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XII.
Der verlorene Sohn.

Unterdessen lag Egon fast sterbend zu Hause. Sein Übel war sehr ernster Art und machte schnelle Fortschritte. Das ausschweifende Leben, das er geführt, die schwere Arbeit auf den Schiffen und die vernachlässigte Verwundung hatten ihn soweit gebracht.

Wie der verlorene Sohn hatte er voll Trotz das Haus verlassen, um in der weiten Welt sein Glück zu versuchen; gebrochen an Leib und Seele kehrte er nach wenig mehr als einem Jahre heim.

Sie empfingen ihn voll Liebe und Nachsicht, kein Vorwurf traf sein Ohr, sie wetteiferten alle darin, ihm die letzten Tage seines Lebens zu verschönen und zu schmücken. Frau von Brenken besonders war, obgleich tief erschüttert beim Anblick ihres Lieblingssohnes, mit liebevollster Nachsicht um ihn bemüht. Sie war selbst so leidend, daß sie geschont werden mußte, es war gut, daß sie die qualvollen Nächte, auf Wunsch Doktor Hansens, nicht bei dem Kranken zubrachte. Wie hätte ihr Mutterherz die traurigen Stadien dieses schrecklichen Übels ertragen? den kurzen, unruhigen Schlummer, das Ringen nach Luft, den hohlen Husten, der Egons eingefallene Brust zerriß.

Die beiden treuen Freunde der Brenkenschen Familie standen ihnen in diesen trüben Tagen bei; der Arzt that alles, um den Zustand des Sterbenden zu erleichtern, er war es auch, welcher der armen Mutter auf die schonendste Art mitteilte, daß ihr Kind hoffnungslos krank sei, daß Egon das Frühjahr nicht überleben werde.

Niemand ahnte es, wie furchtbar schwer es ihm fiel, diese traurige Pflicht zu erfüllen. Tagelang kämpfte er mit sich, bevor er den Mut dazu fand.

»Weiß Gott,« dachte er, »ich möchte ihr jedes Leid ersparen, und doch ist es besser, sie erfährt es, der plötzliche Schlag träfe sie sonst unvorbereitet und könnte ihren erschütterten Nerven schaden.«

Seine gewöhnliche Trockenheit und Schroffheit traten ihr gegenüber niemals hervor, er sah in ihr noch immer diejenige, die er einst heiß geliebt und deren Bild durch kein anderes verwischt worden war.

Der junge Prediger, Robert Warnbeck, stand dem Kranken gleichfalls als Freund zur Seite, er wachte bei ihm und tröstete ihn in den Stunden der Verzagtheit, er richtete seinen Blick aufwärts zur ewigen, bessern Heimat. Anfänglich sprach Egon noch oft von der Zukunft, er machte Pläne und glaubte, er würde in kurzer Zeit gesund sein. Alle seine liebenswürdigen, bestechenden Eigenschaften kamen zur Geltung, er war wie umgetauscht, sanft und geduldig gegen alle und für jede kleine Freundlichkeit dankbar. Das Leben hatte ihn in die Schule genommen, und in den langen, bangen Nächten vertraute er dem jungen Geistlichen nach und nach alle seine Thorheiten an, die in leichtsinniger und schlechter Gesellschaft verbrachten Stunden, den großen Fehltritt seines Lebens, den er schwer gebüßt und jetzt innig bereute. Das wahre, aufrichtige Christentum seines jungen Freundes blieb nicht ohne Eindruck auf sein Herz, er richtete sich daran auf und fühlte sich gestärkt und getröstet.

Einmal, nach einer besonders schweren Nacht, fragte er Warnbeck: »Glauben Sie, daß ich noch gesund werden kann, Robert, ich möchte so gern leben, um alles gut zu machen.«

Als er angstvoll in das Gesicht Roberts blickte, las er in den ernsten Zügen sein Todesurteil. Da war es denn wieder des Pastors glaubensvolles Zureden und Trösten, das ihn stille machte und ihn das ertragen lehrte, was Gott über ihn bestimmt hatte.

Zu Ostern kehrte Gertrud nach D. zurück. Sie wollte einige Wochen zu Hause bleiben, es war ihr unmöglich, ihre Mutter zu verlassen, so lange Egon krank war, auch bedurfte sie einer Erholung.

»Trudchen,« sagte er, als sie das erste Mal allein waren, »kannst auch du mir verzeihen, wie es Axel und Heimchen bereits thaten, ich kann nicht ruhig sterben, bis du es mir gesagt hast.«

Sie kniete neben seinem Bett nieder und weinte leise, den Kopf in seine Kissen vergraben, und sie sagte ihm, daß sie alles vergessen und ihm nichts nachtragen wolle.

Am Ostersonntag gingen sie alle zum Abendmahl, Egon hatte darum gebeten, und Robert Warnbeck hielt eine schöne, ergreifende Rede, die an das Osterfest anknüpfend, von Auferstehen und einer Wiedervereinigung im ewigen Vaterhause sprach. Später lag Egon sehr friedlich da, das Fenster war geöffnet, und die laue Frühlingsluft strömte in das Sterbezimmer, gemischt mit dem Duft der ersten Blumen, denn es war, Ende April, und die Erde schmückte sich wie eine Braut zur Hochzeit.

»Grüßt Axel,« bat er mit kaum vernehmlicher, erlöschender Stimme, »arme Mutter, bald ist er dein einziger Sohn.«

In der Nacht starb er, ohne schweren Todeskampf, das schöne, abgezehrte Gesicht hatte einen glücklichen Ausdruck, ein seliges Lächeln verklärte es, daß selbst die Mutter leise sprechen mußte: »Was Gott thut, das ist wohlgethan.« Neben dem kleinen Hügel, auf dem die Schneeglöckchen sproßten, fand er seine Ruhestätte, der verlorene Sohn, der wund und müde von der Wanderschaft heimgekehrt war und nun hier, von allem Erdenleid geborgen, schlummerte.

Die Gesundheit Frau von Brenkens war durch Egons Tod schlechter als je, Doktor Hansen verlangte energisch eine Badekur in Rehme. Gertrud hoffte das ihrige dazu beitragen zu können, denn sie hatte durch die Vermittelung von Fräulein Westerholz eine Stelle als Lehrerin im Süden Deutschlands angenommen. Die Gage war eine so hohe, daß sie nach einem Vierteljahr eine ziemlich große Summe nach Hause schicken konnte, und auch Axel ermangelte nicht, für die geliebte Mutter sein Scherflein beizutragen. Es wurde bestimmt, daß Heimchen sie begleiten und sie Ende Juli die Reise antreten sollten.

Es war ihr dieses Mal besonders schwer, sich von Gertrud zu trennen, sie hätte ihr gern anvertraut, was ihr Herz erfüllte, und bebte doch in mädchenhafter Scheu davor zurück.

Ihre Liebe zu Robert Warnbeck war durch das tägliche Beisammensein gewachsen und hatte eine Tiefe und Stärke angenommen, die sie selbst sich nicht zugetraut hatte.

Die liebenswürdige Persönlichkeit des jungen Mannes, sein immer heiteres, freundliches Wesen, der Eifer in seinem Beruf, sein warmes Christentum, das sich in allen seinen Handlungen kundgab, hatten ihr Herz gewonnen. Die Tage und Stunden am Schmerzenslager ihres Bruders hatten ihn der Familie noch mehr genähert und ihn allen sehr teuer gemacht.

Seine leuchtenden, braunen Augen folgten Heimchen verstohlen, wenn er sie hausmütterlich schalten und sorgen sah. Sie war in ihrer stillen, bescheidenen Art die Seele des Hauses, wie Gertrud richtig gesagt. Die kranke Mutter ließ sich von ihr am liebsten pflegen, sie erzog die jüngeren Schwestern, führte die Wirtschaft und dachte immer zuletzt an sich selbst.

So lange Warnbeck kein festes Einkommen besaß, hielt er es für ein Unrecht, das geliebte Mädchen an sich zu binden. Ende Juli wurde er als Pfarrer in eine entfernte Provinz gewählt, er mußte D. in vierzehn Tagen verlassen und wünschte vorher Gewißheit zu haben, ob seine Liebe erwidert wurde.

Ein starker Südsturm hatte einen Tag getobt und in dem kleinen Gärtchen arge Verwüstungen angerichtet. Heimchen betrachtete einen hochstämmigen Rosenstock, dessen Ast halb gebrochen hinunterhing. Die Pflege ihres Gartens war ihre liebste Beschäftigung, der Vikar half ihr dabei, und sie studierten eifrig Bücher und Zeitungen, die ihnen die nötige Anleitung gaben.

Sie holte Bast, Baumwachs und eine Gartenschere, konnte aber nicht allein mit der regelrechten Bandagierung des beschädigten Astes fertig werden. Da öffnete sich die kleine Pforte; sie sah schnell auf und rief erfreut: »Wie gut, daß Sie kommen, Herr Warnbeck, bitte helfen Sie mir, diesen armen Patienten wieder herzustellen.«

Er trat herzu, und während sie behutsam den Ast stützte, schlang er Bast darum und verklebte die Stelle mit dem Baumwachs.

»Der wird schnell gesund werden,« sagte er, »Sie müssen es mich wissen lassen, wie ihm die Kur bekommen ist.«

Etwas in seinem Ton ließ sie fragend zu ihm aufblicken, es lag ein ungewöhnlicher Ernst auf seinem Gesicht.

»Wie meinen Sie das?« fragte sie erstaunt, »wollen Sie D. verlassen?«

Sie waren, weiterschreitend, in die Lindenlaube getreten, die mit ihren dichten Blättern ein verstecktes Ruheplätzchen bot. Warnbeck faßte ihre beiden Hände und sagte innig: »Ich habe soeben erfahren, daß ich zum Pfarrer in K. gewählt bin. Es ist ein stilles Dörfchen, und das Einkommen ist sehr gering. Lassen Sie mich aber nicht fortziehen, ehe Sie mir die Frage beantworten, die mir seit Wochen auf den Lippen schwebt, Fräulein Heimchen!«

Sie suchte ihm verwirrt die Hand zu entziehen, die er mit innigem Druck umspannt hielt. »Ich habe Sie von ganzer Seele lieb, wollen Sie meine Frau werden?«

Heimchens schmales Gesichtchen wurde sehr bleich, und sie wandte den Kopf zur Seite.

»Ich kann es nicht,« hauchte sie tonlos.

Der junge Mann sank auf die Bank und bedeckte seine Augen mit der Hand. »So habe ich mich geirrt, ich hoffte vergeblich! Sie lieben mich nicht?«

Da zog sie seine Rechte herab, ihre Blicke tauchten tief, bis auf den Grund seines Herzens.

»Ich kann ja die Mutter nicht verlassen,« sagte sie, »wie soll sie ohne mich auskommen?«

»Ist das der einzige Grund?« fragte er aufspringend und sie an sich ziehend.

Ihr Haupt sank an seine Schulter, und sie schmiegte sich an seine Brust. »Ja, Robert.«

Er hielt sie jubelnd umschlungen: »Heimchen, mein Lieb, mein alles!«

Es war lange ganz still, zwei glückliche Menschen flüsterten in der Laube und sagten es sich, wie lieb sie sich hatten.

»Wir sind ja noch beide jung und können warten,« sagte Warnbeck. »So bist du jetzt meine Braut, wir gehören uns in Treue an, bis der Tag unserer Vereinigung kommt.«

»Es fällt mir sehr schwer, es nicht der Mutter zu sagen,« meinte Heimchen. »Sie würde nicht wollen, daß ich ihretwegen mein Glück opfere, und nicht wahr, Liebster, ich kann sie nicht allein lassen, so lange Ilse und Erna nicht erwachsen sind!«

»Also in zwei Jahren darf ich dich holen?« bat er, sie wieder in die Arme ziehend und ihr Gesichtchen mit warmen Küssen bedeckend.

»In zwei Jahren!« erwiderte sie, und das reinste Glück strahlte aus ihren blauen Augen.

Nur Tante Dora erfuhr von ihrer heimlichen Verlobung und war natürlich nicht wenig über das frohe Ereignis erfreut. Sie hatte es im stillen gewünscht, liebte sie Heimchen doch von ganzem Herzen.

»Nun wirst du wirklich meine Tante,« jubelte das junge Mädchen, sich in die Arme Fräulein Hageners werfend.

»Ich kann dich als solche nicht mehr lieben,« versicherte die alte Dame zärtlich.

Als das Brautpaar Abschied nehmen mußte, geschah es nicht ohne Schmerz, die Hoffnung auf eine schöne, gemeinsame Zukunft half ihnen aber darüber hinweg und erfüllte sie mit froher Zuversicht und stillem Glück.


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