem er sich gehorsam umwandte.
Er hörte, wie sie leicht zu Boden sprang und fortlief, aber sie durfte ihm nicht entgehen, ehe er ihr gedankt, deshalb eilte er ihr nach und erreichte sie am Ende des Gartens. Sie war in die Enge getrieben und stand atemlos vor ihm.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie so laufen können,« rief sie ärgerlich. »Selbst Egon hat Mühe mich zu haschen.«
Er faßte ihre beiden Händchen und schüttelte sie herzlich. »Schon lange sehnte ich mich danach, Ihnen zu danken, Fräulein Alma, aber Sie vermieden mich in letzter Zeit absichtlich.«
Sie errötete über und über und machte sich in holder Verwirrung frei. Schalkhaft blitzten ihn die lachenden Augen unter den dunkeln, langen Wimpern an, und sie fragte halb zaghaft, halb trotzig:
»Sind Sie mir böse, weil ich Sie Pedant und Freudenstörer nannte? Egon behauptet, Sie seien es.«
Er blickte ernst auf das liebreizende, rosige Gesicht nieder. »Ich muß oft so erscheinen, wenn ich es auch nicht bin,« sagte er, und es lag eine leise Schwermut in seinem Ton. »Vor nicht allzulanger Zeit war ich ein lebensfrischer, immer heiterer Gardeoffizier, dem nichts ferner lag als Pedanterie.«
»Wirklich?« Sie sah ihn verwundert an. »Und warum blieben Sie es nicht, es muß viel lustiger sein!«
»Weil ich so besser für die Meinen sorgen kann,« erwiderte er einfach.
Ein scheuer Blick streifte ihn. »Wie geht es Willy?« fragte sie ablenkend. »Ich sah ihn einige Tage nicht.«
»Es geht ihm viel besser, Fräulein Alma, und das ist Ihr Verdienst, Gott segne Sie dafür, daß Ihr gütiges Herz sich etwas so Liebes erdacht hat.«
Seine Stimme klang innig und warm, Alma blickte zu ihm empor; die sonst so ernsten, ruhigen Augen erhellten wie ein Sonnenstrahl sein ganzes Gesicht. Sie lief davon, denn aus dem Hause hörte sie Miß Johnson rufen. Axel folgte ihr langsamer, dem weißen Kleide nachschauend, bis es hinter den Büschen verschwand.
Der Sommer verging den Brenkens angenehmer, als sie es geglaubt. Sie genossen ihren Aufenthalt in Z. doppelt, da auch die pekuniären Sorgen im Augenblick in den Hintergrund traten. Das Hauspersonal war kleiner, und Heimchen war mit der Zeit so praktisch geworden, daß sie mit wenig viel zu leisten vermochte.
Herr Westerholz hatte Axel gebeten, während seiner Abwesenheit ganz in seinem Hause zu wohnen und auch die Mahlzeiten daselbst einzunehmen. Er war so zufrieden mit seinen Leistungen, daß er freiwillig sein Gehalt erhöhte.
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Brenken,« sagte er, als der junge Mann ihm erfreut dankte. »So wenig ich Sie kenne, so weiß ich doch, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«
Wie wohl ihm diese Worte thaten! Er fing an, seinen neuen Stand lieb zu gewinnen. Jedes Ding, dem wir uns mit Leib und Seele widmen, jede Arbeit, die unser bestes Können in Anspruch nimmt, wird uns allmählich wert und teuer.
»Weiß Gott, ich bin in den Jungen geradezu vernarrt,« dachte Herr Westerholz. »Wenn er mich so treuherzig und freundlich ansieht, muß ich ihm gut sein. Der wäre viel zu schade für den Soldaten gewesen, er hat einen echt kaufmännischen Kopf.«
Natürlich fehlte es dem so auffallend Begünstigten nicht an Neidern unter den früher angestellten jungen Leuten. Axel hatte aber eine so freundliche und dabei ernste, bestimmte Art, daß er sich Liebe und Anerkennung erringen mußte.
Der langjährige erste Buchhalter des Geschäftes, Herr Müller, nahm sich väterlich seiner an, er unterwies ihn in den kaufmännischen Zweigen, deren Kenntnis erforderlich war, damit er später eine höhere Stellung auszufüllen fähig sei. Herrn Westerholz' Güte war indessen nicht so ganz ohne Eigennutz. Er teilte die Verehrung seiner Tochter für Gertrud und bewunderte sie im stillen, war aber mit sich selbst noch nicht klar, ob er das entscheidende Wort sprechen sollte.
Er war ein stattlicher Fünfziger, reich und wohlangesehen, und sie war ein armes Mädchen, das um ihr tägliches Brot arbeitete. Würde sie in ihrer frischen, königlichen Schönheit seinen Wünschen geneigt sein? Er wollte nichts übereilen und es sich doch ernstlich überlegen, ehe er seinen Antrag machte.
Am Sonnabend spät, nach Schluß des Kontors, begab sich Axel immer nach Z., wo er bis Montag früh blieb, und es waren für alle wahre Feierstunden, wenn seine hohe Gestalt unter die weinumlaubte Veranda trat. Ilse und Erna liefen ihm jubelnd entgegen, sie hingen sich zärtlich an seinen Arm, Heimchen begrüßte ihn fröhlich, und der kleine Willy wollte emporgehoben und geküßt werden. Der Mutter Augen ruhten unendlich liebevoll auf ihren beiden so verschiedenen Söhnen, auf dem jungen, schönen Mann in der Blüte seiner Jahre, der für sie alle sorgte, auf dem zarten, kranken Kinde, dem er Vater und Bruder zugleich war.
Sie fühlte sich nach dem Gebrauch der warmen Seebäder wohler und machte, auf Axels Arm gestützt, kleine Spaziergänge bis zu einem Platz, der vom Winde geschützt war, und von dem aus man das Meer bewundern konnte.
Zuweilen ruderte er sie weit hinaus, oder er trug Willy viele Stunden umher. Die Westerholzsche Villa lag ziemlich einsam, sie sahen fast niemand von den übrigen Badegästen.
Mit Heimchen verlebte Axel aber die schönsten Augenblicke, wenn sie am Abend allein am Strande dahinschlenderten. Sie sprachen sich dann über alle ihre Sorgen und Freuden aus.
Egon war oft das Thema, das sie beschäftigte, beide Geschwister verhehlten es sich nicht, daß sein Leichtsinn ihnen noch manche trübe Stunde bereiten müsse. Unerwartet kam er viel früher zurück, als sie geglaubt. Eines Morgens trat er, die Hände in den Taschen, in das Kontor hinein, zu Axels höchster Verwunderung. Als ihn dieser fragte, weshalb er so bald zurückgekommen sei, gab er ausweichende Antworten.
»Du, Axel, gieb mir doch vierzig Mark,« sagte er nachlässig. »Ich habe Kurt von Malwitz angepumpt und muß ihm das Geld zurückschicken.«
Der ältere Bruder schob ihm zwei Goldstücke hin und sagte ihm streng, daß er in Zukunft nichts mehr zu erwarten habe, daß er ihn ernstlich bitte, keine unnützen Ausgaben zu machen, da er sie nicht bezahlen werde.
Egon versprach es ziemlich mürrisch und bedankte sich mißmutig. Er fuhr auf seinem Rad unaufhörlich zwischen der Stadt und Z. hin und her. Axel fand ihn einige Male in einem öffentlichen Garten mit andern jungen Leuten; sie lärmten und waren in der heitersten Laune, das im Übermaß genossene Bier war wohl die Ursache davon. Axel beachtete es im Augenblick nicht, um seinen leichtsinnigen Bruder nicht bloßzustellen. Was half es auch, daß er ihm später seine Meinung sagte und ihm Vorwürfe machte, er entzog sich unfreundlich jeder Autorität, indem er die wohlgemeinten Ermahnungen in den Wind schlug. Als er in die neue Schule eintrat, geschah es sehr ungern und mit Widerwillen.
»Du willst doch Seemann werden, Egon,« stellte ihm sein Bruder vor, »du gelangst so zum Ziel deiner Wünsche.«
»Das ewige Lernen ist mir schrecklich,« murrte der faule Junge verdrießlich.
»Was willst du denn, Egon?« rief Axel in heller Verzweiflung.
»Als Matrose weiß ich genug,« versetzte er kurz. »Ich werde da nicht mehr zu lernen brauchen.«
Er war bei einem Lehrer in Pension, so lange die Mutter in Z. war. Der August hatte wundervolle Tage und es wurde beschlossen, daß die Familie Brenken bis zum 1. September am Strande bleiben sollte.