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Wir sahen den Herzensbund Schillers und Lottes entstehen, wachsen und zu einem glücklichen Abschlusse gelangen. Des Dichters Sehnsucht nach häuslichem Frieden und Behagen war jetzt erfüllt, und es kam dadurch in sein Leben das versöhnende Element, welches sein Dichten zu immer harmonischerer Entwickelung und Durchbildung brachte.
An der Schwelle der Hochzeitkammer uns bescheiden rückwärts wendend, haben wir den teuren Mann seinem Glück überlassen. Wir könnten jetzt das Spendeopfer ausgießen und die Leser entlassen, welche unser Thema, wenn auch nicht die Ausführung desselben, um uns versammelt haben mag. Aber wir glauben, daß uns noch eine Pflicht zu erfüllen übrig bleibe, die, den Dichter zu begleiten bis ans Ende seines Lebensganges, bis zum Fahnenschwenken über seinem Grabe.
Und so rolle denn der Vorhang noch einmal empor. In rasch wechselnden Szenen, bei deren Vorführung uns meist nur die Tätigkeit des Anordners obliegt, mag das Drama seinem Ende zuschreiten. Oder, mit anderen Worten, wir machen jetzt Mosaik, um das Lebensbild des Dichters und damit mich das Bild seiner Zeit zu vollenden. Ein reiches Material liegt bereit, und wir brauchen die einzelnen Steine nur in den Rahmen einzupassen.
1. Schiller an Körner.
»Ich bin ein sechstägiger Ehemann, und was für ein schönes Leben führe ich jetzt! Ich sehe mit fröhlichem Geiste um mich her, und mein Herz findet eine immerwährende sanfte Befriedigung außer sich, mein Geist eine schöne Nahrung und Erholung. Mein Dasein ist in eine harmonische Gleichheit gerückt. Nicht leidenschaftlich gespannt, aber ruhig, und hell gingen diese Tage dahin. Ich habe meiner Geschäfte gewartet wie zuvor und mit mehr Zufriedenheit mit mir selbst. Es lebt sich doch ganz anders an der Seite einer lieben Frau als so verlassen und allein. Jetzt erst genieße ich die schöne Natur ganz und lebe in ihr. Es kleidet sich wieder um mich herum in dichterische Gestalten, und oft regt sich's wieder in meiner Brust. Meinem künftigen Schicksal sehe ich mit heiterem Mute entgegen; jetzt, da ich am erreichten Ziele stehe, staune ich selbst, wie alles doch über meine Erwartung gegangen. Das Schicksal hat die Schwierigkeiten für mich besiegt, es hat mich zum Ziele gleichsam getragen. Von der Zukunft hoffe ich alles. Wenige Jahre und ich werde, im vollen Genusse meines Geistes leben, ja, ich hoffe, ich werde zu meiner Jugend zurückkehren. Ein inneres Dichterleben gibt sie mir zurück.«
2. Lotte an Wilhelm von Wolzogen
»Du mußt nun wissen, daß ich seit vierzehn Tagen Schillers Frau bin. Da uns die herzlichste, innigste Liebe verbindet, kannst Du denken, daß wir glücklich sind und es bleiben werden. Ich ahnte nie soviel Glück in der Welt, als ich nun gefunden. Das Herz findet sich bei der Liebe zu Schiller mit tausend starken Banden an ihn gebunden. Ich hätte in keiner andern Verbindung das gefunden, was mir jetzt geworden, und auch ich werde ihm durch meine Liebe sein Leben immer freundlich erhellen; und er ist glücklich, sagt mir mein Herz. Lieber Wilhelm, wer hätte es denken sollen, daß es so werden würde, als Du uns meinen Schiller zum erstenmal vorführtest? Dank Dir, Dank dem Schicksal, das mir meine Freuden durch Dich gab!«
Die Universität Jena zählte damals gegen achthundert Studenten, und man kann sich leicht vorstellen, daß es da manchmal bunt übereck herging. Ein Studentenlied aus jener Zeit stellt und beantwortet die Frage, wer »ein rechter Bursch« sei, so:
Wer ist ein rechter Bursch? Der, so am Tage schmauset.
Des Nachts herumschwärmt, wetztDen Hieber auf dem Pflaster. und brüllt und brauset,
Der die Philister schwänzt, die Professores prellt
Und nur zu Burschen sich von seinem Schlag gesellt.
Solcher »rechten« Burschen gab es auch in Jena nicht wenige, und die Studentensitte war im allgemeinen roh und rüde. Keine Woche verging ohne irgend eine »Geschichte«, in welcher der jugendliche Übermut sich austobte. Ein Student, der sich von einer schönen Gräfin, während ihr Reisewagen vor dem Gasthause hielt, in »ziemlich graziöser Weise« einen Kuß erbeten, wurde relegiert. Darüber Aufruhr unter seinen Kommilitonen, welcher durch requiriertes Militär niedergeschlagen werden mußte. Sofort zogen die Studenten in hellen Haufen aus der Stadt nach Erfurt, bis eine allgemeine Amnestie sie wieder nach Jena zurückführte.
Und neben der Studentenromantik ging auch die Professorenwunderlichkeit im Schwange. In den Straßen von Jena begegnete man damals abenteuerlichen Gelehrtenfiguren, welche an die Gundling und Faßmann und Morgenstern am Hofe Friedrich Wilhelms I. erinnerten. Da sah man einen Doktor legens der Mathematik, der von den Studenten aus Barmherzigkeit in ein Galakleid gesteckt wurde, welches ihm vom Leibe faulte, so daß er im Federhut und roten Treffenrock, einen schwarzen Strumpf um den Hals und ein zerlöchertes Hemd darunter, einherging. Ferner einen Orientalisten in einem abgeschabten weißen Rock, der ihm um ebensoviel zu lang als das schwarze Beinkleid zu kurz war, in ausgetretenen Pantoffeln einherschlurfen, sich mittels eines Quastenstockes, der ihm bis über die Nase ging, im Gleichgewicht erhaltend. Endlich einen Philosophen, welcher durch Anschlag am schwarzen Brette bekannt machte, er wolle über Kants »Kritik der reinen Vernunft« lesen, falls ihm jemand das fragliche Buch leihen würde.
Aber diesem Zynismus stand auch wieder die feinste Sitte zur Seite und der gelehrten Wunderlichkeit das edelste wissenschaftliche Streben. Damals lehrten in Jena neben Schiller ein Hufeland, Griesbach und Paulus. Bald kamen auch Fichte, die Brüder Schlegel, Schelling und Hegel. Die kleine Universitätsstadt wurde recht eigentlich der Mittelpunkt jener großen Bewegung, welche sich in der deutschen Wissenschaft auf der Grenzscheide zweier Jahrhunderte vollzog und das ganze Geistesleben der Nation mit frischen Säften schwellte.
Ganz eigen mutet uns, die wir uns seither an reichere Lebensformen gewöhnt haben, die Simplizität und Frugalität an, welche in jenen jenaischen Kreisen herrschte. Ein gewisser idyllischer Zug kennzeichnete das damalige deutsche Gelehrtentum. So sehen wir Lotte ihren Schiller in sein Auditorium begleiten, um ihm, während er doziert, im Seitenzimmer Tee zu bereiten, und der Dichter schreibt darüber, anfangs habe sich seine Frau sehr vor den Studenten gefürchtet, jetzt aber habe sie Herz. Dann wieder hat Schiller eine Abendgesellschaft gebeten, ohne in seiner Sorglosigkeit die Hausfrau davon zu benachrichtigen. Da werden dann in der Eile ein paar ungleiche Tische zusammengerückt, ein Tischtuch wird darüber geworfen, und es erscheint ein Stück Braten und etwas Salat als die ganze Aufwartung, was aber die Unbefangenheit und Fröhlichkeit der Gesellschaft durchaus nicht beeinträchtigt.
Neben seinem akademischen Lehramt gab sich Schiller wieder mit Eifer literarischen Plänen und Arbeiten hin. Er schrieb seine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, welche als Vorstudie zum Wallenstein anzusehen ist. Sein dichterischer Genius, bevor er seinen herrlichsten Aufschwung nahm, nährte sich in dieser Zeit still mit dem Studium der Geschichte und der Philosophie Kants. In diese führte ihn sein Kollege Reinhold ein, der eifrigste Apostel des Königsberger Weisen, und sie wurde für ihn, was für Goethe die Reise nach Italien geworden, das Läuterungsbad, aus welchem dann seine Poesie in vollendeter Schönheit und ganzer Kraft hervorging.
So, im Besitze einer trefflichen Frau, von seinen Hörern geehrt und geliebt, durch den Umgang mit strebenden Freunden gehoben, konnte sich der Dichter in der Gegenwart behagen und hoffend in die Zukunft blicken. »Ich habe,« schrieb er am Schlusse des Jahres 1790 an feinen Vater, »ich habe freilich viel Arbeit, aber es fehlt mir dazu nicht an freudigem Mut, und der Himmel segnet sie.«
Doch schwere Prüfungsstunden kamen.
Schillers Körper war ein zu schwaches Gefäß für einen solchen Geist. Schon jetzt versagte jener diesem oft den Dienst – in bedrohlichster Weise.
Wir finden den Dichter im Krankenzimmer, von einem gefährlichen Fieber langsam genesend. Von Zeit zu Zeit arbeitet es schmerzlich in seiner Brust. Er führt dann ein Tuch an die Lippen, und wenn er es wieder wegzieht, haften rote Flecken an der Leinwand.
Schwägerin Karoline ist aus Rudolstadt herübergekommen, um gemeinsam mit der Schwester den Kranken zu pflegen. Sie sitzt an seinem Bette und liest ihm aus Kants »Kritik der Urteilskraft« vor.
Die hohen Gedanken des großen Philosophen wecken verwandte in der Seele des Kranken.
»Mir kommt eine gute Idee, liebe Schwester,« sagt er. »Reiche mir dort vom Tische die Schreibmaterialien.«
Sie sieht ihn bittend, abwehrend an. Er versteht ihren Blick und sagt sanft:
»Dem allwaltenden Geiste der Natur müssen wir uns ergeben und wirken, solange wir's vermögen.«
Nun gehorcht die Freundin, und während der Kranke schreibt, tritt sie ans Fenster und flüstert in sich hinein:
»Nein, daß solch ein Wesen in der Blüte seiner Kraft enden und uns für immer entzogen werden könne, es darf nicht sein, es ist nicht möglich!«
Nach einer Weile hält der Kranke ermattet in seiner Arbeit inne und sagt:
»Wenn ich wieder gesund werde, liebe Schwester, muß ich entweder das Meer oder die Alpen sehen. Seeluft oder Alpenluft soll mir die Brust stärken und die Seele weiten.«
Ach, dieser Seufzer, oft und sehnsüchtig wiedergekehrt, ist erfolglos verhallt. Ihm, der vom Meer und von den Alpen so schön gedichtet, war es niemals gegönnt, weder diese noch jenes zu sehen.
Lotte ist abgerufen worden. Im Nebenzimmer liest ihr Freund Reinhold einen Brief von Jens Baggesen vor, welchen er soeben aus Kopenhagen erhalten.
Die Kunde von Schillers Erkrankung war bis nach Dänemark gelangt, und ein ihr nachtretendes falsches Gerücht von seinem Tode hatte dort die Verehrer des Dichters in tiefe Bestürzung und Trauer versetzt. Baggesen, dessen Enthusiasmus für den Schöpfer des »Don Karlos«, welchen er unlängst zu Jena persönlich kennen gelernt, die Farbe der Schwärmerei des Jahrhunderts trug, hatte schmerzlich ausgerufen: »O, warum mußte dieser Raffael vor seiner Transfiguration sterben!« Und er beredete seine Freunde, den Herzog Christian Friedrich von Holstein-Augustenburg und den Minister Grafen Ernst von Schimmelmann, dem geliebten Totgeglaubten ein feierliches Totenfest zu halten, draußen in Hellebeck, am Meeresufer, der schwedischen Küste gegenüber. Auch die Frauen der drei Freunde nahmen an der Feier teil, und da saßen denn diese sechs guten Menschen am genannten Orte zusammen und lasen Lieblingsszenen aus dem »Don Karlos« und die Götter Griechenlands und die Künstler, und ein heimlich von dem Grafen herbestellter Sängerchor intonierte das Lied an die Freude, während weißgekleidete Knaben und Mädchen Blumen streuten, und tiefergriffen gelobten zuletzt alle, dem Geiste des teuren Dichters treu zu sein »bis zum Wiedersehn dort oben«.
Als Reinhold mit der Vorlesung des Briefes, welcher solches enthielt, zu Ende gekommen, sagte er:
»Meinen Sie nicht, verehrte Frau, daß die Mitteilung dieser Epistel auf unsern Kranken heilsamer wirken werde als irgend eine Arznei?«
»O, gewiß!« erwiderte Lotte. »Und wenn Sie Baggesen antworten, so sagen Sie ihm – sagen Sie ihm – schreiben Sie ihm –«
Sie konnte nicht ausreden, denn ein Tränenstrom erstickte ihre Stimme.
»Ich kann ihm nichts Besseres und Rührenderes schreiben, als was ich jetzt sehe und höre,« sagte der Freund.
Er schrieb an den dänischen Dichter, was er gesehen und gehört; er schrieb aber auch zugleich, Schiller könnte sich vielleicht ganz erholen und wieder zu fester Gesundheit gelangen, »wenn er nicht im Falle einer Krankheit unschlüssig sein müßte, ob er seinen Gehalt von zweihundert Talern in die Apotheke oder in die Küche schicken sollte« – ein Wort, welches in seiner bittern Wahrheit zu denen gehört, die der deutschen Nation die Schamröte auf die Stirne treiben müssen.
Darauf kam mit umgehender Post ein von dem Herzog von Augustenburg und dem Grafen Schimmelmann geschriebener und unterzeichneter Brief an Schiller, den wir hersetzen, weil er nicht oft genug wiederholt werden kann. Diese Urkunde, welche nach unserem Gefühl eins der schönsten kulturgeschichtlichen Dokumente des achtzehnten Jahrhunderts ist, lautet so:
»Zwei Freunde, durch Weltbürgersinn miteinander verbunden, erlassen dieses Schreiben an Sie, edler Mann. Beide sind Ihnen unbekannt, aber beide verehren und lieben Sie. Beide bewundern den hohen Flug Ihres Genius, der verschiedene Ihrer neueren Werke zu den erhabensten unter allen menschlichen stempeln konnte. Wir finden in diesen Werken die Denkart, den Sinn, den Enthusiasmus, der das Band unserer Freundschaft knüpfte, und gewöhnten uns bei ihrer Lesung an die Idee, den Verfasser als Mitglied unseres freundschaftlichen Bundes anzusehen. Groß war also auch unsere Trauer bei der Nachricht von seinem Tode, und unsere Tränen flossen nicht am sparsamsten unter der großen Zahl von guten Menschen, die ihn kennen und lieben.
Dieses lebhafte Interesse, welches Sie uns einflößen, edler und verehrter Mann, verteidige uns bei Ihnen gegen den Schein von unbescheidener Zudringlichkeit! Es entferne jede Verkennung der Absicht dieses Schreibens. Wir faßten es ab mit einer ehrerbietigen Schüchternheit, welche uns die Delikatesse Ihrer Empfindungen einflößt. Wir würden diese sogar fürchten, wenn wir nicht wüßten, daß auch in der Tugend edlen und gebildeten Seelen ein gewisses Maß vorgeschrieben ist, welches sie ohne Mißbilligung der Vernunft nicht überschreiten darf.
Ihre durch allzu häufige Anstrengung und Arbeit zerrüttete Gesundheit bedarf, so sagt man uns, für einige Zeit einer großen Ruhe, wenn sie wiederhergestellt und die Ihrem Leben drohende Gefahr abgewendet werden soll. Allein Ihre Verhältnisse, Ihre Glücksumstände verhindern Sie, sich dieser Ruhe zu überlassen. Wollen Sie uns wohl die Freude gönnen, Ihnen den Genuß derselben zu erleichtern? Wir bieten Ihnen zu dem Ende auf drei Fahre ein jährliches Geschenk von tausend Talern an. Nehmen Sie dieses Anerbieten an, edler Mann! Der Anblick unserer Titel bewege Sie nicht, es abzulehnen. Wir kennen keinen Stolz als den, Mensch zu sein, Bürger in der großen Republik, deren Grenzen mehr als das Leben einzelner Generationen, mehr als die Grenzen eines Erdballs umfassen. Sie haben hier nur Menschen, Ihre Brüder, vor sich, nicht eitle Große, die durch solchen Gebrauch ihrer Reichtümer nur einer etwas edleren Art von Stolz frönen.
Es wird von Ihnen abhängen, wo Sie dieser Ruhe Ihres Geistes genießen wollen. Hier bei uns würde es Ihnen nicht an Befriedigung der Bedürfnisse Ihres Geistes fehlen, in einer Hauptstadt, die der Sitz der Regierung, zugleich eine große Handelsstadt ist und sehr schätzbare Büchersammlungen enthält. Hochachtung und Freundschaft würden von mehreren Seiten wetteifern, Ihnen den Aufenthalt in Dänemark angenehm zu machen, denn wir sind hier nicht die einzigen, welche Sie kennen und lieben. Und wenn Sie nach wiederhergestellter Gesundheit wünschen sollten, im Dienste des Staates angestellt zu sein, so würde es uns nicht schwer fallen, diesen Wunsch zu befriedigen.
Doch wir sind nicht so klein eigennützig, diese Veränderung Ihres Aufenthalts zu einer Bedingung zu machen. Wir überlassen dies Ihrer eigenen freien Wahl. Der Menschheit wünschen wir einen ihrer Lehrer zu erhalten, und diesem Wunsche muß jede andere Betrachtung nachstehen.«
Wieder genesen, vollzog unser Dichter den inneren Reinigungsprozeß durch Fortführung seiner kunstphilosophischen Studien. Früchte derselben waren zunächst jene ästhetischen Abhandlungen, von welchen schön gesagt worden, daß sie die Gesetze des Schönen schon im Geben erfüllen. Schiller tritt in diesen Schriften keineswegs als abstrakter Ästhetiker auf. Überall geht er darauf aus, zu zeigen, daß in der Schönheit auch die Freiheit enthalten sei, überall waltet die Beziehung der Kunst zum Staate, die Beziehung des mittels des Schönen erzogenen Menschen zum freien Staatsbürger. Allerdings wurde hierbei das Staatsbürgertum im weitesten Sinne gefaßt, in dem von Weltbürgertum. Schiller, wie alle die größten Geister deutscher Nation, war Kosmopolit von ganzem Herzen. Diese auserwählten Menschen eilten ihren Zeitgenossen um Jahrhunderte, vielleicht um Jahrtausende voraus.
Mitten unter diesen Arbeiten überfiel den Dichter ein echt schwäbisches Heimweh, das bekanntlich dem schweizerischen an Stärke kaum nachsteht. »Die Liebe zum Heimatlande ist sehr lebhaft in mir geworden, und der Schwabe, den ich ganz abgelegt zu haben glaubte, regt sich mächtig,« schrieb er im Juli 1793 seinem Körner, und wenige Wochen später befand er sich mit Lotte auf der Fahrt nach dem alten geliebten Schwabenland.
An den Ufern des heimatlichen Neckar angekommen, nahm er zuerst in der Reichsstadt Heilbronn Quartier. Hier begrüßten ihn die herbeigeeilten Eltern, Jugendfreunde, Verehrer. Da legte er in die Arme der entzückten Mutter seine Lotte und empfing von dem ernsten Vater, der, jetzt als Major, noch immer die Oberaufsicht über die Solitude hatte, einen Händedruck, der ihm sagte, daß der Greis mit seinem Fritz zufrieden sei.
Von Heilbronn aus schrieb Schiller an Herzog Karl. Der alte Herr war damals durch die Gicht in sein Zimmer zu Hohenheim gebannt, und die Schatten des nahenden Todes dämmerten schon um ihn. Er hat auf den Brief des Dichters, der unzweifelhaft im Tone eines dankbaren Zöglings gehalten war, nur verlauten lassen, »Schiller werde nach Ludwigsburg und Stuttgart kommen und von ihm ignoriert werden«, aber die Zuschrift hatte dem Fürsten doch wohlgetan. Es lag doch auch für ihn eine Genugtuung darin, daß ein Zögling seiner Akademie ruhmgekrönt und von den Besten der Zeit hochgeachtet in die Heimat zurückkehrte. Herzog Karl hätte müssen kein Schwabe sein, wenn er sich nicht innerlichst darüber gefreut hätte. Aber er war jetzt ein verbitterter Greis, ein grämlicher, dem Tode naher Podagrist, um dessen Stuhl her noch dazu die schwersten Sorgen lagerten. Konnte doch das furchtbare Gewitter, welches damals Frankreich durchtobte, sich täglich rheinherüber nach den deutschen Grenzländern wälzen. Unter solchen Umständen heißt es dem alten Herrn nur Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn wir in seinem Ausdruck, er werde den heimkehrenden Dichter ignorieren, das heißt, er werde ihm nichts in den Weg legen, den Sinn finden, daß er ihm verziehen habe.
So kam denn Schiller nach Ludwigsburg und Stuttgart, die Stätten, Lehrer und Freunde seiner Jugend zu begrüßen. Alles kam ihm mit herzlicher Huldigung entgegen. Denn schon die vorteilhafte Umwandlung, welche die Jahre an seiner Persönlichkeit hervorgebracht, mußte einen gewinnenden Eindruck machen. Sein Akademiegenosse und Herzensfreund Hoven, damals Hofmedikus in Ludwigsburg, erzählt: »Sein jugendliches Feuer war gemildert. Er hatte jetzt weit mehr Anstand in seinem Betragen; an die Stelle der vormaligen Nachlässigkeit war eine anständige Eleganz getreten, und seine hagere Gestalt, sein blasses Aussehen vollendete das Interessante seines Anblicks. Leider war der Genuß seines Umgangs häufig durch seine Krankheitsanfälle gestört, aber in den Stunden des Besserbefindens – in welcher Fülle ergoß sich da der Reichtum seines Geistes! Wie liebevoll zeigte sich sein weiches, teilnehmendes Herz! Wie sichtbar drückte sich in allen seinen Reden und Handlungen sein edler Charakter aus! Wie anständig war jetzt seine Jovialität, wie würdig waren selbst seine Scherze! Kurz, er war ein vollendeter Mann geworden.«
Die Heimatluft stimmte ihn schöpferisch. Er dichtete damals an seinem Wallenstein, jenem Werke, das nach Goethes Ausdruck so groß ist, daß ein zweites dieser Art gar nicht existiert. Und daneben hat der Treffliche Zeit und Lust zu einem schönsten Liebeswerk gefunden. Aus den hohen Regionen seiner Dichtung stieg er herab in den Staub und Lärm der Ludwigsburger Schulstube, wo er, um seinem ehemaligen Lehrer Jahn, welcher während seiner Anwesenheit erkrankt war, eine Erleichterung zu verschaffen, die Knaben Logik und Geschichte lehrte.
In Stuttgart besuchte er auch die Räume der Karlsschule, wo der Strom seiner Poesie zuerst »so voll und schäumend« hervorgebrochen war. Da wurde dem gefeierten Gast ein schöner Triumph bereitet. Mit Enthusiasmus wurde er von den 400 Karlsschülern im großen Speisesaal begrüßt. »Vor jeder Tafel, zu 50 Gedecken jede,« erzählt uns einer der damaligen Zöglinge »unter Begleitung des Intendanten der Akademie und seiner Offiziere anhaltend, empfing der Dichter mit Huld und sichtbarer Rührung unser lautes klingendes Hoch!«
War das nicht eine Genugtuung für die Erinnerung, daß er einst bei Nacht und Nebel aus Stuttgart hatte entweichen müssen?
An einem ungewöhnlich freundlichen Oktobertag hatte im Schillerschen Hause auf der Solitude die Hausfrau vom frühen Morgen an viel getan, um eine stattliche Mahlzeit zu rüsten. Das blasse Antlitz der Sechzigjärigen war heute gerötet, mehr noch von der Freude, als von der Anstrengung, und ihre freundlichen Augen strahlten von Glück.
Galt es doch, die Feier des siebzigsten Geburtstages ihres Eheherrn recht festlich zu machen, denn der geliebte Sohn war dazu mit seinem Freunde Hoven von Ludwigsburg heraufgekommen, wo Lotte leider hatte zurückbleiben müssen, infolge einer Unpäßlichkeit, welche aber nur Folge der glücklichen Erfüllung einer schönen Hoffnung war.
Der Herr Major thronte ganz glücklich in seinem an den Tisch gerückten Sorgenstuhl, das silberweiße Haupt mit einem zierlich gestickten Sammetkäppchen bedeckt, welches ihm die Schwiegertochter mit ihren besten Wünschen durch den Sohn geschickt hatte.
Die Mahlzeit, war unter heiterem Geplauder zu Ende gegangen, und eben wollte der Greis, als treuer Diener seines Herrn, die Gesundheit des Herzogs ausbringen, als draußen Geräusch entstand und die alte Magd in das Zimmer stürzte mit dem Ausruf:
»Ach, Herr Jeses, der Herzich ist tot! Vor drei Stunden, sagt der an den Schloßverwalter geschickte Bote, ist er zu Hohenheim gestorben.«
»So habe ihn Gott selig!« sagte der Greis.
Und er nahm das Käppchen vom Haupt, und seine Lippen bewegten sich in leisem Gebet.
Schiller und die Mutter saßen schweigend.
Hoven bemerkte:
»Wenn Schubart noch lebte, würde er sagen: Der Herodes ist endlich abgefahren!«
»Das wäre schlecht von dem Schubart,« versetzte der Greis mit Strenge. »Ich sag', wie auch der Herzog früher irrte, was er auch fehlte, seit langen Jahren hat er nach bestem Wissen und Gewissen seine Schuldigkeit getan. Mehr kann niemand tun, und immer war er, was der Schubart – Gott verzeih' es mir, daß ich einem Toten Übles nachreden muß – niemals gewesen, ein Mann!«
Der Hofmedikus nahm die Zurechtweisung geduldig hin. Um aber die drückende Pause, welche eingetreten war, zu endigen, füllte er die Gläser, hielt das seinige an das des Majors und sagte mit einem Blick auf den Schöpfer des Liedes an die Freude:
»Wohlan, auch die Toten sollen leben!«
Versöhnt schlug der Greis an, und der Dichter bemerkte ernst und ergriffen:
»So ist er also zur Ruhe gegangen, dieser rastlos tätige Mann! Er hatte große Fehler als Regent, noch größere als Mensch; aber die ersten wurden von seinen großen Eigenschaften überwogen, und das Andenken der letzteren muß mit dem Toten begraben werden. Darum sage ich, wer jetzt noch nachteilig von ihm spricht, der ist kein guter, wenigstens kein edler Mensch.«
»Recht so, lieber Fritz!« sagte der Major, dem Sohne die Hand reichend, während eine Träne an seinen grauen Wimpern funkelte. »Sieht Er, dies Wort von Ihm freut mich mehr als Sein schönstes Gedicht.«
Von dem einen Toten kam die Rede auf andere. Der Dichter hatte viele seiner liebsten Bekannten nicht mehr in der Heimat vorgefunden, am ungernsten aber zwei vermißt, den Sammetdoktor und Schubart.
Der humoristische Arzt war erst vor kurzem gestorben, dem Humor bis zum letzten Atemzuge getreu.
»Als er auf dem Sterbebette lag,« berichtete Hoven dem Freund, »erhielt er unter anderen Besuchen auch den eines Kollegen, welcher dem Kranken zuerst allerlei Hoffnungen vormachte, zuletzt aber, das ungläubig ironische Lächeln desselben bemerkend, das Wort fallen ließ, das Sterben sei ja nichts so Schweres. – ›Haben Sie es schon versucht?‹ versetzte der Sammetdoktor spottend, und als er die verlegen verneinende Miene des Amtsbruders sah, fügte er hinzu: ›Wohlan, ich will mich mit diesem Experiment sogleich alles Ernstes befassen.‹ – Wenige Sekunden darauf kehrte er das Gesicht der Wand zu und verschied mit den Worten des Rabelais: Je m'en vais chercher un grand Peut-être.«
»Friede seinem Staube!« sagte Schiller. »Er war ein wunderliches Original, voller Widersprüche, Pessimist und Enthusiast zugleich, unfähig, seiner Spottlust zu widerstehen, und dennoch herzensgut. So ziemlich das nämliche läßt sich auch von Schubart sagen, dessen Tod mich vor zwei Jahren tief ergriffen hat. Es knüpfte sich doch so manches in dem Entwickelungsgange meines eigenen Talents an diesen unglücklichen Mann, dem es nicht gegönnt war, zu harmonischer Entfaltung seiner zweifellos bedeutenden Anlagen zu gelangen. Wie lebte er in den letzten Jahren nach seiner Erlösung vom Asperg?«
»So gut, daß er zuletzt ganz furchtbar rot und aufgedunsen war,« versetzte Hoven. »Du weißt, daß ihn der Herzog, nachdem er ihn mittels zehnjähriger Kerkerhaft erzogen, wie er es nannte, zu seinem Hofschauspieldirektor und Hofpoeten machte. Da mußte er denn die Karmina zur Feier der durchlauchtigsten Geburts- und Namenstage, Genesungen, Reisen und Heimkünfte anfertigen, und charakteristisch ist es, daß er das oft nicht allein mit geziemend ernster Miene, sondern mit wirklicher Begeisterung für den Herzog tat. In besseren Stunden hat er in seiner wiederaufgenommenen ›Deutschen Chronik‹ Blitze einer genialen Anschauung und Beurteilung der Weltlage ausgehen lassen. Im Grunde seines Herzens Republikaner, hatte er insbesondere der nordamerikanischen Republik Aufmerksamkeit und Neigung zugewendet. Dort, meinte er, würden, wann die übrigen Weltstaaten längst erschlafft wären, noch Taten geschehen, welche der Menschheit Ehre machten. Wenige Nummern später machte er die Leser der Chronik auf die wachsende Macht Rußlands aufmerksam und meinte, das Schicksal habe Rußland so sehr zum ersten Reiche der Welt bestimmt, daß jeder Widerstand vergeblich sei. Halb mit Sympathie, halb mit Grauen erfülle ihn der Gang der Dinge in Frankreich. Er warnte die deutschen und überhaupt die auswärtigen Staaten, in die französische Umwälzung sich einzumischen, und sehr lebhaft steht mir eine Stelle aus der ›Deutschen Chronik‹ im Gedächtnis, welche der Weit- und Scharfblickende schon zu Anfang des Jahres 1790 geschrieben.«
»Welche Stelle meinst du?«
»Die, wo Schubart sagte, die Sonne des Jahrhunderts werde untergehen, vom wallenden Dampf der Leichen verfinstert, aber aus dem allgemeinen Brande, aus dem Schutte der Zerstörung werde Europa aufsteigen in neuer Gestalt.«
Schiller versank in Nachdenken.
Der Hofmedikus unterbrach es mit der Frage:
»Und was, lieber Freund, hältst denn Du eigentlich von der Revolution, die sich immer wütender gebärdet?«
»Offen gestanden, sehr wenig,« erwiderte der Dichter. »Ich hatte von diesem französischen Freiheitswesen von Anfang an keine große Meinung, seit der Hinrichtung des Königs aber und gar seit dieser völlig nutzlosen und barbarischen Ermordung der Königin ist an die Stelle meines Mißtrauens der Abscheu getreten. Du weißt, ich trug mich lebhaft mit dem Gedanken, mit einer Verteidigungsschrift für Ludwig XVI. vor den Konvent zu treten; aber der Ekel an diesen Henkersknechten verleidete mir die Sache. Schubarts freudige Erwartungen vom Ausgange dieser wilden Umwälzung kann ich leider durchaus nicht teilen,« fuhr er fort. »Die eigentlichen Prinzipien einer wahrhaft glücklichen bürgerlichen Verfassung sind unter den Menschen noch lange nicht genug bekannt und anerkannt. Sie sind im Grunde noch gar nirgends vorhanden als in dem Buch, welches du gestern auf meinem Tische liegen sahest, in Kants ›Kritik der Vernunft‹.«
Und nach einer Weile fügte er noch das prophetische Wort hinzu, welches so bald in Erfüllung gehen sollte:
»Die französische Republik wird ebenso schnell aufhören, als sie entstanden ist. Die republikanische Verfassung wird in einen Zustand der Anarchie übergehen, und dann wird, früher oder später, ein geistvoller, kräftiger Mann erscheinen – er mag kommen, woher er will – der sich nicht nur zum Herrn von Frankreich, sondern vielleicht auch von einem großen Teil Europas machen wird.«
Da es Abend geworden, begleiteten Vater und Mutter den Sohn und seinen Freund durch den Park bis zum Orte, wo die Straße steil gegen die Ebene von Ludwigsburg abfällt, und noch lange sahen die greisen Eltern dem lieben Sprößling von der Anhöhe nach, wie seine hohe Gestalt neben der kleineren Hovens dahinschritt.
»Er hat mir erzählt,« sagte die Mutter, »daß er in jener schrecklichen Festnacht, in der Nacht seiner Flucht, von dort unten herauf einen bitterschmerzlichen Abschiedsblick auf die erleuchtete Solitude geworfen. Jetzt ist der Flüchtling heimgekehrt, reich beladen mit Ehren. Aber der Ruhm hat sein Herz nicht verändert. Es ist noch so gut und sanft, wie es von Jugend auf gewesen.«
Mit bebender Stimme setzte sie hinzu:
»Ach, so gibt es keinen Sohn mehr in der Welt. Der Segen des Himmels über ihn, jetzt und immerdar!«
»Amen,« versetzte der fromme und redliche Greis. Und seine von der Arbeit von siebzig Jahren zitternden Hände erhebend, betete er laut und inbrünstig:
»Dich, Wesen aller Wesen, dich hab' ich bei der Geburt meines einzigen Sohnes gebeten, daß du demselben an Geisteskräften zulegen möchtest, was ich aus Mangel an Unterricht nicht erreichen könnte, und du hast mich erhört. Dank dir und Segen über ihn!«
Das schönste Gastgeschenk gab das alte Schwabenland dem Dichter, als dieser im Mai des folgenden Jahres wieder nach Thüringen zurückkehrte, mit auf den Weg, seinen erstgeborenen Sohn Karl, welchen Lotte im September 1793 dem Gatten zu Ludwigsburg gegeben hatte.
In einer durch das Entzücken der ersten Vaterfreude, wie durch das Gefühl, das gewaltsam zerrissene Band, das ihn an sein Heimatland knüpfte, friedlich und schön wieder befestigt zu haben, in dieser gehobenen Stimmung nahm, am häuslichen Herde angelangt, der Dichter seine Arbeiten wieder auf.
Er hatte zu Tübingen mit seinem Verleger Cotta die Herausgabe der »Horen« verabredet, welches Journal die bedeutendsten Schriftsteller der Nation vereinigen sollte, und zu dessen Führung bereits Männer wie Wilhelm von Humboldt, Fichte und Woltmann mit Schiller sich verbunden hatten. Aber auch die Mitwirkung Goethes sollte gewonnen werden, und dies unternahm unser Dichter in einem vom 13. Juni 1794 datierten Briefe. Das ist ein für die Geschichte der deutschen Literatur bekanntlich sehr wichtiges Datum, denn da Goethes Antwort freundlich und beifällig lautete, so wurde jenes Schreiben der Anfang eines regen, schriftlich und mündlich gepflegten Gedankenaustausches, der bald zu vertrauter Freundschaft erwuchs.
So hatten sich die beiden Trefflichen in guter Stunde zuletzt doch gefunden. Ihr Bund ist der ganzen Nation zugute gekommen, und Wilhelm von Humboldt hat nur die Wahrheit gesagt, als er über denselben die schöne Äußerung tat:
»Der gegenseitige Einfluß dieser beiden großen Männer aufeinander war der mächtigste und würdigste. Jeder fühlte sich dadurch angeregt, gestärkt und ermutigt auf seiner Bahn, jeder sah klarer und richtiger ein, wie auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel sie vereinte. Keiner zog den andern in seinen Pfad herüber oder brachte ihn nur ins Schwanken im Verfolgen des eigenen. Wie durch ihre unsterblichen Werke haben sie durch ihre Freundschaft, in der sich das geistige Zusammenstreben unlösbar mit den Gesinnungen des Charakters und den Gefühlen des Herzens verwebte, ein bis dahin nie gesehenes Vorbild aufgestellt und dadurch den deutschen Namen verherrlicht.«
Goethe hat später eingestanden, daß die vertraute Bekanntschaft mit Schiller für ihn einen neuen Frühling heraufführte, in welchem »alles froh nebeneinander keimte, knospete und blühte«, und bei Schiller äußerte sich eine solche Frühlingsfreudigkeit schon in der Ankündigung der »Horen«, wo er seine Stellung zu seiner Zeit mit den Worten kennzeichnet:
»Je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.«
Hier ist die Erhebung über die wildgärenden Interessen des Tages, über alles Endliche und Vergängliche deutlich manifestiert. Es ist eine kühne und frohe Botschaft des Idealismus, wie unser Dichter unlange darauf auch in seinem wundervollen Gedicht vom »Ideal und Leben« verkündigte:
Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren,
Göttlich unter Göttern, die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch!
Fliehet aus dem engen dunklen Leben
In des Ideales Reich!
Es konnte nicht an Stürmen fehlen, welche den beiden Freunden diese Erhebung über die Tagesinteressen zum Vorwurf machten; aber die Tadler übersahen, daß Goethe und Schiller gerade daraus das Vermögen und die Lust zu neuen künstlerischen Taten schöpften, das heißt, die Kraft und den Willen zur Vollführung ihrer eigensten Mission.
Die neuerwachte Lust zu schaffen äußerte sich bei Goethe vorwiegend episch, indem er, von dem Freunde aufgemuntert, den schon 1777 begonnenen Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« wieder vornahm und denselben jetzt zum Muster- und Meisterroman unserer Literatur abschloß. Schillers Dichtung schlug mit verjüngter Kraft zunächst die lyrisch-didaktische Weise an, welche in seinen Gedichten aus dieser Zeit so gedankenschön tönt. Wie er in dem Prachtlied von des Gesanges Macht gesungen, so waltet sie in dieser Lyrik. Hier erscheint der Dichter wirklich und wahrhaftig als:
Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz:
Er taucht es in das Reich der Toten,
Er hebt es staunend himmelwärts
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.
Gemeinsam machten dann die beiden Freunde mittels der 414 Distichen, welche unter dem Titel »Xenien« in Schillers Musenalmanach für 1797 erschienen, ihren berühmten Feldzug gegen die Unzulänglichkeiten, Torheiten und Schlechtigkeiten der zeitgenössischen Literatur. Das war ein Unternehmen, welches die literarische Atmosphäre gewitterhaft heilsam reinigte. Aber ein wütender Tumult brach los. Doch die beiden machten sich wenig daraus, sondern gingen daran, durch neue positive Kunstschöpfungen der Nation zu beweisen, daß sie zum Tadel des Verfehlten und Mittelmäßigen berechtigt gewesen, weil sie Besseres zu geben imstande seien.
Sie dichteten jetzt in schönem Wetteifer ihre herrlichen Balladen und Romanzen, Goethe mit Vorliebe die erstere, Schiller mehr die letztere dieser poetischen Gattungen pflegend. Goethe benutzte dann die epische Stimmung seiner Phantasie, um sein Gedicht von »Hermann und Dorothea« zu schaffen, das vom bürgerlichen Idyll zum kosmopolitischen Epos sich erweitert und dessen homerisch naive und schöne Form vom wärmsten deutschen Herzschlag erfüllt ist. Schiller seinerseits folgte wieder dem dramatischen Zuge seines Genius, der sich schon in seinem großen Lied von der Glocke, diesem »Lied vom Leben«, mit neubelebter Macht offenbarte und dem die unter Goethes Direktion stehende Weimarer Bühne Raum zu voller Äußerung gewährte.
Die deutsche Schauspielkunst war durch ihre berühmten Träger Ackermann, Eckhof, Schröder, Beil, Beck, Iffland und Fleck allmählich zu einer nationalen Ausbildung gediehen, welche sie befähigte, die dramatischen Meisterwerke unserer Klassik in würdiger Gestalt vorzuführen. Namentlich geschah dies auf der Weimarer Bühne, an deren Gedeihen neben Goethe auch Schiller, nach seiner 1799 bewerkstelligten Übersiedelung nach Weimar, durch Rat und Tat bedeutenden Anteil hatte.
Auf dieser Bühne erschien 1799 die große Trilogie »Wallenstein«, welche Schiller wie im Vorgefühle der anbrechenden kriegerischen Epoche geschaffen. Dann kamen in den Jahren 1800-1804 in rascher Folge »Maria Stuart«, »Die Jungfrau von Orleans«, »Die Braut von Messina« auf die Bretter, welche »die Welt bedeuten«, und endlich der »Wilhelm Tell«, welcher die Idee der Freiheit, mit deren Verkündigung der Dichter in den »Räubern« wildgenialisch begonnen, in dem verklärenden Lichte geläuterter Schönheit der staunenden Nation noch einmal voll und ganz enthüllte. So war erfüllt, an ihm selber erfüllt, was er vormals in dem Gedichte von den Künstlern über den Entwickelungsgang des Dichters gesagt:
So führt ihn, in verborgnem Lauf,
Durch immer reinre Formen, reinre Töne,
Durch immer höhre Höhn und immer schönre Schöne
Der Dichtung Blumenleiter still hinauf –
Zuletzt, am reifen Ziel der Zeiten,
Noch eine glückliche Begeisterung,
Des jüngsten Menschenalters Dichterschwung,
Und – in der Wahrheit Arme wird er gleiten.
Denn: höchste Wahrheit ist nur im Tode, hat vor nahezu zwei Jahrtausenden ein morgenländischer Seher gesungen.
»Eigen Dach und Fach« – es liegt ein eigener Zauber des Heimatlichen in diesem Worte, und wir müssen unseren Dichter beglückwünschen, daß ihm gegönnt war, diesen Zauber zu erfahren, freilich nur als Preis einer Tätigkeit, die eine zu aufreibende sein mußte, um lange dauern zu können.
Wenn man Jena in südwestlicher Richtung verläßt und durch das sogenannte Mönchsgäßchen eine Strecke weit zwischen Gärten hingeht, gelangt man an ein zweistöckiges, ziemlich symmetrielos gebautes Haus, welches jetzt zur Sternwarte dient. Dieses Haus mit dem dazu gehörenden Garten hatte Schiller im Frühjahr 1797 käuflich an sich gebracht und mit seiner Familie bezogen.
In der südwestlichen Ecke des Gartens stand in dem Schatten einer Linde, einer Tanne und einer Akazie eine Hütte, in welcher der Dichter die Sommernächte hindurch zu arbeiten pflegte. Dort haben oft im ersten Morgengrauen Vorübergehende noch die Lampe flimmern und in ihrem Schein den Dichter raschen Schrittes in der Hütte hin und her gehen und dann wieder zum Schreibtisch treten sehen, um ewige Gedanken aus seiner Seele aufs Papier zu strömen.
Es war so eine Sommernacht. Das Mondlicht lag auf den Hügeln und auf den Dächern der Stadt, wo schon alles längst zur Ruhe gegangen. Leise wiegten die Bäume des Gartens ihre Wipfel in der balsamischen Kühle, und in der hinter dem Garten liegenden tiefen Schlucht des Leutrabaches schlug dann und wann eine Nachtigall an, wie schlaftrunken.
Aber es war heute keine Arbeitsnacht für unsern Dichter, es war eine jener geweihten Nächte, die er mit dem großen Freunde zu verplaudern pflegte, wann dieser ihn aufzusuchen nach Jena kam.
Auf dem »verwitterten Steintisch« in der Laube neben der »Hütte« blinkte Rheinwein in den grünen Römern, und wie darin die goldenen Perlen, so stiegen aus den Seelen der Freunde goldene Gedanken auf.
Dem erlauchten Wirte gegenüber saß der erlauchte Gast. Goethe stand damals im Zenith des Mannesalters. Auf seinem Antlitz – »herrlicheres Angesicht konnte kaum ein Sterblicher haben« – lag ein stilles Bewußtsein von Größe und Glück, und wie er so dasaß, freundlich ernst, mußte einem Betrachter die Behauptung seiner Bewunderer, daß er etwas vom olympischen Zeus habe, vollauf gerechtfertigt erscheinen. Wenn er dagegen ging oder stand, war eine gewisse Förmlichkeit, um nicht zu sagen Steifigkeit, an ihm wahrzunehmen, die ein feiner Beobachter, Arndt, von dem Umstand hergeleitet hat, daß an der herrlichen Mannesgestalt doch eine Unangemessenheit war, nämlich um einige Zoll zu kurze Beine.
Die Freunde waren jedoch heute nicht allein. Es befand sich noch ein dritter da, ein junger Landsmann Schillers, welcher denselben Goethe als Friedrich Hölderlin vorgestellt hatte.
Der Schöpfer des »Hyperion« und der »Klagelieder um Diotima« war damals ein schlanker Mann mit einem länglichen, blassen Gesicht, einer prächtig gebauten Stirne und geisterhaften Augen, aus deren Tiefe manchmal ein dämonischer Blitz blendend und erschreckend fuhr, wie ein Vorzeichen jener Flamme des Wahnsinns, die so bald über dem Haupte des Unglücklichen zusammenschlagen sollte. Es war schon damals, bei aller Liebenswürdigkeit seiner persönlichen Erscheinung, in seinem Wesen etwas Gedrücktes, Ängstliches, das dann wieder plötzlich den Äußerungen einer heftigen Subjektivität Platz machte, Äußerungen, deren Schroffheit man mit einem sonst so sanften und liebevollen Charakter nicht zu reimen wußte.
Ein unerschöpfliches Thema, die Kunst und ihre Stellung zur Zeit und zur Gesellschaft, hatte auch heute wieder, wie so oft, die beiden Freunde beschäftigt. Der junge Dichter hatte eine bescheidene Zurückhaltung beobachtet, als fühlte er, daß, wo solche Männer sprachen, ihm nur zu hören geziemte. Schillers freundliche Bemühungen, den Landsmann ins Gespräch zu ziehen, hatte ihn aber, da man gerade von günstigen und ungünstigen Einflüssen auf den Künstler von außen her redete, zuletzt doch zu der Äußerung vermocht:
»Der Einfluß edler Naturen ist dem Künstler so notwendig wie das Tageslicht den Pflanzen. Wie das Tageslicht in der Pflanze sich wiederfindet, nicht wie es selbst ist, sondern nur im bunten Spiele der Farben, so finden edle Naturen nicht sich selbst, aber zerstreute Spuren ihrer Vortrefflichkeit in den mannigfaltigen Gestalten und Bildungen des Künstlers wieder.«
»Das dürfte schwerlich zu bestreiten sein,« bemerkte Schiller. »Aber wie mir einst eine geniale Frau richtig gesagt hat, daß die Weiber, um ihre Bestimmung zur Mutterschaft zu erfüllen, unmöglich immer aus das Kommen eines Halbgottes warten dürfen, so möchte es auch um die Kunst schlimm stehen, wenn der Künstler immer erst der Anregung von seiten edler Naturen harren müßte. Überhaupt wird er, glaube ich, wohl tun, sich nicht von der Gegenwart beherrschen und einengen zu lassen. Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann ein Mann geworden ist, so kehre er in sein Jahrhundert zurück, aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern, furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. Den Stoff zwar wird er von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja, jenseits aller Zeit, von der unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen. Hier, aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur, rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen. Seinen Stoff kann die Laune entehren, wie sie ihn geadelt hat, aber die keusche Form ist ihrem Wechsel entzogen. Die Tempel des Altertums blieben dem Auge heilig, als die Götter längst zum Gelächter dienten, und die Schandtaten eines Nero und Kommodus beschämte der edle Stil des Gebäudes, das seine Hülle dazu gab. Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet. Tausend Steine zeugen redend davon. Die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wiederhergestellt werden. Sowie die edle Kunst die edle Natur überlebte, schreitet sie derselben auch in der Begeisterung voran, bildend und erweckend. Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht in die Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtung ihre Strahlen auf, und die Gipfel der Menschheit werden glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.«
»Freilich, wir müssen der Zukunft vertrauen,« sagte Goethe, »denn die Gegenwart blickt nur allzuoft mißverständlich, scheel und übelwollend. Welche Urteile hat man zu befahren! Wie vielfach fehlt es unsern deutschen Landsleuten an Verständnis für redliches und tüchtiges Streben, und wie breit darf sich unter ihnen die Toleranz für das Unzulängliche oder geradezu Nichtige machen!«
»Die Deutschen!« brach Hölderlin mit Heftigkeit aus. »Müssen sie nicht fühllos sein für alles wahrhaft schöne Leben? Ruht nicht überall der Fluch der gottverlassenen Unnatur auf ihnen? Es ist ein hartes Wort und dennoch sag' ich's, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, welches zerrissener wäre als die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande verrinnt?«
»Unser junger Freund,« bemerkte Goethe gegen Schiller, »spricht mit der Lebhaftigkeit seines Alters. Etwas Wahres ist aber doch an seinem traurigen Gleichnis. Ein nationaler Leib, das ist es, was unserem Volke fehlt. An Geist würde es nicht mangeln. Da hat mir einer erst unlängst wieder vorgeworfen, ich hätte kein nationales Gefühl. Aber wo existiert denn eine deutsche Nation? Etwa in der Spottgeburt des Regensburger Reichstags? Gewiß, Deutschland ist meinem Herzen teuer, und oft hat es mich bitter geschmerzt, daß die Deutschen, die als Individuen so ehrenwert sind, als Volk so miserabel sein müssen. Vor diesem Schmerze habe ich mich in die Kunst und in die Wissenschaft geflüchtet, denn diese gehören der Welt im großen und ganzen und die Nationalitätsschranken verschwinden vor ihnen. Wenn mir aber Leute, welche in den Wirrsalen unserer Zeit allen gesunden Sinn und Verstand verloren haben, daherkommen und mir zumuten, ich sollte Partei nehmen und patriotisch wirken, so kann mich das nur mit Verwunderung und Widerwillen erfüllen. Immer wird der Dichter als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte, seines dichterischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an kein besonderes Vaterland gebunden ist und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Und was heißt denn sein Vaterland lieben? Was heißt denn patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht ist, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungsweise zu veredeln, was soll er denn da noch Besseres tun? Wie soll er denn da patriotischer wirken?«
»Mag der Unverstand die Frage beantworten, wenn er es kann,« versetzte Schiller. »Wir aber, meine Freunde, wir wollen uns dadurch nicht irren lassen. Indem wir redlich trachten, der Menschheit zu dienen, dienen wir doch wohl auch unserem Lande. Nein, wir wollen uns nicht irremachen lassen. Wir wollen dem Leibe nach Bürger unserer Zeit sein und bleiben, weil es nicht anders sein kann. Sonst aber und dem Geiste nach ist es das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen wie des Dichters, zu keinem Volke und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes der Zeitgenosse und Bürger aller Zeiten zu sein.«
Der Umzug nach Weimar hatte für unsern Dichter, indem ihm dadurch die Nähe Goethes und einer trefflichen Bühne gesichert wurde, viel Förderliches. Auch ist es nicht mehr als billig, dankbar anzuerkennen, daß der Herzog Karl August durch Aussetzung eines Jahrgehaltes für den Dichter tat, was seine nicht allzureichlich zugemessenen Mittel ihm erlaubten. Aber immer noch war Schiller daneben zu fortgesetzter anstrengender Arbeit gezwungen, und gewiß jeden überfällt ein Schauer des Mitleids, wenn er die Tatsache hört, daß der erlauchte Mann, um sich bei seinen Nachtarbeiten wach zu erhalten, stets ein Geschirr mit kaltem Wasser unter dem Schreibtisch stehen hatte, worein er die Füße stellte, während er zugleich starken Kaffee trank.
So wurde manche seiner größten Schöpfungen der Sorge und der Krankheit abgerungen. Die »Maria Stuart« ist unter Schmerzen vollendet, viele der prächtigsten Stellen in der »Jungfrau von Orleans« sind unter heftigen Leiden gedichtet worden.
Schwerer Kummer beugte – auch abgesehen von den immer bedenklicher werdenden Gesundheitsumständen des Dichters – oft dieses edle Haupt, machte das sinnende Auge immer tiefer in seine Höhlen zurücktreten, die Wangen immer hohler, die Stirne immer geisterhaft verklärter. Aus dem alten Schwabenlande kam Todespost auf Todespost. Erst starb Schwesterlein Nanette, deren holde Persönlichkeit und geniale Anlagen dem Bruder so große Hoffnungen für sie eingeflößt hatten, dann der brave Vater, dann die geliebte Mutter.
Die Gestaltung der öffentlichen Zustände wurde auch immer trostloser. Schillers Prophezeiung hinsichtlich der französischen Revolution hatte sich bereits erfüllt. Bonaparte war als Bändiger der Anarchie aufgestanden und hatte seine Eroberungs- und Triumphzüge begonnen. Aber Schiller vermochte in den allgemeinen Jubel über das Genie und Glück des Mannes nicht einzustimmen, sondern äußerte:
»Wenn ich mich nur für ihn interessieren könnte! Alles ist ja sonst tot – aber ich vermag's nicht. Dieser Charakter ist mir durchaus zuwider. Keine einzige heitere Äußerung, kein einziges gutes Wort hört man von ihm.«
Der düstere Despotengeist in Bonaparte widerte unsern Dichter an, und je mehr die Zeitgenossen, selbst ein Goethe, unter diesen Despotengeist sich beugten, um so lebhafter drängte es Schiller, seinem Volke und der Menschheit das Evangelium der Freiheit und Menschenwürde zu verkündigen. Dabei ist es wunderbar, zu sehen, wie sich die Eindrücke der Zeitereignisse in ihm zu dichterischen Problemen und Gestalten umwandelten, oder vielmehr, wie er, ein echter Seher, eines »Vates« im Sinne der Alten, diese Zeitereignisse poetisch antizipierte. So war der Wallenstein eine Vorherverkündigung der Napoleonschen Säbelherrschaft, so deuteten die Jungfrau und der Tell prophetisch auf das Zerbrechen des Jochs, welches der Eroberer den Völkern auferlegte. Der Tell insbesondere hat einen unermeßlichen Einfluß auf die deutsche Jugend geübt, welche in den glorreichen Schlachten des Befreiungskrieges die von Tyrannenhaß glühende Brust den französischen Kugeln und Bajonetten entgegenstellte. Das eben ist ja das Große der Poesie Schillers, daß sie, aus der sittlichen Überzeugung geboren, Taten zu zeugen vermag.
Er sollte die edle Saat seines Geistes nicht mehr aufgehen sehen, die große Erhebung des Jahres 1813 nicht mehr erleben, aber auch nicht die ihr auf dem Fuße nachtretende große Enttäuschung der Nation.
Seine letzten Lebensjahre waren nicht ohne Sonnenblicke des Glückes.
Er hatte auf der Esplanade in Weimar wieder »eigen Dach und Fach«, und neben dem erstgeborenen Karl belebten noch ein Sohn und zwei Töchterlein die Räume des Hauses.
Mit eigenen Empfindungen mochte der Dichter zwei Dokumente betrachten, die, obgleich himmelweit verschieden, friedlich mitsammen in demselben Fache seines Schreibtisches lagen. Sie hatten auch sicherlich in Schillers Augen ganz den gleichen Wert, keinen sehr großen.
Das eine dieser Dokumente trug das Datum: Paris, le 10. Oct. 1792, l'an 1er de la République Française, und war unterzeichnet von Roland, als Minister des Innern der Republik, und gegengezeichnet von Danton. Es war die Urkunde, kraft welcher der Konvent dem Sieur Schiller, zugleich mit Washington, Wilberforce, Pestalozzi, Kosciusko, Klopstock und andern großen Zeitgenossen, das Ehrenbürgerrecht der französischen Republik verlieh. Das andere Dokument führte das Datum: Wien, 7. September 1802, und die Unterschrift »Franz«. Es war die Urkunde, kraft welcher der letzte Deutsche Kaiser »in gnädigster Rücksicht auf die ehrerbietigsten Wünsche Seiner des Herzogs zu Sachsen-Weimar Liebden, wie auch auf die ausgezeichnet seltenen Verdienste des Hofrats Johann Christoph Friedrich Schiller denselben samt seinen ehelichen Leibeserben und derselben Erbeserben beiderlei Geschlechts mit wohlbedachtem Mute, gutem Rate und rechtem Wissen in des heiligen römischen Reichs Adelstand gnädigst erhoben, eingesetzt und gewürdigt hat.Schiller an Körner: »Für meine Frau hat die Sache einigen Vorteil, für meine Kinder kann sie ihn mit der Zeit erhalten, für mich freilich ist nicht viel dadurch gewonnen.« – Schiller an Humboldt: »Sie werden gelacht haben, als Sie von unserer Standeserhöhung hörten. Es war ein Einfall von unserem Herzog, und da es geschehen ist, so kann ich um Lottes und der Kinder willen mir es auch gefallen lassen.«
So fühllos für alles wahrhaft Schöne, wie sie der arme Hölderlin in der Gartenlaube zu Jena gescholten hatte, waren also doch die Deutschen nicht. Weder die Fürsten – das angezogene Dokument zeigt es – noch das Volk.
Von seiten des letzteren empfing der Dichter im Jahre 1801 eine begeisterte Huldigung. Er war nach Leipzig gegangen, um der ersten Aufführung der Jungfrau anzuwohnen. Ungeachtet des heißen Abends war das Haus zum Erdrücken voll und die Aufmerksamkeit auf das Stück liebevoll gespannt. Als nach dem ersten Akte der Vorhang niederging, brach wie aus einem Munde ein tausendstimmiges: »Es lebe Friedrich Schiller!« aus, und Trompetengeschmetter und Paukenschlag mischten sich in den jubelnden Zuruf. Nur wenige wurden der dankenden Verbeugung des Dichters gewahr, welchen seine Bescheidenheit im Hintergrunde der dunkeln Loge zurückhielt. Aber nach der Beendigung der Tragödie, da wollte alles den Lieblingsdichter der Nation sehen. Der Platz vor dem Theater bis hinab zum Ranstädter Tore war dicht mit Männern und Frauen angefüllt. Als Schiller herauskam, war schnell eine Hecke gebildet, und alle Häupter entblößten sich. So schritt er durch die Reihen seiner Verehrer, die ihn mit ehrerbietigem Schweigen begrüßten, während Mütter ihre Kinder in die Höhe hoben und ihnen zuriefen: »Seht, dieser ist es – Friedrich Schiller!«
Aber wenige Jahre darauf war die Zeit erfüllt und die Uhr abgelaufen. Der aufgezehrte, müde Leib versagte seinen Dienst einem Geiste, der rastlos und schöpfungsfreudig seinen leuchtenden Pfad hinwandelte.
Schillers Gesundheit war im Winter 1804-5 immer wankender geworden. Der Frühling schien Genesung und Erstarkung bringen zu wollen, wie schon so oft, aber diesmal war es eine täuschende Hoffnung gewesen.
Leser, du bist wohl auch schon in jenem Heiligtum gestanden, in jenem kleinen, hellgrün tapezierten Zimmer mit den zwei nach der Straße gehenden Fenstern, welche Lottes sorgliche Hand mit karmoisinroten Vorhängen versah, weil der Gatte meinte, diese Farbe stimme ihn produktiv. Deine Blicke haben gewiß mit ehrfurchtsvoller Rührung an jenem unscheinbaren Schreibtisch dort gehaftet, an welchem der Tell geschaffen wurde, und wenn sie sich dann linkshin gewendet, nach der einfachen Bettstelle in der Ecke, da sind dir vielleicht die Wimpern feucht geworden.
Dort, auf jenem Bette, lag am 9. Mai 1805 unser Dichter, um nimmer wieder aufzustehen.
Seine Geliebtesten waren um ihn.
Zu den Füßen des Bettes stand Schwester Karoline, vergeblich sich bemühend, mittels gewärmter Kissen in die erkalteten Füße des Kranken Wärme zurückzurufen. In einer Ecke saßen der elfjährige Karl und der neunjährige Ernst, mit gefalteten Händen trübe vor sich hinsehend. Lotte kniete am Bette, die Hände des teuren Mannes in den ihrigen haltend. Ihr älteres Töchterlein, das fünftehalbjährige Linchen, lehnte sich an die Mutter, in glücklicher Unschuld nicht wissend, was das alles zu bedeuten habe.
Der treffliche Hausarzt war eben weggegangen, den kummervoll fragenden Blick Karolines mit einem schmerzlich hoffnungslosen erwidernd.
Die Abendsonne stand draußen hell am wolkenlosen Himmel.
Der Kranke hatte die Nacht über schwer mit dem Feinde des Lebens gerungen. Am Morgen hatte er einige Stunden ruhig geschlummert. Dann waren wilde Fieberphantasien über ihn gekommen. Als hätte sich seinem Geist der schreckliche Kriegslärm, welcher Thüringen so bald erfüllen sollte, zum voraus angekündigt, hatte er im Delirium ausgerufen:
»Wer löste die Kanonen? – Wer kommandiert den linken Flügel? – Siehst du, die Kettenkugeln reißen ganze Glieder nieder! – Wie prächtig sieht das Regiment aus! – Sind sie im Lager? – Das ist lustig! – Singt noch einmal den Rundgesang!«
Dann war er ruhiger geworden, und als Schwester Karoline mit der Frage, wie es gehe, zu ihm getreten, hatte er erwidert:
»Immer besser, immer heiterer!«
Dann hatte er mit der Hand auf den prächtigen Strauß von Frührosen gedeutet, welcher neben seinem Bette im Glase stand, und dazu gesagt:
»Sonderbar, mir ist, als dufteten aus diesen Rosen goldene Jugenderinnerungen mich an.«
Den Strauß hatte gestern eine Unbekannte unten im Hause für den Kranken abgegeben. Als sie erfahren, wie es mit ihm stand, hatte sie den Schleier über das Gesicht gezogen und war schnell weggegangen. Aber die Dienerin hatte bemerkt, daß die hohe Gestalt der Fremden im Gehen wankte.
Am Nachmittag hatte der Sterbende nach seinem jüngsten Kinde verlangt. Die kleine Emilie wurde gebracht, und er sah ihr lange wehmütig ins Gesicht. Dann verdunkelten Tränen seinen Blick, und er winkte, das Kind wegzubringen.
Später wieder aus einem fieberhaften Schlummer erwachend sah er sanft lächelnd in die Höhe und äußerte:
»Wieviele Dinge werden mir jetzt licht und klar!«
Er hat die Sonne immer so sehr geliebt. Die letzten Zeilen, die er geschrieben, lagen dort auf dem Schreibtisch. Es war der schöne Monolog der Marsa im »Demetrius«, mit dem glühenden Aufruf zum Tagesgestirn, ein letzter Seufzer idealer Sehnsucht:
O, warum bin ich hier geengt, gebunden,
Beschränkt mit dem unendlichen Gefühl!
Du, ew'ge Sonne, die den Erdenball
Umkreist, sei du die Botin meiner Wünsche!
»Laßt mich die Sonne sehen!« bat er auch jetzt.
Karoline schlug den Fenstervorhang zurück. Der Sterbende erhob das Haupt und schaute heiteren Auges in den klaren Abend hinaus.
Die Natur hatte sein Lebewohl empfangen – er sank in die Kissen zurück.
Vorahnend hatte er vor Jahren vom Tode des Künstlers gesungen:
Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen
Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut,
Mit freundlich dargebotnem Busen
Vom sanften Bogen der Notwendigkeit.
Und so geschah es.
Die große Seele löste sich schmerzlos.
Lotte fühlte einen Druck seiner Hand. Dann fuhr ein elektrischer Schlag über sein Gesicht, das Haupt sank rückwärts, die Augen brachen, und ein sanftes Lächeln stand auf den Lippen des Toten.
»Er hat mir noch die Hand gedrückt!« schluchzte Lotte aus der Tiefe ihres Jammers und preßte ihre aufschreienden Knaben ans Herz.
»Der gute Vater schläft jetzt ruhig,« sagte Linchen. »Er lächelt im Schlafe.«
»Sein Leib schläft, Kind,« versetzte Karoline bebend, »aber sein Geist wird wach sein durch die Jahrhunderte hinab!«
Damals lebte auf der Kunitzburg bei Jena einsam eine fremde Frau, die erst vor wenigen Monaten in die Gegend gekommen war.
Sie hatte den einsam stehenden Landsitz gemietet, suchte und empfing keine Gesellschaft und ließ sich von den guten Jenensern als eine Sonderlingin bezeichnen, ohne weiter davon Notiz zu nehmen.
Einige hielten sie für eine Schwedin, andere knüpften an den Umstand, daß die Fremde als Dienerschaft einen alten Neger und dessen Tochter mitgebracht hatte, die Vermutung, sie möchte eine Amerikanerin sein.
Indem wir am Morgen nach Schillers Todestag die Kunitzburg betreten, finden wir in dem Zimmer, wo die Fremde am liebsten weilte, verschiedene Andeutungen, daß uns die Einsiedlerin nicht so unbekannt sei, wie sie den Bewohnern von Jena war.
Auf einem zierlichen Schreibtische bemerken wir in reichen, aber von häufigem Gebrauche zeugenden Einbänden die sämtlichen Schriften Schillers. Über dem Schreibtische hängen Seite an Seite zwei vortrefflich in Aquarellfarben ausgeführte männliche Porträts. Das eine stellt Schiller dar, aber den Jüngling Schiller, in der Frisur und Uniform eines herzoglich württembergischen Regimentsmedikus, das andere einen schönen Mann in der Blüte seiner Jahre, angetan mit der Uniform eines Oberst der virginischen Miliz. Aus seinem Gesicht blicken die verständigen und biederen Augen von William Raleigh.
Brauchen wir zu sagen, wer die Bewohnerin des Zimmers ist, welche vor dem Schreibtische sitzt, über ein aufgeschlagenes Exemplar der »Braut von Messina« hingebeugt?
Sie war noch immer schön. Ihre unvergleichlich anmutigen Formen hatten sich wenig oder gar nicht verändert. Aber in ihren tiefdunkeln Augen lag Kummer, auf ihrer schönen Stirne schwere Sorge, und an den Schläfen zeigte das rabenschwarze Haar einen weißlichen Schimmer.
Sie trug vom Haupt bis zur Sohle tiefe Trauer und hatte vollwichtige Ursache dazu, denn das treueste, liebevollste Gattenherz war gebrochen, fern von ihr, ohne daß sie seine letzten Seufzer hatte empfangen können.
Oberst Raleigh war voriges Jahr im Grenzkriege von den wilden Sioux erschlagen worden.
Seine Waffengefährten hatten den Leichnam des tapferen Führers mit zurückgebracht, und als ihn die Witwe am Ufer seines heimatlichen Potomak bestattete, da durfte sie sich in der Pein ihres Schmerzes wohl daran erinnern, daß der große Washington wenige Jahre zuvor zu ihr gesagt hatte:
»Mistreß, Ihr Gatte ist einer der besten Menschen und wackersten Amerikaner, die ich mein Leben lang gekannt. Er verdient es, daß Sie ihn so glücklich machen, wie Sie tun.«
Ihre Ehe war kinderlos geblieben und so hatte sie, jetzt allein in der Welt stehend, dem Verlangen nachgegeben, die alte Welt wiederzusehen. Vielleicht, daß noch ein leiser Nachklang ihres abenteuerlichen Jugendsinnes mit dabei im Spiele war, vielleicht aber auch nur die tiefgeheime Sehnsucht, dem unvergeßlichen Freunde, dessen Namen die Schwingen des Ruhmes über das Weltmeer getragen hatten, noch einmal ins Angesicht zu sehen.
Sie hatte in Stuttgart die Stätten ihrer widerspruchsvollen Jugend aufgesucht. Auch im Chor der Stiftskirche war sie gewesen, unter dessen Steinplatten die Überbleibsel von dem ruhten, welcher einst Herzog Karl geheißen, und es war kein Wort des Fluches mehr, sondern ein Segensspruch, was von ihren Lippen in die Fürstengruft niederrieselte.
Aber das Antlitz, welches zu sehen sie nach Thüringen gekommen, sollte sie nicht mehr sehen. Sie hatte ihm nur noch einen Rosengruß senden können, wie sie vorzeiten, damals auf dem Salvator bei Gmünd, ihm durch eine Rose ihre Gegenwart angekündigt hatte.
Die Nacht war für sie eine schlummerlose gewesen, und vergebens suchte sie jetzt die düsteren Gedanken, ein trübstes Vorgefühl durch die Beschäftigung mit der vor ihr liegenden Dichtung loszuwerden. Ihre Augen wanderten von dem Buch immer wieder unwillkürlich zu dem Jugendbild des Dichters, welches sie aus treuer Erinnerung gemalt hatte.
Da näherten sich Schritte der Tür, und der alte Pompejus trat ein.
»Du kommst aus der Stadt, Pompei?« fragte sie. »Was bringst du?«
»Mistreß,« erwiderte der grauköpfige Mohr, »Leute viel traurig in Stadt. Groß Gedräng vor Posthaus. Viele weinen, andere blaß werden und still weggehen. Sie sagen, großer Mann sein gestorben gestern abend.«
»Schiller?« schrie Lauretta auf und fuhr mit der Hand nach dem Herzen.
»So Leute sagen.«
Sie hatte nur noch die Kraft, den Alten fortzuwinken.
Dann sank sie wie vernichtet auf ihren Stuhl zurück und rang in namenlosem Leide die Hände.
Es währte lange, bis ein wohltätiger Tränenstrom den Krampf ihrer Seele löste, noch länger, bis sie aufstehen und, die umschleierten Augen zu dem Bild ihres Gatten erhebend, zitternden Mundes sagen konnte:
»Du würdest mir nicht zürnen um dieses Schmerzes willen, wenn du lebtest, du treues und edles Herz! Nein, du würdest sagen: Weine um ihn, Lauretta, und laß mich mit dir trauern.«
In der Nacht vom 11. auf den 12. Mai wurde die Hülle des Dichters zur Mitternachtsstunde zu Grabe getragen.
Es war eine linde Mainacht. Am Himmel stand der Mond, von zerrissenem Gewölk umflattert. Laut schlugen im Parke die Nachtigallen. Sonst tiefstill in ganz Weimar.
Vor dem bescheidenen Haus auf der Esplanade stand auf der Bahre der Sarg. Ein Lorbeerkranz lag zu Häupten. Hinter den verschlossenen Fensterladen tönte verhaltenes Weinen.
Eine Gruppe junger Männer in Trauertracht, Gelehrte, Künstler, Beamte, umgab den Sarg. Acht derselben hoben die teure Last auf die Schultern. Die übrigen folgten, die Träger von Zeit zu Zeit ablösend in ihrem frommen Amt.
So ging der Zug durch die stille Stadt, durch die Esplanade, über den Markt und durch die Jakobsstraße nach dem alten Kirchhofe bei St. Jakob.
Rechts am Eingang desselben, vor dem sogenannten Kassengewölbe, setzten die Träger die Bahre nieder.
In diesem Augenblicke trat der Mond voll aus den Wolken und goß sein mildes Licht auf den Sarg herab.
Nun öffnete sich die Pforte des düsteren Gewölbes, der Totengräber und seine Gehilfen nahmen den Sarg auf und trugen ihn hinein.
Still entfernte sich das Trauergeleite, und bald folgten ihm die Totengräber.
Jetzt aber kam eine tief in einen Männermantel verhüllte Gestalt zwischen den Grabhügeln hervor.
Sie stand einen Augenblick lauschend, als wollte sie sich vom Weggehen der andern überzeugen.
Dann trat sie an die Pforte des Gewölbes und fand dieselbe nur angelehnt, wie ihr der Totengräber versprochen hatte.
Sie ließ den Mantel fallen, und der Mond beschien noch, bevor er in Wolken untertauchte, die Gestalt Laurettas.
Sie ging hinein, tastete sich zu dem Sarge hin, kniete daran nieder, umschloß ihn mit den Armen und legte die Stirne daran.
Lange unterbrach nur ein leises Schluchzen die Totenstille des Ortes.
»Ich sollte deine teuren Züge nicht mehr sehen,« flüsterte sie endlich, »aber was tut es? Nun lebst du in meiner Seele so, wie du warest, als mir einmal doch vergönnt war, deine Lippen mit den meinigen zu berühren. O, du Guter, Großer, Unsterblicher, du wirst fortleben, solange es Herzen gibt, edle und hohe Gedanken zu hegen, und Zungen, sie auszusprechen. Die fernsten Geschlechter werden dich ehren, segnen, lieben; aber – o, laß mir diesen Trost! – nie hat ein Herz so dich geliebt, nie wird eins so dich lieben, wie ich dich liebte und liebe. Und so leb wohl, Hülle eines unvergänglichen Geistes! Mir bleibt noch die Pflicht, jenseits des Ozeans am Grabe des Mannes zu trauern, der mich gerettet aus dem wilden Strudel des Irrtums und hochgehalten hat sein Leben lang.«
Sie küßte den Sarg, brach ein Blatt aus dem Lorbeerkranz, barg es an ihrem Busen und verließ das Gewölbe. Der Mond war untergegangen, und ein kühler Wind ging pfeifend über die Gräber.
Lauretta hüllte sich in ihren Mantel und schritt durch die Nacht dahin, fest und gefaßt wie eine, die mit dem Leben abgerechnet hat und nun ohne weiteren Anteil ruhig hinnehmen will, was es noch bringen mag.
Lotte an Fischenich.
»Es hat niemand, kann ich behaupten, das hohe edle Wesen so verstanden wie ich, denn keine Nüance entging mir. Ich wußte mir seinen Charakter, die Triebfedern seines Handelns zu erklären und zurechtzulegen wie niemand. Die Jahre verbanden uns immer fester, da ich durch das Leben mit ihm seine Ansichten auf meinem eigenen Wege gewann und ihn verstand wie keiner seiner Freunde. Ich war ihm so notwendig zu seiner Existenz wie er mir. Ich habe die Beruhigung, daß ich gewiß alles für ihn tat, um ihn vor unangenehmen Eindrücken im Leben zu bewahren, die Beruhigung, daß er vielleicht ohne mich nicht so lange für die Welt gewirkt hätte. Ach, lieber Freund, Sie kannten ihn nur halb, denn in dem letzten Teile seines Lebens, wo seine Seele auch unter dem drückenden Gefühle der Krankheit frei sich erhob, wo er immer milder, immer lieber wurde, sein Herz an dem unschuldigen Leben seiner Kinder sich erfreute, da war er ganz anders noch, als da Sie mit uns lebten. Diese Liebe, diese Freude an den kleinen Geschöpfen, diese Heiterkeit, wenn er zu uns hereintrat, würde Ihrem Herzen wohlgetan haben. Das lange Leben mit ihm hatte auch mein Gefühl auf eine glückliche Höhe gestellt; bei ihm, mit ihm war ich über das Leben hinweg!«
Goethe, während Schillers Todesleiden selber von Krankheit heimgesucht, schrieb, kaum notdürftig genesen, an Zelter:
»Ich dachte mich selbst zu verlieren und verliere nun den Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins.«
Und als der Olympier einigermaßen sich gefaßt hatte, sprach er in die allgemeine, laute und herzliche Trauer und Wehklage um Schiller hinein diese Worte voll antiker Größe:
»Wir dürfen ihn wohl glücklich preisen, daß er von dem Gipfel des menschlichen Daseins zu den Seligen emporgestiegen. Die Gebrechen des Alters, die Abnahme der Geisteskräfte hat er nicht empfunden. Er hat als ein Mann gelebt und ist als ein vollständiger Mann von hinnen gegangen. Nun genießt er im Andenken der Nachwelt den Vorteil, als ein ewig tüchtiger und kräftiger zu erscheinen. Denn in der Gestalt, wie ein Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten, und so bleibt uns Achill als ein ewig strebender Jüngling gegenwärtig. Daß Schiller frühe hinwegschied, kommt auch uns zugute. Von seinem Grabe her stärkt auch uns der Anhauch seiner Kraft und erregt in uns den lebhaftesten Drang, das, was er begonnen, mit Liebe fort- und immer fortzusetzen. Und so wird er seinem Volke und der Menschheit in dem, was er gewirkt und gewollt, stets leben.«
Auf jeder bedeutenderen Bühne Deutschlands wurde für Schiller eine Totenfeier veranstaltet, eine besonders glänzende unter Ifflands Mitwirkung zu Berlin, die sinnigste aber wohl am 10. August 1805 zu Lauchstädt. Alle Mitglieder der Weimarer Bühne waren dabei tätig, und den Schluß bildete jener herrliche Erinnerungsgesang Goethes auf den verewigten Freund, der bei dieser Veranlassung (in seiner ersten Gestalt) gesprochen wurde. Der Gegenstand der Darstellung war das Lied von der Glocke, in dramatische Gestalt gebracht. Der Schauplatz stellte des Glockengießers Werkstatt vor. Nachdem alle die tiefergreifenden Bilder, welche das »Lied vom Leben« aufrollt, vorübergezogen und die Töne des Schlußchors verhallt waren, zog der Goethesche »Epilog« die Summe von Schillers Existenz:
Ja! er war unser! Wie bequem, gesellig
Den hohen Mann der gute Tag gezeigt,
Wie bald sein Ernst anschließend, wohlgefällig
Zur Wechselrede heiter sich geneigt,
Bald raschgewandt, geistreich und sicherstellig
Der Lebensplane tiefen Sinn erzeugt
Und fruchtbar sich in Rat und Tat ergossen:
Das haben wir erfahren und genossen.
Denn er war unser! Mag das stolze Wort
Den lauten Schmerz gewaltig übertönen!
Er mochte sich bei uns, im sichern Port,
Nach wildem Sturm zum Dauernden gewöhnen.
Indessen schritt sein Geist gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen –
Und hinter ihm in wechsellosem Scheine
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.
Ihm glühte seine Wange rot und röter
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Mut, der, früher oder später,
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich, stets erhöhter,
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit das Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.
Ihr kanntet ihn, wie er mit Riesenschritte
Den Kreis des Wollens, des Vollbringens maß,
Durch Zeit und Land der Völker Sinn und Sitte,
Das dunkle Buch mit heiterm Blicke las:
Doch wie er atemlos in unsrer Mitte
In Leiden bangte, kümmerlich genas:
Das haben wir in traurig-schönen Jahren –
Denn er war unser, leidend miterfahren.
Er hatte früh das strenge Wort gelesen,
Dem Leiden war er, war dem Tod vertraut.
So schied er nun, wie er so oft genesen,
Nun schreckt uns das, wovor uns längst gegraut.
Doch schon erblicket sein verklärtes Wesen
Sich hier verklärt, wenn er herniederschaut.
Was Mitwelt sonst an ihm beklagt, getadelt,
Es hat's der Tod, es hat's die Zeit getadelt.
Und manche Geister, die mit ihm gerungen,
Sein groß Verdienst unwillig anerkannt,
Sie fühlen sich von seiner Kraft durchdrungen,
In seinem Kreise willig festgebannt:
Zum Höchsten hat er sich emporgeschwungen,
Mit allem, was wir schätzen, eng verwandt.
So feiert ihn! Denn was dem Mann das Leben
Nur halb erteilt, soll ganz die Nachwelt geben!«
Es gereicht Goethe zu großer Ehre, daß er namentlich auch dann noch, als sich der unersprießliche und widerwärtige Streit erhoben hatte: ob er oder Schiller der größere Dichter? oft und gerne auf den verewigten Freund zurückkam und bei jeder Gelegenheit das Lob desselben anstimmte.
So äußerte in den berühmten Gesprächen mit Eckermann der greise Dichterkönig:
»Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deutschen als in irgend einer anderen Literatur seinesgleichen hat. Durch alle seine Werke geht die Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Kultur weiterging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging; in seinem späteren Leben die ideelle. Sein Inneres kündigte sich schon in seinem Äußeren entschieden an. Der Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede seiner Bewegungen, alles war stolz und großartig an ihm, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war auch sein Talent. Immer erschien er im absoluten Besitze seiner erhabenen Natur. Er war so groß am Teetisch, wie er es im Staatsrat gewesen sein würde. Nichts genierte ihn, nichts engte ihn ein, nichts zog den Flug seiner Gedanken herab. Was in ihm von großen Ansichten lebte, ging immer frei heraus, ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein großer, ein prächtiger, ein rechter Mensch und so sollte man auch sein!«
Die Pietät der Freundschaft und Verehrung verhalf auch den Gebeinen unseres Dichters zu einer würdigen Ruhestelle.
Als durch die Anlegung eines neuen Friedhofes die Aufräumung des Kassengewölbes bei St. Jakob veranlaßt wurde, gelang es im Jahre 1826 der frommen Bemühung des damaligen Bürgermeisters von Weimar, Karl Leberecht Schwabe, aus dem Moderhause jener Gruft den Schädel Schillers herauszufinden. Bei Gelegenheit des Fundes dieser kostbaren Reliquie schrieb Goethe seine schönen Terzinen,
»Bei Betrachtung von Schillers Schädel«:
Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß, Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?
Der gemachte Fund ermutigte aber zu weiteren Nachforschungen, und da sich der Herzog Karl August entschlossen hatte, die Überreste Schillers in der Fürstengruft auf dem neuen Gottesacker beisetzen zu lassen, so gelang es auf seine Anregung hin und unter Beihilfe tüchtiger Anatomen, sämtliche Gebeine des Dichters aufzufinden und dem Schädel wieder anzufügen.
In der Morgenfrühe des 16. Dezember 1827 wurde dann, was von dem Dichter des Wallenstein und Tell Irdisches übriggeblieben, in der Fürstengruft beigesetzt. Vier Jahre und einige Monate später folgte dahin der dreiundachtzigjährige Dichter des Faust und der Iphigenie dem vorangegangenen Freunde.»Hügelan steigend gelangte ich zu den Stufen eines einfachen tempelartigen Gebäudes von mäßigem Umfange mit Vordach und Säulen. Hinter diesen tat sich eine schwere Doppeltüre auf, und wir traten in einen rundgewölbten Raum ohne alle Verzierung durch Farbe oder Stukkatur, dessen Kuppel von Pfeilern getragen wurde und zu dem das Licht von oben einfiel. In der Mitte blickte man, zu dem Gitter einer runden Öffnung tretend, durch diese in das Dunkel der Gruft hinab. Ich überließ mich an der Öffnung einige Minuten lang meinen Gefühlen, die durch keine Bemerkung des Begleiters gestört wurden, dann schritten wir schweigend die breite Seitentreppe hinunter. Der Küster hatte inzwischen die an den Wänden umher verteilten Lichter entzündet; eine freundliche Helle ließ den Umfang und die Form der Gruft, sowie die Särge wohl erkennen. Links von der Treppe sah ich, auf gemauerten Unterlagen reinlich erhoben, zwei platte Sarkophage von braungebeiztem Eichenholz nebeneinander stehen. An dem ersten las ich in metallenen Buchstaben den Namen Goethe, an dem zweiten in ganz gleichen Charakteren Schiller. Es war sonst nicht die mindeste Verzierung an den Särgen zu erblicken, aber ein Kranz von Lorbeer und Eppich lag auf jedem derselben.« Immermann, Tagebuchblätter, Herbst 1837.
Und wieder, vierunddreißig Jahre nach dem Todestage Schillers, war es Mai.
Der Himmel blaute, und die Sonne strahlte ob den Straßen von Stuttgart, die sich festlich geschmückt hatten, als gälte es, einen Triumphator huldigend zu begrüßen.
Und wirklich, das galt es.
Der siebenundfünzig Jahre zuvor bei Nacht und Nebel zum Eßlinger Tore hinausgeflohen, um nicht gleich Schubart »erzogen« zu werden, kehrte heute durch alle Tore herein, in den Herzen der einziehenden Scharen seiner Verehrer, triumphierend in die Hauptstadt seines Heimatlandes zurück.
Dort, auf jenem Platze zwischen dem alten Schloß und der Stiftskirche, wo er uns eines Tages in dem kümmerlichen Aufzug eines herzoglichen Feldscherers begegnete, feierte heute der große Tote eine Auferstehung durch die Liebe der Nation und durch die Kunst.
Aus allen Gauen des alten Schwabenlandes, aus dem Norden und Süden, Osten und Westen Deutschlands und fernher aus den Alpen und von jenseits der Alpen, aus dem Lande, das »die Loire stolz durchströmt«, aus den Niederlanden, aus Skandinavien und vom Ufer der Newa, von den britischen Inseln und selbst von der großen Republik jenseits des Ozeans waren sie gekommen, den Manen des großen Weltbürgers Dank und Huldigung darzubringen.
Auf dem Festplatze scharten sich die Liederkränze mit ihren Fahnen, die Festordner, die Festjungfrauen, die Ehrengäste um die verhüllte Statue. Kopf an Kopf stand weithin in den Straßen das Volk. Und als nun Mörikes schöne Festkantate dem –
Der in die deutsche Leier
Mit Engelstimmen sang,
Ein überirdisch Feuer
In alle Seelen schwang –
erklungen war, fiel, von der Hand seines jungen Enkels weggezogen, die Hülle von dem Erzbilde des Dichters.
Feierlicher Glockenklang begrüßte es. Dann ehrfurchtsvolle Stille und auf die geschmückten Stufen des Piedestals trat der begeisterte Festredner.
»O, ihr beredten Lippen,« sprach er im Verlaufe seiner Rede, nach der Statue empordeutend, »welche Fülle von Wahrheiten, in ewiger Frische jeder Gegenwart Nahrung und Heilkraft bietend, senkte sich auf euch von dieser Denkerstirne, aus diesem Dichterauge! In wie klaren Worten rechtetet ihr mit dem Jahrhundert, ohne seinem Bedürfnis und seinen Neigungen die Stimme streitig zu machen. Dieser Mund ermutigte eine Jugend, die seitdem zum Teil in öffentlichen Geschäften ergraut ist, ihr Zeitbürgertum über dem Staatsbürgertum nicht zu vergessen, und wiederum verlangte er von den Menschen in der Zeit, sich zum Menschen in der Idee zu veradeln, vom Individuum, sich zur Gattung zu steigern, vom Staate aber, den zeitlichen Menschen zu seinen Idealen emporzubilden. Er warnte eine tobende Mitwelt, die physische Möglichkeit der Freiheit zu verschmähen, wo die moralische fehlte, und ein Seufzer, der noch nicht verhallen darf, ward ihm durch die Zeit abgepreßt, in der die Kunst, die Tochter der Freiheit, von der Notdurft der Materie ihr Gesetz empfangen soll, von dem herrschenden Bedürfnis, das die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch beugt, von dem Nutzen, dem Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen. Aber wenn auch der Gesang dieses Mundes uns ins Reich des Ideales flüchten hieß, so wollte doch sein Wort nicht dulden, daß der denkende Geist, indem er im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen strebe, ein Fremdling in der Sinnenwelt werde und über der Form die Materie verliere. Das unvertilgbare Gefühl sollte neben dem unbestechlichen Bewußtsein gelten; vom alles trennenden Verstande rief er zurück zur alles vereinenden Natur. Zu dem jungen Freunde der Wahrheit und Schönheit, der, edles Streben in der Brust, gegen den Widerstand der Zeit ringen will, spricht er: Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, was sie bedürfen, nicht, was sie loben; gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten: so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen!«
Mit diesem guten Worte sei dieses Buch vom Friedrich Schiller beschlossen.
Ende.