Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Vorspiel.

I.

Gesetzt, ein Fremder wäre in unseren Tagen nach Stuttgart gekommen, in der Absicht, von da aus durch Naturschönheit oder historische Erinnerungen hervorragende Orte des württembergischen Landes zu besuchen, so würde ihm auf seine erkundigenden Fragen unter anderen Antworten sicherlich auch die zuteil werden: »Ludwigsburg müssen Sie jedenfalls sehen«. – Ludwigsburg ist nämlich das Versailles der guten Stuttgarter. Es knüpfen sich, freilich in viel bescheidenerem Maßstab, nicht weniger bunte, pompöse und tragische Denkwürdigkeiten daran als an den berühmten Sitz der bourbonischen Monarchen. Falls unser Fremder an den rechten Mann geraten, würde ihm in der Geschichte der jetzt ungefähr anderthalb Jahrhunderte alten Stadt Ludwigsburg ein bedeutsames Stück württembergischer Geschichte aufgerollt werden, ein Stück Geschichte voll Glanz und Jammer. Der Zuhörer müßte alles historischen Sinnes bar sein, wenn er nicht lebhaft wünschen würde, die Stätten in Augenschein zu nehmen, welche für die wechselnden Szenen der Regierungszeit der Herzoge Eberhard Ludwig, Karl Alexander und Karl Eugen, sowie König Friedrichs I. die Schauplätze abgegeben haben.

Unser Reisender besitzt aber historischen Sinn. Er geht daher eines Morgens nach dem zwischen der Schloßstraße und der Kronenstraße gelegenen Stuttgarter Bahnhof und fährt mit dem ersten nach Norden gehenden Zug aus dem Talkessel der schwäbischen Residenz hinaus. Das Dampfroß keucht zuerst langsam den Schienenweg hinan, linksab von der »Galgensteige«, auf deren Höhe der eiserne Galgen stand, an welchem der berüchtigte Finanzkünstler Josef Süß Oppenheimer seine glänzende Laufbahn schmählich beschloß, am 4. Februar 1738. Der Bahnzug durchbraust den »Pragtunnel«, läßt Feuerbach links, berührt Zuffenhausen und Kornwestheim, gewährt dem Reisenden zeitweilig den Anblick des zur Linken über eine bewaldete Bergwand hochhereinragenden Lustschlosses Solitude und hält bald darauf beim Stationshaus der Stadt Ludwigsburg. Sie liegt drei Wegstunden nördlich von Stuttgart, auf einer Hochebene, deren Abhang vom linken Ufer des Neckars begrenzt wird. Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts stand da nur ein einsamer Hof, dem Kloster Bebenhausen gehörend. Diesem nahm der Herzog Eberhard Ludwig das Gut widerrechtlich und machte daraus eine Stadt, deren Ursprung demnach die lange Reihe von Willkürakten eröffnete, welche in ihren Mauern vorgehen sollten. Des Herzogs Maitresse, Christine Wilhelmine von Grävenitz, eine Mecklenburgerin, deren Name zu den schlimmsten Erinnerungen der Geschichte Altwürttembergs gehört, wollte da residieren. In Stuttgart fühlte sie sich durch die Anwesenheit der unglücklichen, aber standhaft ihr Recht und ihre Würde wahrenden Gemahlin des Herzogs beengt. Den Hochmut der Kebsin gelüstete es, schrankenlos allen Pomp einer souveränen Herrin ihres betörten Liebhabers zu entfalten, und der Fürst beeilte sich, wie in allem so auch hierin ihrem Willen nachzuleben. Erst entstand auf dem dürren Plateau mit ungeheurem Aufwand ein Palast, dann, mit noch vermehrtem, eine Stadt – nicht die einzige, die zu jener Zeit in deutschen Landen aus ähnlichen Motiven erbaut worden ist.

Ludwigsburg ist jetzt nur noch eine Ruine, obgleich seine Häuser von Zeit zu Zeit neu angestrichen werden. Wenn der Reisende, welchen wir von Stuttgart her begleiteten, die Stadt durchwandert, wird er unschwer bemerken, daß dieselbe durchweg den Stempel ihres Ursprungs trägt. Es waren hier in keiner Weise die naturgemäßen Bedingungen städtischer Existenz gegeben. Ludwigsburg ist nicht geworden und gewachsen, sondern durch ein fürstliches Machtwort aus dem Nichts hervorgezwungen worden, zu einem künstlichen Dasein. Das Geschöpf einer Fürstenlaune, hat dieser Ort in Zeiten, wo der württembergische Hof zu wiederholten Malen darauf Anspruch machte, der glänzendste Deutschlands zu sein, seine schönen Tage gesehen, falls nämlich ein Glanz, welcher mit so viel Elend erkauft wurde, überhaupt schön genannt werden darf. Jetzt lebt die Stadt, schnell gealtert, nach verflogenem Jugendrausch sozusagen nur von einer Staatspension. Sie war einmal da, man konnte, als der Hof weggezogen, ihren Bewohnern doch die Häuser nicht über den Köpfen zusammenfallen lassen. Der leere Titel einer »zweiten Residenz« oder einer »guten Stadt« sättigt nicht. Die Regierung hatte daher für neue Nahrungsquellen zu sorgen, und sie tat dies, so gut sie es vermochte. Sie machte Ludwigsburg zum Sitz einer obersten Kreisbehörde, schuf die weitläufigen Bauwerke, welche früher einen zahllosen Schwarm von Höflingen beherbergten, in Kasernen um und füllte dieselben mit Soldaten aller Waffengattungen. Von diesen vornehmlich lebt die Stadt.

Betrittst du ihre breiten, hellen, langgestreckten Straßen, die nach der Schnur gezogen sind, so gewinnst du den Eindruck der Öde. An gewöhnlichen Tagen begegnen dir sehr viele Soldaten, aber wenige Menschen. Zwischen dem Pflaster guckt das Gras neugierig hervor, ein grüner Protest der Natur gegen die ihr aufgedrungene Stadt. Du begreifst jetzt, wie ein Sohn derselben den Ort Grasburg nennen konnte, obgleich die guten Ludwigsburger diesen humoristischen Namen nicht gerne hören. Weniger begreifst du es, wie in der uniformierten Prosa dieses Ortes ein Poet und Geisterseher wie Justinus Kerner zur Welt kommen konnte. Allein die Extreme berühren sich überall, und dann schwebte zur Zeit von Kerners Geburt noch ein Nachhall der Romantik von Herzog Karls Tagen, die freilich mit der Kernerschen wenig gemein hat, über Ludwigsburg. Viel mehr jedoch harmoniert es mit der heutigen Nüchternheit der Stadt, daß sie dem nüchternen Kritiker David Friedrich Strauß das Leben gegeben.

Aber du eilst dem Schlosse zu. An diesem wenigstens, meinst du, müßten Erinnerungen aus Ludwigsburgs »guter alter« Zeit in Fülle haften. Aber auch da haben viele sich verwischt. Die Vergänglichkeit, welche auf alles Menschliche ihren Stempel drückt, hat auch hier ihr Recht geübt. Man sieht es dem Palast und seinen Gärten leicht an, daß sie seit langen Jahren nur noch anstandshalber unterhalten werden. Der zweite König von Württemberg hat diese Residenz immer nur sehr vorübergehend bewohnt und hat sie nie geliebt: es knüpften sich für ihn an dieselbe Jugenderinnerungen, welche trübe genug waren. So ist denn das Ludwigsburger Schloß allerdings sehenswert als historische Rarität, aber es fehlt ihm durchaus der Zauber der Wohnlichkeit und des Komforts. Gehst du durch die einsamen Korridore, durch die hohen hallenden Säle und Gemächer, fühlst du dich angefröstelt. Das verblichene Mobiliar sieht dich halb gespenstig an, und in der Atmosphäre liegt etwas wie Modergeruch. Du wirst auf deiner Wanderung gerne von Zeit zu Zeit ein Fenster öffnen, um die frische Luft einzuatmen, welche draußen in den Wipfeln der alten Bäume des Parkes spielt. In der Ahnengalerie, wo die lebensgroßen Bilder der Fürsten Württembergs hängen, betrachte dir das fünftletzte in der langen Reihe. Es stellt einen straffaufgerichteten Herrn dar, in der Zopftracht der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Ein vornehmer und intelligenter Kopf, aus dessen stark gerötetem Gesicht große blaue Augen klug und gebieterisch blicken. Es ist Herzog Karl, der Karl Herzich, wie ihn das Landvolk von Altwürttemberg nennt. Betrachte dir ihn nur genau: du wirst ihm in der Geschichte, welche ich erzählen will, da und dort begegnen.

Doch dein Führer, ungeduldig trippelnd, mahnt dich zum Weitergehen. Er ist so ein altes Inventarstück, wie man sie in den verlassenen Palästen der Großen zu finden pflegt. Ihm ist das alles, was du da mit Neugier betrachtest, ein gewohntes Ding, das weiter keinen Reiz mehr auf ihn übt. Er schnurrt seine Erklärungen ab wie ein Automat: hat er doch schon hundertmal, schon tausendmal dasselbe gesagt. Siehst du aber genauer zu, wirst du bemerken, daß der alte Mann an dieser oder jener Stelle deines Umgangs im Ludwigsburger Schlosse einige Bewegung verrät und einen beklommeneren oder gehobeneren Ton anstimmt. So wird er dir in einem der unzähligen Kabinette mit flüsternder Stimme sagen, daß hier in der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten März 1737 der Herzog Karl Alexander, des Juden Süß Gönner, eines plötzlichen Todes verblichen sei, gerade als er das steiflutherische Land Württemberg »katholisch machen« und die altherkömmliche landständische Verfassung umstürzen wollte. Der Alte läßt dich etwas Unheimliches mehr nur erraten, als daß er es dir erzählt.

Du gehst mit deinem Führer weiter, und in einem blau und gelb ausgeschlagenen Gemache zeigt er dir das eigentliche Prunk- und Prachtstück des Schlosses, ein breites Bett, dessen Spitzen und Seidendecken freilich die Pietätlose Zeit vergilbte und zermürbte. »Hier hat Napoleon geschlafen!« sagt der Alte mit Pathos. Was dieser Name für ein Echo weckt in der Ludwigsburger Palastöde! Ja, hier hat der letzte große Despot die ersten Oktobernächte des Jahres 1805 zugebracht, mehr wohl über seinen gigantischen Plänen brütend als schlafend. Damals, bevor er seine Adler nach Austerlitz trug, hat er zum Kurfürsten Friedrich als Antwort auf dessen Bitte um Neutralität das barsche Wort gesagt: »Wer nicht mit mir ist, ist wider mich!« Der Kurfürst wollte lieber mit ihm als gegen ihn sein, auch mußte er so wollen, und zum Dank für seine Klugheit war er drei Monate später König von Württemberg – von Napoleons Gnaden. Jetzt schläft er schon lange den ewigen Schlaf in der Ludwigsburger Gruft. Auch der große Despot, welcher mit Königskronen spielte wie Knaben mit Nüssen, ist wenige Jahre nach König Friedrich gestorben und hat auf dem einsamen Felsen im Weltmeer, wohin ihn der Gott, »der in der Geschichte Vergeltung heißt«, geschleudert, im Tode keine Ruhe gefunden, hervorgezerrt aus seinem des Heldengedichtes seiner Laufbahn würdigen Grab, um der Eitelkeit eines Komödiantenvolkes zum Schauspiel zu dienen. ...

Des wunderbaren Mannes Gestalt steigt vor dir auf, der ungeheure Tumult seines Emporkommens und Fallens braust dir in den Ohren. Du hast die Lust verloren, noch anderes im Ludwigsburger Schlosse zu sehen, was mit den Bildern, die Napoleons Lager in dir angeregt, in gar zu großem Kontrast stünde. So enteilst du denn dem öden Palast, und draußen gähnen dich die breiten, leeren, begrasten Straßen der Stadt an. Du empfindest eine peinliche Ernüchterung und gehst mit großen Schritten dem Bahnhofe zu. Aber halt, bleibe noch und folge mir! Ich hebe den Zauberstab: hundert Jahre rauschen zurück,... siehe da, Ludwigsburg zur Zeit seines Glanzes.


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