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Freilich konnte so ein gnädiger Trostblick unter solchen Umständen keine bedeutende Wirkung tun. Die Mutter fühlte zu bitter, daß ein roher Eingriff in ihr und ihres Kindes Leben geschehen sei, und es hätte des heftigen Zuckens in Fritzens Gesicht nicht bedurft, um ihr zu zeigen, daß der Knabe vor innerem Groll fast verging. Der Hauptmann seinerseits machte sich noch eine Weile mit seinen Bäumen zu schaffen, und man konnte ihm ansehen, daß er sich bemühte, die Sache, wie sie nun einmal war und wie sie seinen Begriffen von Herrscherrechten und Untertanenpflichten nicht gerade widersprach, bei sich zurechtzulegen.
»Kommt,« sagte er dann mit wiedergewonnenem Gleichmut, »es wird Zeit sein zum Mittagessen. Die Sonne steht bald im Zenit.«
Und als er bemerkte, daß an, den Wimpern seiner guten Frau Tränen hingen, fügte er milder hinzu, als sonst seine Art war:
»Man muß sich im Leben in vieles schicken lernen, Dorle, weißt du? War's nur an mir gelegen, so hätte dein Wunsch, den Fritz einmal auf der Kanzel zu sehen, wohl in Erfüllung gehen können. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt.«
»Aber der Herzog ist doch nicht Gott!« fuhr Fritz heraus.
»Will Er Seinen Vater schulmeistern?« entgegnete der Hauptmann unwillig. »Bedenke Er, es ist heute das drittemal, daß Ihm Sein Fürwitz verwiesen werden muß. Ich will Ihm aber was sagen: der Herzog ist nicht Gott, aber er ist der Gesalbte Gottes. Und Er, was ist Er? Des Herzogs Untertan, sonst nichts. Zeige Er sich der Gnade Seines Herrn würdig, der offenbarlich nur Sein Bestes will. Ordnung und Disziplin muß in der Welt sein, sonst wäre alles nur ein dummes Durcheinander. Und hör Er, wenn was Rechtes in Ihm ist, so kann Er auch als Juriste ein tüchtiger und brauchbarer Mensch werden. Der Mann ziert seinen Stand, nicht der Stand den Mann.«
Auf diese bestimmt ausgesprochene Ansicht war, wie Mutter und Sohn wohl wußten, nichts zu erwidern, und so folgten sie schweigend dem Vater durch eine der langen Alleen, welche aus den Gärten nach dem Schloßplatze führten.
In so einer Stimmung verhaltenen Mißmuts ist es für die Betreffenden eine wahre Erleichterung, wenn irgend eine, nur nicht gerade eine unfreundliche Störung von außen eintritt. Die wohltuende Unterbrechung des schwülen Schweigens, womit die Schillersche Familie den Weg nach ihrer Wohnung verfolgte, kam von einem Manne, welcher aus einer Seitenallee raschen Schrittes heraustrat und ihnen schon von ferne einen lauten Gruß zurief. Alle drei erkannten in dem Nahenden sofort den Ludwigsburger Stadtorganisten Schubart.
»Guten Morgen oder guten Mittag, liebe Freunde,« sagte er in seiner geräuschvollen Weise, sich mit seinem Hute Kühlung zuwehend, deren sein rotes, erhitztes Gesicht sehr zu bedürfen schien. Allem nach war übrigens die Erhitzung des Mannes nicht nur eine äußerliche, sondern auch eine innerliche, und hatte er in seiner Aufgeregtheit gar kein Auge für die trübe Stimmung der ihm befreundeten Familie.
Der Hauptmann erwiderte die Begrüßung des Poeten in förmlicher Weise und fügte noch hinzu:
»Wenn Sie mit Hausmannskost vorlieb nehmen wollen, so können Sie sich gerade mit uns zu Tische setzen, Herr Magister und Stadtorganist.«
»Servus, Servus, werter Herr und Gönner,« entgegnete der Poet. »Aber lassen Sie den Stadtorganisten aus dem Spiele, wenn's Ihnen gefällig ist. Wenn nicht, so setzen Sie wenigstens ein Ex davor, denn die Ludwigsburger Orgel muß künftig sehen, wie sie ohne mich fertig wird.«
»Wie?«
»Nun ja,« erwiderte Schubart mit großartiger, allein merklich erzwungener Gleichgültigkeit, »man hat mir den Laufpaß gegeben und ich habe den Staub der sündhaften Residenz von meinen Füßen geschüttelt.«
Diese Art und Weise, vom Verlust von Amt und Brot zu sprechen, wollte dem soliden und methodischen Hauptmann nicht zu Sinne.
»Was wollen Sie mit dem schlechten Spaß?« fragte er streng.
»Spaß? Ei, mein Freund, es ist kein schlechter Spaß, sondern schlechter Ernst. Der verdammte ›lutherische Pfaff‹, wissen Sie, der Zilling, hat's doch am Ende dazu gebracht, mich zu sprengen. Gewiß hat er der Donna Schmergelina so lange in den Ohren gelegen, bis die Selbstherrschern unseres Selbstherrschers, die mir von wegen einer gewissen Schnurre in Knittelversen ohnehin nicht grün war, meine Absetzung befahl – 's ist alles in Ordnung, in amtlicher nämlich. Wurde heute morgen vors gemeinschaftliche Oberamt zitiert, und wurde mir da ein herzoglicher Erlaß kommuniziert, welcher mich verurteilte, ohne daß ich mich verteidigen durfte. Herzoglich würtlembergische Justiz! Sehen Sie da den Wisch? Hören Sie nur, 's ist recht erbaulich. Ich will gerädert werden, wenn nicht der Spezial selber das liebenswürdige Aktenstück verfaßt hat. 's ist ganz der stilus curiae zillingensis.« Er hatte ein Blatt Papier aus der Tasche gezogen und begann, die fette, näselnde Stimme des Spezials nachahmend, ohne weiteres laut zu lesen:
»Herzoglicher Erlaß an das gemeinschaftliche Oberamt Ludwigsburg. Von Gottes Gnaden Karl, Herzog usw. Was gegen den Stadtorganisten Christian Friedrich Schubart bei Euch sowohl in puncto eines« – hier räusperte sich der Poet so gewaltig, daß er mehrere Worte verschlucken mußte – »als auch wegen einer zu Anfang dieses Jahres in das Publicum verbreiteten Scarteque vorgekommen, solches haben Wir Uns aus Euren an Unsere Herzogl. Regierung und Ehgericht in causa unterthänigst erstatteten Berichten des Mehreren gehorsamst vortragen lassen. Obwolen nun besagter Schubart, so viel« – wieder ein verschluckendes Räuspern – »seines Ableugnens ungeachtet, dermaßen gravirt ist, daß derselbe als tantum non convictus mit der helftigen adulterien Strafe zu belegen wäre: So wollen wir jedoch von deren Einzug bei ihm gnädigst abstrahiren; dagegen aber denselben bey seinen neuerlichen Vergehungen und in Rücksicht seiner von jeher bezeugten schlechten« – abermaliges Räuspern – »seines Organisten-Dienstes nicht allein entsetzt, sondern auch verordnet haben, daß ihm um des in dem Publico in so mancherley Betracht gestiffteten Aergernisses willen das consilium abeundi gegeben werden solle. Und habt Ihr dahero dem Schubart hievon die Eröffnung zu thun, mit dem Bedeuten, sich aus Unseren Herzoglichen Landen hienächstens unfehlbar zu entfernen. An dem beschiehet Unser gnädigster Will und Meynung, und Wir verbleiben Euch in Gnaden gewogen. Ex speciali Resolutione Serenissimi Domini Ducis etc. etc.«
»Das ist eine ernste Sache, Herr Magister,« sagte der Hauptmann, nachdem er seiner Frau mit den Augen einen Wink gegeben, mit dem Knaben vorauszugehen. »Es steht mir nicht zu, Ihnen eine Strafpredigt zu halten, aber sagen muß ich doch, daß es Ihre Freunde nicht an Warnung fehlen ließen, Sie noch bei guter Zeit von Ihren Irrwegen abzubringen. Hab' ich doch noch bei meiner letzten Anwesenheit in Ludwigsburg Ihnen eindringlich zugesprochen. Aber Sie wollten nicht hören, wollten obenhinaus und alles mitmachen, machten causam communem mit Lottergesellen und leichtfertigen Weibsbildern, ließen Ihre satirische Zunge gegen Gott und die Welt spielen, und statt daß Sie sich nach der Decke streckten, das heißt nach Ihrem Einkommen, lebten Sie frisch darauf los in Saus und Braus wie ein großer Herr.«
»Ach was,« entgegnete Schubart halb lachend, halb ärgerlich, »ich wirke viel und brauch' viel. Mein Herz ist ein Schwamm; Tau des Himmels verschluck' ich viel, spritz' aber auch viel aus auf meine lieben Menschen!«
»Hm, das klingt recht poetisch,« sagte der Hauptmann; »aber es wäre besser um Sie bestellt, wenn Sie statt so eines Schwammes ein männlich festes Herz in der Brust trügen.«
Sie waren derweil in der Wohnung der Schillerschen Familie angekommen, wo die sorgliche Christophine, eben zur Jungfrau herangeblüht, den Mittagstisch schon gerüstet hatte. Es wurde ein Gedeck für den Gast aufgelegt, welcher sich die einfache Kost wacker schmecken ließ und einer Extraflasche, welche der Hausvater aus seinem spärlichen Vorrat herbeigeholt, tüchtig zusprach. Dabei gefiel sich der Poet in einer lärmenden Lustigkeit und fabulierte allerlei bunt durcheinander. Als aber die Flasche geleert war und er endlich merkte, daß seine Stimmung der seiner Wirte keineswegs entsprach, rüstete er sich zum Aufbruch und sagte:
»Ich bin eigentlich, ohne zu wissen wie, indem ich in allerlei Gedanken meinen Weg so hinduselte, zur Solitude heraufgekommen. Da ich aber einmal da war, Hab' ich mir das württembergische Land nochmals gründlich angesehen. Jetzt will ich um ein Haus weiter und sehen, wo's ein Ländle gibt, in welchem keine Speziale von der Sorte Zilling über Poeten und Musiker das Zepter führen. Will hinab ins Rheinland, zunächst aber nach Heilbronn. Gedenke heute noch Besigheim oder Laufen zu erreichen, wo ich Bekannte habe und freie Zehrung. Möchte aber das schändliche Nest, das Ludwigsburg, nicht wieder berühren. Ist mir dasselbe wie Gift und Operment zuwider und bitte daher, daß mir der Fritz da den Waldweg gen Kornthal hinab weise.«
Eine Viertelstunde später schritt der aus Württemberg verbannte Dichter neben dem jungen Schiller durch den Wald, in dessen weiten Gründen die Mittagsstille brütete. Die beiden gingen schweigend nebeneinander her, jeder mit nicht sehr angenehmen Gedanken beschäftigt. Der lebhafte Poet jedoch war der seinigen bald müde und begann ein Gespräch mit seinem jungen Führer, indem er sagte:
»He, Fritz, du kommst mir ja heute ganz duckmäuserisch vor und, wart' mal, da fällt mir ein, daß ich so etwas wie verweinte Augen an deiner vortrefflichen Mutter wahrgenommen habe. Was hat's denn gegeben?«
»Der Herzog,« erwiderte der Knabe mit einer Stimme, welcher man den Schmerz und die Entrüstung seines Innern anmerkte, »der Herzog hat dem Vater befohlen, daß ich in die Pflanzschule gebracht werde. Da soll ich ein Jurist werden, und ich hätte doch mögen ein Pfarrer werden. Es muß schön sein, eine ganze Gemeinde für das Wahre und Rechte zu begeistern –«
»Zu begeistern? O, lieber Junge, da hättest du dir hundert Lungen auspredigen können, ohne deinen Zweck zu erreichen. Daß du übrigens kein Schwarzfärber wirst – diese jenische Bezeichnung ist allerliebst, nicht wahr? – das ist mir ganz recht. 's ist ein eigen Ding um diese lutherische Schwarzfärberei, lieber Fritz. Man färbt so lange schwarz, bis man zuletzt die Welt nur noch für einen ungeheuren Tintenklex ansieht; und das ist dumm.«
»Aber, Herr Schubart, warum soll mich der Herzog zwingen können, etwas zu werden, was ich nicht werden will?«
»Warum? Weil er der Herzog ist und du sein Untertan bist.«
»Aber wir sind doch keine Sklaven!«
»Hm, lieber Junge, dem Namen nach nicht, aber der Sache nach, fürcht' ich, obgleich ich für meine Person von Geburt ein freier Reichsstädter bin. Ein freier? Du lieber Gott! Wenn ich von deutscher Freiheit reden höre, fällt mir immer die ergötzliche Geschichte von meinem Vetter Leonhard ein. Wenn der Vetter in meiner Kindheit auf den berühmten Ursulamarkt nach Schwäbisch-Gmünd zog, pflegte er zu mir zu sagen: Christian, ich bring' dir was Schönes heim, was so Schönes, daß man es gar nicht sieht. Da freute ich mich immer mächtig auf das versprochene Schöne, was ich aber richtig nie zu sehen kriegte.–
So, so, Fritz, du willst also nicht? Seht mal den Burschen! Erinnere dich doch an deinen Virgil, allwo geschrieben steht: Quid delirant reges, plectuntur Achivi. O, sie haben Mittel vollauf, uns zu zwingen, daß wir wollen müssen, was sie wünschen.«
Der Weg führte in diesem Augenblicke über eine Anhöhe, welche vor kurzem abgeholzt worden war und so einen Anblick über den Forst weg darbot. Der junge Schiller blieb stehen und zeigte mit der Hand in die Ferne, indem er sagte:
»Sie meinen wohl solche Mittel?«
Schubart schaute auf und der deutenden Hand seines Führers nach. Die Mauern und Türme einer alten Bergfeste blickten durch die klare Luft herüber.
»Hohenasperg!« rief der Poet aus. Und von einem plötzlichen dunkeln Angstgefühl ergriffen, trat er einen Schritt zurück und murmelte hastig: »Dii, avertite omen!«
Er drängte zum Weitergehen und sprach kein Wort mehr, bis sie zu einer Stelle kamen, wo der Fußpfad aus dem Walde heraus und über eine jähe Halde hinab in das Brachfeld führte. Da sah man in eine weite Ebene hinaus, besetzt mit Dörfern, deren Kirchturmspitzen aus Gruppen blühender Obstbäume hervorguckten, und weithin wogten im lauen Winde die grünen Saaten und die hochgelben Rapsfelder.
Hier verabschiedete sich der Poet von seinem jungen Begleiter. Er war sehr ernst geworden.
»Und wann werde ich Sie wiedersehen, Herr Schubart?« fragte der Knabe. »Wann werden Sie ins alte Schwabenland heimkehren?«
»Das weiß Gott. Vielleicht nie, lieber Junge. Schön ist das alte Schwabenland, das ist wahr, und glaub mir, ich liebe es heiß. Aber Leute meines Schlages gedeihen hier nicht. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, das ist eine alte bittere Wahrheit, und des Poeten Heimat ist die weite Welt.«
»O, es muß schön sein, ein Dichter zu sein!« sagte der Knabe träumerisch.
Schubart blickte ihm teilnahmevoll ins Gesicht und legte ihm mit einem der plötzlichen edlen Aufschwünge seines Wesens die Hand aufs Haupt.
»Ja, Friedrich Schiller,« sagte er gehobenen Tones, »es ist schön, ein Dichter zu sein. Aber die heilige Flamme will mit reinen Händen gewartet sein, wenn sie groß und herrlich himmelan steigen soll. – Knabe, mir ist, als sähe ich den göttlichen Funken in deiner Seele glühen. Wenn er erwacht unter dem Hauche des Lebens, dann warte und wahre ihn, hörst du? – besser und treuer als ich es getan. Folge mir nicht nach auf der Bahn der Torheit, auf welcher ich, ich fürchte es nur allzusehr, mein bestes Herzblut vergeudet, meine beste Kraft verzettelt habe. Fühle edel, denke frei und groß, halte, fest am Ideal! Der Kranz des Ruhmes ist ein Dornenkranz, aber er ist doch die schönste Krone. – Und hüte dich vor den Vornehmen! Sie meinen es nie treu mit unsereinem. Sie dulden uns nur als ein Spielzeug ihrer flüchtigen Launen, um uns bei der ersten Gelegenheit wegzuwerfen. Ich hab' es erfahren, ich. Sogar sie, das Weib, zu dem ich betete als zu einer Heiligen, sie hatte, als das Unglück hereinbrach, kaum ein trockenes Wort des Mitleids für mich. – Stelle dich auf dich selbst, Junge, und biete der Welt Trotz! Um groß zu werden, darf man sich nicht mit ihr abfinden, nein, man muß sie bekämpfen auf Leben und Tod. Laß von ihrer Gemeinheit nie die Schwingen deines Geistes beschweren und beschmutzen, wenn sie dich zur Sonne tragen sollen. – Und so, mein Knabe, leb wohl und vergiß nicht des armen Flüchtlings!«
Er drehte sich um, und sei es, daß er des Eindrucks seiner eigenen Worte wieder ledig sein wollte, sei es, daß ihn einer seiner Anfälle toller Fröhlichkeit überkam, er warf plötzlich den Hut hoch in die Luft, fing ihn wieder auf mit dem Ruf: »Juchhei, es lebe die Freiheit! Es lebe die Vagabundenschaft! Es lebe die Kunst!« und sprang dann rasch die Halde hinab.
Der junge Schiller sah dem seltsamen Manne lange nach, wie er eilig durch das blühende Feld hinschritt, mit den Armen fechtend, als führe er ein lautes Selbstgespräch.
Zögernd und langsam wandte sich der Knabe endlich zur Rückkehr wieder waldeinwärts. Ihm brannten die hohen Worte, welche Schubart zuletzt zu ihm gesprochen, heiß in der Seele. Er dachte darüber nach und achtete nicht der abendlichen Lieder, womit die Waldsänger die grüne Einsamkeit um ihn her belebten. Ihm klang fort und fort wie eine trübe Warnung und doch zugleich wie süßeste Lockung das Wort im Ohre: Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, und des Dichters Heimat ist die weite Welt.