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IV.
Egon.

Zu Ostern kam Egon nach D. – Egon, mit seiner Unruhe, seinen Ansprüchen, seinem Eigenwillen und seiner Herrschsucht. Er war ein bildschöner, sechzehnjähriger Junge, der sich schon ganz erwachsen fühlte und keiner Zucht und Erziehung mehr zu gehorchen wünschte.

Er brachte sein Zweirad, sein Angel- und Jagdgerät, seinen Hund und mehrere große Kisten mit den verschiedenartigsten Sammlungen mit und konnte es zuerst gar nicht begreifen, als sein Bruder ihm erklärte, das wären Liebhabereien, die nur für einen reichen jungen Mann paßten.

»Ich kann mich nicht von Ralph trennen!« rief er ärgerlich aus. »Es ist der beste Hühnerhund, den ich gesehen, ich brauche ihn, wenn ich zur Jagd gehe!«

»Aber Egon!« lachte Axel, »wo willst du hier zur Jagd? Du scheinst zu glauben, daß wir noch in Holmstein sind!«

Der Jüngere sah ihn verblüfft an. »Nun, dann behalte ich ihn jedenfalls bis zu den Sommerferien. Kurt von Malwitz hat mich zu sich aufgefordert, dort ist eine famose Hühnerjagd!«

Über das Gesicht Axels zog ein Schatten des Unwillens, und er sagte streng: »Das wird von deinem Zeugnis abhängen. Du scheinst in diesem Semester recht faul gewesen zu sein!«

»Was geht es dich an?« schrie Egon grob. »Du bildest dir wohl ein, daß ich noch ein kleiner Bube bin, den du bestrafen kannst? Du hast mir gar nichts zu sagen, nicht soviel!« Er schnippte höhnisch mit dem Finger.

Axel ergriff seine Hand, und sie festhaltend, sagte er kurz und streng: »Ich denke doch, Egon. Die Mutter ist tief gebeugt von all dem Schweren, das sie getroffen hat, da habe ich, als älterer Bruder, ein Wörtchen mitzureden. Ich hoffe, du wirst es einsehen, wie ernst das Leben ist, und daß wir dazu da sind, um unsere Pflicht zu thun!«

»Schade, daß du nicht Prediger geworden bist!« höhnte Egon. »Vergiß nicht, bitte, daß ich sechzehn Jahre zähle und eingesegnet bin!«

Eine dunkle Zorneswelle stieg langsam in Axels Gesicht empor, er beherrschte sich aber und sagte dann ganz ruhig: »Du wirst Ralph fortgeben müssen und dein Rad nicht benutzen, soweit ich zu bestimmen habe, es hindert dich am Lernen. Deine Sammlungen wollen wir einstweilen auf den Boden bringen, unser Zimmer ist viel zu klein, um sie aufzustellen!«

»Hast du denn Chasseur nicht hier?« fragte Egon mißtrauisch.

»Du machst dir keine Vorstellung von der Lage, in der wir uns befinden, Egon!« sagte der ältere Bruder ernst. »Ich schenkte Waldemar von Haßfeld das schöne Tier, da ich mir nicht den Luxus eines Hundes erlauben konnte. Wir berechnen jeden Bissen im Hause. Wir alle müssen jetzt ums Brot arbeiten und uns immer sagen, daß wir arme Menschen sind!«

»Ja, ich finde allerdings, du siehst schäbig genug aus!« versetzte Egon wegwerfend, den einfachen Anzug des älteren Bruders musternd. Wohlgefällig blickte er dann auf seinen eigenen, eleganten Rock.

»Man kann trotzdem ein ganzer Mann sein!« erwiderte Axel ruhig und freundlich. »Ich trug auch lieber meine hübsche Uniform. Als ich den Dienst verließ, konnte ich mir nur diese billigen Kleider anschaffen, und im Kontor sind sie gut genug!«

Egon brach in ein schallendes Gelächter aus. »Nein, Axel, du mußt zu komisch auf dem hohen Kontorstuhl aussehen! Wirklich zu komisch. Hahaha!«

»Nun, es war allerdings viel angenehmer, auf dem Rücken meines edlen Rappen zu sitzen!« versetzte der ältere Bruder sehr gelassen. »Die Notwendigkeit lehrt den Menschen alles, das wirst du auch noch merken, lieber Junge!«

Diese Unterredung fand auf dem Wege vom Bahnhof zu ihrer Wohnung statt. Egon war entrüstet, daß er zu Fuß gehen sollte, er schimpfte über die enge Straße, das häßliche Haus und die drei hohen Treppen.

Frau von Brenken hatte ihren zweiten Sohn von jeher verwöhnt, sein schönes Äußere, seine glänzende Begabung schmeichelten ihrer mütterlichen Eitelkeit. Er hatte viel Geld verbraucht, selbst für einen reichen jungen Menschen, und es fiel ihm schwer, sich jetzt als völlig mittellos anzusehen.

Als das neue Semester anfing, sprach Axel sehr ernst mit ihm; er sagte ihm, daß er sein Bestes von ihm erwarte, und daß es sein Wunsch sei, ihn das Gymnasium durchmachen zu sehen.

»Ich will alles daran setzen, dir ein Studium zu ermöglichen!« schloß er liebevoll, die Hand auf seine Schulter legend.

Egon lachte ihm ins Gesicht. »Ich und studieren!« rief er, »nein, das ist zu drollig, das finde ich einzig in seiner Art!«

»Willst du lieber in ein Kontor?« fragte sein Bruder trocken, ihn verwundert ansehend.

»Fällt mir nicht im Traum ein!« erwiderte Egon wegwerfend. »Das fehlte mir nur noch!«

»Nun, wie denkst du dir denn deine Zukunft?«

»Seemann will ich werden!« sagte der junge Mensch trotzig. »Seit ich hier die Schiffe sah, habe ich dazu Lust bekommen!«

»Ist das dein Ernst, Egon?«

»Gewiß!« versicherte er. »Sieh mich nicht so verwundert an. Ich spaße nicht!«

Axel schwieg sinnend. »Du sitzest noch in Ober-Tertia, obgleich du sechzehn Jahre bist. Wenn du nach Sekunda versetzt wirst, könntest du eine Seemannsschule besuchen. Ich hörte neulich, daß hier eine sehr gute ist, die Aufnahme findet im Herbst statt!«

Dabei blieb es, und da der ältere Bruder wenig zu Hause war, wußte er nicht, was Egon trieb. Das Zweirad war nicht verkauft worden, die Mutter hatte es dem verwöhnten Liebling zu benutzen erlaubt. Der Hund war ebenfalls zu Heimchens Verzweiflung im Hause geblieben und mußte gefüttert werden. Sie wußte oft kaum, wie sie mit dem knappen Wirtschaftsgelde auskommen sollte und ging hinüber, sich bei ihrer alten Freundin Rat zu holen.

»Tante Dora!« rief sie an einem Montagmorgen, in das Stübchen der Klavierlehrerin eilend, »hast du fünf Minuten Zeit?«

»Eine Viertelstunde, liebes Kind. Es ist erst halb acht, und ich muß um acht Uhr in der Schule sein!«

Heimchen schloß die Thür, auf ihrem schmalen Gesicht lag ein Ausdruck banger Sorge.

»Wir haben keine Kohlen, Tante!« sagte sie ängstlich, »ich habe von diesem Monat nichts übrig behalten. Egon ist jetzt da, und Ralph muß gefüttert werden, ich komme immer mit dem Gelde zu kurz!« Die Thränen standen ihr in den Augen. »Willy ist mit seinem Wein zu Ende, und in der Apotheke müssen noch die letzten Medikamente bezahlt werden. Ilse und Erna brauchen neue Stiefel, und Egon behauptet, er müsse einen Schulanzug haben!«

»Und du selbst, Heimchen?«

»Ich brauche nichts, Tante Dora, ich bin ja immer zu Hause, und mein schwarzes Kleid ist wie neu!«

Die kleine, zierliche Gestalt war in diesem Winter gewachsen, das schwarze Kleid ließ die schmalen Füßchen sehen. Die alte Dame betrachtete sie kopfschüttelnd. »Sie denkt doch nie an sich!« das war der Gedanke, der sie beschäftigte.

»Ich ließ schon die letzten Tage wenig heizen!« fuhr das junge Mädchen fort, »heute klagte Willy, daß es sehr kalt sei, und die Mutter sah mich mit so traurigen Augen an, ich muß auf jeden Fall Grete gleich nach Kohlen schicken. Bitte, liebe Tante Dora, nimm dieses Armband und verkaufe es, aber sage es den andern nicht!« Sie reichte ihr eine ziemlich schwere, goldene Kette.

»Aber, liebes Kind, es ist ein Andenken von deinem Vater!« rief die alte Dame bedauernd.

In Heimchens Augen glänzte es feucht. »Ich weiß es!« sagte sie schnell, »es fällt mir nicht leicht, mich davon zu trennen, aber es muß sein, Willy soll nicht frieren!«

»Könntest du nicht Axel bitten, dir das Geld zu geben?«

»Nein, nein, das geht nicht!« rief Heimchen eifrig. »Ich weiß, daß er sich einige Mark erspart hat, die braucht er selbst notwendig, ich kann sie ihm nicht abfordern!«

»Unterdessen nimm hier diese zehn Mark, liebes Kind, damit du das Nötige einkaufen kannst. Ich bringe dir den Erlös deines so freudig geopferten Schmuckes!«

Sie küßte das selbstlose Heimchen innig. »Leider ist eure Wohnung viel feuchter als die meine!« sagte sie, sich eilig ankleidend, »der Wind pfeift tüchtig durch die schlecht schließenden Fenster!«

»Die Mutter klagt häufig über rheumatische Schmerzen in den Füßen, ich fürchte mich davor, hier noch einen zweiten Winter zu verbringen. Wenn wir nur die Miete bezahlen könnten, es ist noch wenig dafür zurückgelegt!«

Sie umarmte ihre alte Freundin und ging hinüber.

Frau von Brenken saß am Fenster und stickte eifrig in einem Rahmen. Sie arbeitete für ein Tapisseriegeschäft und verdiente so einige Mark wöchentlich.

»Zieht es nicht am Fenster, liebe Mutter?« fragte Heimchen besorgt.

»Es ist hier sehr kalt!« antwortete der kranke Bruder klagend statt ihrer, »fühle einmal, Heimchen!«

Er legte seine kleine Hand an ihre Wange, und als sie ihn auf den Schoß nahm, schmiegte er den zarten Körper fest an sie. »Wird Grete bald anheizen?« Es lag eine flehende Bitte in diesen Worten.

Die Mutter hob den Kopf und sah ihre beiden Kinder an, ihre dunkeln Augen waren von Thränen verschleiert. Wie froh war Heimchen, daß sie ihr Armband geopfert hatte.

»Gleich Willychen!« erwiderte sie, ihn zärtlich liebkosend, »warte nur noch etwas, es wird bald hübsch warm werden!«

»Sind keine Kohlen da?« fragte die Mutter ängstlich.

»Es werden gleich neue gebracht werden, ich gab Grete Geld dazu!«

Niemand als Tante Dora erfuhr je den Verkauf des Armbandes. – Axel entbehrte ebenso freudig für die Seinen, er hatte sich das Rauchen abgewöhnt und versagte sich jeden Luxus, der ihm als Diebstahl an seiner Familie erschienen wäre.

Seit Ostern arbeitete er im Kontor der Firma A. C. Westerholz und erwarb sich schnell das Vertrauen und die Anerkennung seines freundlichen Gönners, der die tüchtige Arbeitskraft und Gewissenhaftigkeit des neuen Angestellten gebührend schätzte.

Sein Gehalt war besser, als auf seiner ersten Stelle, und mit frohem Herzen sagte er eines Tages zur Mutter: »Hier sind fünfzig Mark für die Miete und zwanzig für dich und Willychen, ihr habt gewiß mancherlei nötig.«

»Mein lieber, guter Axel,« entgegnete Frau von Brenken, »du arbeitest so angestrengt für uns und entziehst dir alles!« Sie liebkoste die Hand, die ihr die Scheine bot.

»Wo ist Egon?« fragte er, um dem Dank zu entgehen. »Ist er noch in der Schule?«

»Nein, er ging angeln,« rief Ilse aus dem Nebenzimmer, »er sagte, die Zeichenstunde sei langweilig, die müsse man schwänzen.«

»Ich fürchte, er thut es oft, liebe Mutter,« sagte Axel bekümmert. »Sein griechischer Lehrer beklagte sich über seine Faulheit, ich sprach ihn gestern.«

Frau von Brenken seufzte tief. »Wenn er nur in der neuen Schule vorwärts kommt, es ist schade, daß er keine Lust zum Studieren hat.«

Einigemal hatte Egon seinen Bruder um Geld gebeten. »Wozu brauchst du es?« hatte jener gefragt.

»Wozu?« erwiderte Egon erstaunt. »Zu hundert verschiedenen Dingen. Ich habe Zigaretten nötig, muß mir Handschuhe und Krawatten kaufen, und ich kann doch nicht trocken dabei sitzen, wenn die andern Jungen Bier trinken, ich bin kein Philister wie du.«

Als er nichts erhielt und Axel ihm Vorstellungen machte, rief er grob: »Behalte deine langweilige Moral für dich, ich komme ohne sie aus.«

Er verkaufte Ralph, zu Heimchens stiller Freude, und verjubelte das Geld in wenig Tagen.

Die Sammlungen folgten dem Hühnerhunde; er selbst kam spät nach Hause und machte sich aus Thränen und Bitten seiner Mutter nichts.

Mehr Eindruck machte Axels Strenge auf ihn, der ihm ins Gewissen redete, als er ihn in ziemlich angeheitertem Zustande auf der Straße traf. Der ältere Bruder gebrauchte dieses Mal das ganze Übergewicht seiner Jahre und Stellung als Haupt der Familie, er war fast hart gegen den Sünder, der sich seitdem vor ihm hütete und seinen Leichtsinn verheimlichte.

Natürlich blieb er in der Klasse sitzen, und der Direktor des Gymnasiums sagte, daß er ihn nicht wieder aufnehmen könne, weil er ein schlechtes Beispiel gäbe.

Im Hause neckte er die kleinen Schwestern und war vorlaut und ungezogen gegen die Mutter, grob und zänkisch gegen Gertrud und Heimchen; dabei fand er immer, daß er zurückgesetzt würde, und forderte herrisch, was er brauchte. Er bedachte nie, wie viele Opfer er dem Haushalt auferlegte.

Es wurde Sommer, die meisten Familien zogen aus der heißen Stadt in die Bäder, aufs Land oder an das Meer. Die engen Stuben waren glühend heiß, das kranke Kind schmachtete nach einem frischen Luftzug, und sie alle dachten an die früheren Sommer in Holmstein, an den tiefen, kühlen Schatten der alten Bäume, an den großen Park voll Blumen und Farnkraut, an das luftige, geräumige Haus mit den hohen Räumen, in denen es am heißesten Tage angenehm und kühl war. Sie sehnten sich nach dem verlornen Heim, und ein jeder trug still für sich an diesem Weh.


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