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»Das geht noch über das Bohnenlied!« ist eine landläufige Redensart im südlichen Deutschland und zweifelsohne auch im mittleren, denn hier wurde sie eines schönen Märzmorgens des Jahres 1785 sehr häufig gehört, und zwar in einer herzoglichen Haupt- und Residenzstadt.
Die Bewohner derselben hätten freilich im Laufe der Regierung des Herzogs Emil, das heißt seit einigen Jahren, ausreichende Gelegenheit gehabt, gegen überraschende Eindrücke sich abzuhärten. Es waren seither genug Wunder oder wenigstens Wunderlichkeiten geschehen. Aber der Vorrat schien noch lange nicht erschöpft zu sein, und die »Genialität« des Fürsten sorgte dafür, daß es an angemessener Steigerung nicht fehlte.
Der Begriff des modernen Staates hat in Deutschland erst in unserem Jahrhundert sich zu entwickeln angefangen, und man kann ohne Übertreibung sagen, daß diese Entwickelung noch jetzt im Flügelkleide der Unschuld einhergeht, wenigstens unter den Massen. Viele in ihrer Art große Leute halten auch dafür, besagtes Flügelkleid sei überhaupt das passendste Gewand der Staatsidee, was wir dahingestellt sein lassen. Tatsache ist, daß zur Zeit in welcher unsere Geschichte spielt, die moderne Staatsidee den Deutschen noch keine Sorge machte. Freilich hatten Friedrich II. und Josef II. schon das ominöse Wort gesprochen, daß der Fürst nur der erste Diener des Staates sei, aber zwischen so einer revolutionären Theorie und der Praxis liegt doch immer eine tiefe Kluft. Faktisch stand der sogenannte patriarchalische Despotismus noch in voller Blüte. Da, wo der Siebenjährige Krieg mit rauher Hand den Deutschen ihren mittelalterlichen Schlummer aus den Augen gerieben, hatte dieser Despotismus die Gestalt des sogenannten erleuchteten angenommen. Aber erleuchtet und unerleuchtet, überall war die Willkür das Staatsgrundgesetz.
Die Untertanen des Herzogs Emil wußten davon zu erzählen. Während jedoch das schlecht regierte Land verarmend darunter seufzte, hatte die Hauptstadt wenigstens den Trost, daß ihr der Stoff zu residenzlichem Klatsch nie ausging. Das ist aber, wie jedermann weiß, eine der Grundbedingungen hauptstädtischer Zufriedenheit, und so lag denn in dem Ausruf: »Das geht noch über das Bohnenlied!« womit die Bewohner der Residenz den heutigen Morgen begrüßten, viel mehr der Ausdruck wohlgefälligen Erstaunens als unzufriedenen Tadels. Der Landesherr hatte für eine neue Überraschung gesorgt – was konnte er mehr tun?
Der Torschreiber an dem zum herzoglichen Lustschloß Eremitage hinausführenden Tor hatte diesen Ruf zuerst angestimmt. Von dort war er die lange Straße bis zum fürstlichen Palais hinaufgelaufen. Die Mägde am Brunnen, die Handwerker in ihren Werkstätten, die Jungen, welche zur Schule gingen, die Kanzlisten, welche nach ihren Schreibstuben schlenderten, die Krämer in ihren Buden, alle hatten ihn laut wiederholt. Auch auf dem Schloßplatze wurde er von den Lakaien und Leibgardisten gehört, aber etwas weniger laut. Er war nicht ohne Grund. Die heutige Überraschung war wirklich überraschend.
Zu dem bezeichneten Tore herein war nämlich ein Wagen gerollt, dessen Viergespann von Stallbedienten in der herzoglichen Livree gelenkt wurde. Zwei Mohren in weißen Kaftans und roten Turbanen standen hinten auf. Doch das war Alltägliches. Das Ungewöhnliche bestand in dem Wagen selbst, der in Form und Farbe einen kolossalen Totenkopf darstellte. So etwas war nicht nur in der getreuen Residenz, sondern wohl überhaupt noch nie gesehen wurden. Das ging in der Tat über das Bohnenlied.
Der Totenkopfwagen hielt im inneren Schloßhofe vor der Mittelpforte der Hofburg. Einer der Mohren öffnete den Schlag, und beide verbeugten sich bis auf den Boden vor dem kleinen, dicken, breitschulterigen Herrn, welcher ausstieg und seine schwarzen, rastlosen Augen über den Hof und die Schloßfenster entlang rollen ließ, bevor er in die Vorhalle trat und die große Treppe hinaufstieg.
Dieser Herr, welcher in weißen Atlasschuhen mit roten Absätzen ging und unter einem kostbaren Zobelpelz einen goldgestickten Galarock von weißem Sammet trug, sowie von Ringen, Ketten und Diamanten förmlich funkelte, ist uns schon flüchtig begegnet: an jenem Morgen, wo Schiller in der blauen Ente zu Gmünd der gebildeten Wirtstochter den Hof machte, und dann in dem Briefe Raleighs an seinen Freund.
Es war der Sizilianer, welcher unter dem Namen eines Conde Fenix am herzoglichen Hofe dermalen einen großen Stand hatte, nachdem ihn Herzog Emil von seiner Reise nach der Schweiz und nach Italien mit heimgebracht.
Der ungeheuerliche Wagen blieb unter der Einfahrt halten und gab der Schloßdienerschaft Gelegenheit, ihre Glossen auszutauschen, bis sie beiseite treten mußte, um drei herankommenden Equipagen Platz zu machen.
Drei Exzellenzen stiegen aus, der Herr Hofmarschall, der Herr Oberschenk und der Herr Generalleutnant, welcher dem Militärwesen des Landes Vorstand.
Auch sie erblickten den riesenhaften Totenkopf auf seinen vier Rädern mit Erstaunen.
»Quelle bizarrerie!« zischelte der Hofmarschall.
»Quelle folie!« brummte der Oberschenk.
»Was, zum Teufel, soll das sein?« rief der General aus.
Zugleich richteten sich ihre Blicke fragend auf den Adjutanten du jour, welcher eilig die Treppe herabkam.
Der junge Offizier verbiß ein Lächeln, indem er leise sagte:
»Meine Herren, ich weiß nur, daß dieses Ungeheuer von Wagen, welches wie ein Triumphvehikel für Freund Hein aussieht, nach den Angaben Serenissimi draußen in der Eremitage gebaut worden. Wahrscheinlich hat das Ding eine thaumaturgische Bedeutung. Wenigstens hat es soeben unsern großen Magier und Geisterbeherrscher zu Hofe gebracht. Im übrigen, meine Herren, habe ich die Ehre, Sie zu benachrichtigen, daß das geheime Konsilium bereits begonnen hat, und ganz im Vertrauen füge ich hinzu, daß Sie droben im Konferenzsaal ein blaues oder vielmehr ein blaurotgelbes Wunder sehen werden.«
Damit eilte der junge Herr über den Hof nach dem herzoglichen Marstall hinüber, und die drei Würdenträger stiegen die Marmortreppe hinauf. Weil ihnen jedoch das blaurotgelbe Wunder des Adjutanten mitsamt dem Totenkopfwagen sehr in den Köpfen herumging, blieben sie auf einem Absatz der Treppe noch einen Augenblick stehen, und da sagte der alte General, welcher, unter dem großen Fritz gedient hatte, unwirsch:
»Möchte wissen, was für eine verdammte Schnurre wieder im Werke ist.«
»Bst, Exzellenz,« flüsterte der Hofmarschall, »Se. Durchlaucht, unser gnädigster Herr, richtet keine Schnurren an. Er hat nur geistreiche Einfälle, genialische Ideen –«
»Ei was,« unterbrach der derbe Oberschenk den Sprecher, ohne auf das ironische Mienenspiel desselben zu achten, »ei was! Es wird immer toller, und wenn es so fortgeht, so müssen, sag' ich, die Agnaten des herzoglichen Hauses einschreiten. Wir werden ja zum Gespötte vor dem ganzen römischen Reich. Keine Woche vergeht mehr ohne ein neues Skandal. Und jetzt vollends dieser Lump von Italiener, der den Herzog so gewiß beschwindelt, als sein Grafentitel falsch ist.«
»Hol' ihn der Henker!« sagte der General. »Ich kann den gelben Kerl nie sehen, ohne zu wünschen, ihm alle Knochen im Leibe zu zerbrechen. Der ein Graf? Wenn er nicht ein verkleideter Bedienter ist, will ich Spießruten laufen.«
»Bst, bst!« mahnte der Hofmarschall wieder. »Bedenken Sie, meine Herren, daß hier nicht der Ort ist, einem, wie ich zugebe, allerdings nicht unbegründeten Mißvergnügen Worte zu leihen.«
Die Sitzung des geheimen Konsiliums, wie hierzulande der Staatsrat hieß, war nach zwei Stunden zu Ende. Da wurde es im Schloßhofe sehr lebendig. Vor den Totenkopfwagen waren jetzt sechs Pferde geschirrt, prächtige Goldfüchse. Vorreiter standen, zum Aufsitzen bereit, neben ihren Rossen und ein Pikett Leibhusaren war ausgeritten. Die wichtige Nachricht: »Se. Durchlaucht fährt nach der Eremitage!« ging von Mund zu Mund, von der Vorhalle bis zu dem wunderlichen Wagen bildeten Hofchargen eine Hecke. »Serenissimus kommt schon die Treppe herab,« sagte der erste Piqueur und bestieg sein Pferd, um sich an die Spitze des Zuges zu setzen.
Aber was war denn das?
In der That, ein blaurotgelbes Wunder.
In diese Farben gekleidet, kam nämlich ein chinesischer Mandarin, auf den Arm des Conde Fenix sich stützend, langsam und gravitätisch aus der Vorhalle heraus. Nichts fehlte dieser seltsamen Erscheinung, um einen echten Chinesen vorzustellen, und doch steckte in dieser Verkleidung ein deutscher Fürst.
Wir versichern dem Leser ausdrücklich, daß wir von einer historischen Tatsache sprechen. Freilich bildet der Umstand, daß ein deutscher Herzog in chinesischer Mandarinentracht am hellen Tage seinem Staatsrat vorsaß, eine der bizarrsten Episoden unserer Sittengeschichte, wenn nicht die bizarrste überhaupt.
Herzog Emil schien es nicht zu bemerken, daß sein Hofstaat große Mühe hatte, die gereizte Lachlust hinter der gewohnten Ehrfurcht zu verbergen. Er erwiderte die ehrerbietigen Verbeugungen rechts und links mit gnädiger Grandezza, bestieg dann den Totenkopf und winkte dem Sizilianer, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Die Schloßwache trat ins Gewehr, die Tambours schlugen ihren Wirbel, die Vorreiter sprengten dem Wagen voran, die Leibhusaren hinterdrein, und der Zug brauste zum Hofe hinaus und die Straße hinab.
War die Redensart: »Das, geht noch über das Bohnenlied!« von der Stadt zum Schlosse hinausgelaufen, so lief sie jetzt umgekehrt vom Schlosse zur Stadt hinab. Und sie war auf allen Lippen.
Selbst auf denen eines so ernsten Mannes und altgedienten Hofherrn, wie der Kanzler des Herzogtums einer war.
Diese greise Exzellenz kam mit einer andern greisen Exzellenz, dem Herrn Kammerpräsidenten und Obersteuerdirektor, langsam über den Schloßhof daher und sah sehr nachdenklich aus.
Die beiden alten Herren mochten das Bedürfnis fühlen, sich auszusprechen, denn als sie das Gitter des Hofraums hinter sich hatten, lenkten sie ihre Schritte nach dem Schloßgarten, der um diese Tageszeit von Besuchern leer war. Indem sie eine einsame Allee, an deren Zweigen das erste schüchterne Grün schimmerte, hinabgingen, brach der Kanzler das Schweigen mit den Worten:
»Das ist unerhört! Nicht nur das höchste Regierungskollegium seines Landes, sondern auch seine eigene Würde als Mann und Reichsfürst durch eine alberne Maskerade verhöhnen, als Chinese dem Staatsrat eines deutschen Herzogtums vorsitzen – da hört doch alles auf. Ich meinte, der Schlag müßte mich rühren.«
»Mir erging es nicht besser,« versetzte der Kammerpräsident. »Ich war im eigentlichen Sinne des Wortes stupéfait, wie die Franzosen sagen. Und doch hätte uns die heillose Komödie kaum überraschen sollen. Erinnern Sie sich denn nicht, wertgeschätzter Freund, daß Serenissimus vor etwa zwei Jahren einmal von der tollen Kaprice angewandelt wurde, als Frau gekleidet, die entblößten Schultern mit einem Kaschmirschal halb verhüllt, vom ganzen Hofe die Kur anzunehmen?«
»Ich war damals abwesend, hörte zwar davon, nahm es aber für eine Faschingsposse. Solange diese Wunderlichkeiten unseres Herrn im Hofkreise sich ausließen, berührten sie im Grund uns Geschäftsleute wenig. Nun aber scheint es, soll der Tollrausch alles in seinen sinnverwirrenden Wirbel hineinziehen. Ist es da nicht unsere geschworene Pflicht, beizeiten uns die ganze Gefährlichkeit der Sachlage klarzumachen, um überall die nötigen Vorkehrungen zu treffen?«
»Was meinen Sie, Exzellenz?«
»Ich meine, Exzellenz, daß wir langjährige Kollegen und Freunde seien und daß es unsere Schuldigkeit sei –«
»Serenissimo treuuntertänigste Vorstellungen zu machen?«
»Was richten Vorstellungen da aus?«
Die beiden Exzellenzen maßen sich mit forschenden Blicken.
»Ich errate Ihre Intention nicht, hochgeschätzter Freund und Gönner,« sagte der Kammerpräsident. »Sollten Sie vielleicht den Gedanken haben, daß wir an den kaiserlichen Reichshofrat in Wien –«
»Bah,« unterbrach ihn der Kanzler, »bis der Reichshofrat die Sache bereinigt hätte, könnten Land und Leute zweimal zugrunde gehen. Zudem sind wir nicht die Leute, ein ohnehin schon großes Skandal noch größer zu machen. Hübsch in der Stille gearbeitet! Das ist mein Wahlspruch. Aber gearbeitet, etwas getan muß werden.«
Der Kammerpräsident nahm mit Bedacht eine Prise aus seiner goldenen Dose, schnippte mit den seinen langen Fingern den Tabaksstaub vom Spitzenjabot, nahm eine sehr kluge Miene an, sah sich vorsichtig um und sagte dann, indem er mit dem Zeigefinger der Rechten auf den Deckel der Dose in seiner Linken tippte:
»Wenn ich den heutigen Aufzug Serenissimi bedenke, wenn ich ferner den ganz inkonvenablen Umstand ins Auge fasse, daß unser allergnädigster Herr heute geruhte, den Conde Fenix, welchen ich, im Vertrauen gesagt, weniger für einen Grafen und großen Magier als vielmehr für einen Chevalier, nämlich d'industrie, und großen Scharlatan halten muß, ohne weiteres in das geheime Konsilium einzuführen, wenn ich endlich in Betracht ziehe, daß Se. Durchlaucht die Gnade hatte, uns durch besagten hergelaufenen Menschen in einem wunderlichsten Kauderwelsch eine Vorlesung über schwarze und weiße Magie, Kabbala-Nekromantie, Magisterium und andere dergleichen schöne Sächelchen halten zu lassen, so muß ich, hochgeschätzter Herr Kollega und liebwertester Freund, zu dem Schlüsse kommen, daß wir uns in einer Situation befinden, wo es heißt: Caveant consules.«
»Jawohl. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit.«
»Und unser Vorteil.«
»Auch das, denn in unserem Alter, wertgeschätzter Herr Kollega, ist man der jugendlich törichten Schwärmerei ledig, mehr an andere als an sich selbst zu denken. Es handelt sich vor allem darum, diesen Italiener zu entfernen. Sein Einfluß auf unsern durchlauchtigsten Herrn ist geradezu erschreckend. Er scheint mit seinem vorgeblichen geheimen Wissen Serenissimo den Kopf vollständig verdreht zu haben, so daß alles Ernstes zu befürchten steht, Se. Durchlaucht – hm – Sie verstehen mich –«
»Ich denke wohl. Ein Landesherr, von welchem es sozusagen notorisch, daß er – daß er – nun ja, daß er mente captus, könnte leicht Veranlassung geben, daß –«
Und der Herr Kammerpräsident vervollständigte diesen fragmentarischen Satz durch eine in sehr sprechend diplomatischer Weise zur Nase gebrachte Prise. Der Herr Kanzler verstand diese Schnupferpantomime recht gut.
»Sie wollen andeuten,« sagte er, »daß gewisse Leute den in Rede stehenden Fall zu benutzen wissen würden? Ganz auch meine Meinung. Sie wissen, Serenissimus hat nur ein Kind, ein Töchterlein. Die kleine Prinzeß ist mit dem Erbprinzen des Nachbarlandes verlobt –«
»Sie brauchen, Exzellenz, entschuldigen Sie gütigst, das Bedrohliche nicht weiter auszumalen. Ich weiß, wir sind am Hofe des wunderlichen alten Herrn, des künftigen Schwiegerpapas unserer kleinen Prinzeß, nicht gut angeschrieben, und daher liegt es in unserem Interesse, daß die Regierung des Landes nicht vorzeitig nach jener Richtung hinfalle. Ergo müssen wir trachten, unsern jetzigen allergnädigsten Herrn möglichst lange zu behalten. Zu diesem Zwecke ist es nötig, daß Serenissimi durchlauchtige« Extravaganz – sit venia verbo – wieder die frühere harmlosere Richtung nehme. Ergo muß der welsche Scharlatan fort.«
»Sie sind, Wertester, noch immer der klare und bündige Logiker wie vorzeiten, wo Sie Professoren und Studenten im alten lieben Halle durch Ihre Schlagfertigkeit als Disputator entzückten. Ihre Ansicht ist vollkommen richtig. Unser Werk dürfte übrigens nicht so gar schwierig sein, denn wir haben den ganzen Hof für uns, von dem jüngsten Jagdjunker an bis hinauf zu Ihrer Durchlaucht, der Frau Herzogin.«
»Ah, die Frau Herzogin! Ihre Durchlaucht hat wahrlich guten Grund, auf diesen Italiener und seine Tochter böse zu sein.«
»Freilich, aber ich glaube nicht, daß das seltsame Mädchen die Tochter dieses Menschen ist.«
»Was denn? Etwa seine –«
»Nein, außer Sie wollten das Wort Maitresse dem strikten Wortsinne nach mit Herrin übersetzen.«
»Wie?«
»Dieses Mädchen beherrscht den Sizilianer vollständig Er kriecht ordentlich vor ihr, während sie ihn augenscheinlich mit grenzenloser Verachtung behandelt.«
»Und wie behandelt diese schöne Signora – denn schön ist sie, wunderschön – unsern durchlauchtigen Herrn?«
»Gerade so wie den Sizilianer.«
»Sie setzen mich in Erstaunen.«
»Ja, die Sache ist rätselhaft genug. Dieses Mädchen ist entweder die kühnste Abenteurerin oder die mutwilligste Künstlernatur von der Welt. Ich fand Gelegenheit, bei dem letzten Hofball in der Eremitage mit ihr zu verkehren, und ich fand sie stolz wie eine Göttin und von unnahbarer Jungfräulichkeit.«
»Was Sie sagen! Aber wie kommt sie dann in die Gesellschaft dieses Scharlatans?«
»Da bin ich überfragt. Übrigens was kümmert das uns? Die Signora muß fort zugleich mit dem Signori denn ihr Einfluß auf den Herzog ist noch mehr zu fürchten als der ihres angeblichen Vaters.«
»Gut, aber was raten Sie?«
»Ich möchte vor allem Ihren Rat vernehmen. Unsere Interessen sind so lange Jahre her dieselben gewesen. Sie sind es, schmeichle ich mir, auch heute noch.«
»Wahr und freundschaftlich gesprochen, Exzellenz. Würden Sie es nicht für zweckdienlich erachten, zu versuchen, Serenissimum bei seiner schwachen Seite fassen zu lassen? Sie wissen, er wurde streng lutherisch erzogen. Wie wäre es, wenn wir protestantische Skrupel in ihm zu erwecken suchten? Etwa durch den Herrn Oberhofprediger?«
Mein wertgeschätzter Freund, ich muß mir erlauben, Sie zu fragen: Wo hatten Sie in letzter Zeit Ihre Augen? Wo blieb Ihr Scharfblick, Ihr Scharfsinn? Uns an den Oberhofprediger wenden? Haben Sie denn nicht bemerkt, daß am ganzen Hofe dieser geistliche Würdenträger der einzige ist, welcher für den Sizilianer Partei genommen?«
»Doch, ich habe es bemerkt, legte aber der Sache keine Wichtigkeit bei.«
»Mit Unrecht, sehr mit Unrecht.«
Und nachdem sich der Herr Kanzler umgesehen, ob kein Lauscher in der Nähe, setzte er mit gedämpfter Stimme hinzu:
»Erinnern Sie sich nicht der seltsamen Gerüchte, welche schon vor längerer Zeit über den Herrn Oberhofprediger umgingen?«
»Daß er ein Abtrünniger sei?«
»Ja. Ich legte früher so wenig Gewicht darauf wie Sie selber. Aber seither ist mein Verdacht rege geworden. Sollte es Ihnen entgangen sein, wie sonderbar sich unser Bruder Oberhofprediger manchmal in der Loge benommen hat?«
»Nicht so ganz. Seine heftige Opposition gegen den Illuminatismus fiel mir auf, aber ich vermutete, er führe sie vom Standpunkte der protestantischen Orthodoxie aus.«
»Das glaubte ich früher auch, jetzt nicht mehr. Wer war es, der den Conde Fenix in unsere Loge einführte und dessen Rezeption bewirkte?«
»Allerdings der Oberhofprediger.«
»Und wer arbeitet unablässig daran, daß die Loge das sogenannte ägyptische System der Maurerei adoptiere, welches dieser Sizilianer predigt?«
»Wieder der Oberhofprediger.«
»Sehen Sie nun, daß hier eine Intrige im Gange ist, welche noch ganz andere Zwecke verfolgt als den, unsern Herzog mittels Geisterbeschwörungen und Goldmachern um Geld zu prellen?«
»Sie erschrecken mich. Am Ende wäre es da gar auf Proselytenmacherei und dergleichen Skandal abgesehen?« »Ich fürchte es. Der Oberhofprediger ist ein gefährlicher Mann. Seine Verbindungen reichen weit. Wie sehr doch haben wir es in dieser fatalen Situation zu beklagen, daß der frühere Oberhofprediger seine Stelle vorzeitig niederlegte, um sich auf eine Landpfarre zurückzuziehen.«
»Freilich, freilich. Der wackere Stahlherz war mit seinem etwas polternden Rationalismus zwar manchmal ziemlich unbequem, aber hier wäre er zuversichtlich ganz am Platze. Doch wie, sehe ich recht? Kommt der Pastor nicht eben dort die Allee herauf?«
»In der Tat, wie gerufen, ganz wie ein deus ex machina. Sehen Sie nur, wie rüstig unser alter Freund ausschreitet. Er trägt seine Jahre leichter als wir.«
Die beiden Exzellenzen gingen dem Herannahenden entgegen, und bald fand zwischen ihnen und dem Pastor eine freundschaftliche Begrüßung statt.
»Wie gut sich das trifft, liebwerter Freund,« sagte der Herr Kanzler. »Eben sprachen wir von Ihnen. Wo weht Sie denn der Wind her?«
Der alte Herr, eine hohe, sehr hagere Figur mit strengen, intelligenten Zügen, nahm seinen großen Dreimaster ab, wischte sich, vom raschen Gehen erhitzt, den Schweiß von der gefurchten Stirne, stieß dann den langen Rohrstock auf den Boden und erwiderte mit einer Art verbissener Lustigkeit:
»Woher ich komme, meine gnädigen Herren und Freunde? Je nun, direkt vom Berge Sinai.«
»Was?« riefen die beiden Exzellenzen zu gleicher Zeit.
»Ja, es ist schon so,« sagte der Pastor und ehemalige Hofprediger.
»Sie scherzen.«
»Keineswegs. Mittelbar komme ich von meinem Dorfe unweit der Eremitage, aber unmittelbar vom Berge Sinai. Das nimmt Sie wunder, meine Herren? Und doch gehen dermalen hierzulande so wunderbare Sachen vor, daß einem von Rechts wegen gar nichts mehr wunderlich vorkommen sollte.«
Der alte Rationalist aus der Wolfschen Schule sprach das mit einer Entrüstung, die sich umsonst bemühte, humoristisch auszusehen.
»Wir verstehen Sie nicht, werter Freund,« sagte der Kanzler.
»Nun, so will ich Sie aufklären,« versetzte der Prediger, »denn ich liebe noch immer die Aufklärung in allen Dingen, obgleich sie jetzt, scheint es, aus der Mode gekommen, um der Verfinsterung Platz zu machen. Haben Sie denn, meine Herren, wirklich noch nichts von dem Berge Sinai gehört, welcher draußen im Park der Eremitage im Aufbau begriffen ist?«
»Sie meinen den bizarren neuen Hügelpavillon?«
»Ei freilich. Ich hörte von meinen Dörflern schon lange die ungeheuerlichsten Dinge inbetreff dieses Bauwerkes. Da hab' ich mir's denn im Vorbeigehen mal angesehen. Und was sah ich? Ein Werk des Unsinns und Betrugs. Der Architekt, der sich, beiläufig gesagt, schämen sollte, sich einen Bruder Maurer zu nennen, erklärte mir die heillose Schnurre und meinte mir damit einen Gefallen zu erweisen. Der Hügel, welcher aufgetürmt wurde, um den Bau zu tragen, heiße Sinai, der Pavillon selber Sion. Auch von einem Gemache, das den Namen Ararat führen soll, war die Rede und sonst noch von allerlei verrücktem Zeug. Ich sagte dem Baumeister meine Meinung, ja, so tat ich, und ich kam hierher, sie auch diesem welschen Hansnarren und Hauptgauner, dem Lügengrafen, sowie dem Herzog selber zu sagen.« »Da haben Sie einen vergeblichen Gang gemacht, Bruder Stahlherz,« bemerkte der Kammerpräsident. »Serenissimus ist mit dem Conde Fenix gerade vorhin nach der Eremitage hinausgefahren. Sind Sie dem herzoglichen Wagen nicht begegnet?«
»Nein, ich kam den Fußweg durch die Wälder. Aber ein vergeblicher soll mein Gang doch nicht ganz sein. Wohl, ich sah also den Berg Sinai, welcher der Sitz einer Mutterloge der ägyptischen Maurerei werden soll, womit dieser sizilianische Schelm unser Land beglücken will, um es dem Teufel, will sagen dem Aberglauben und der Sittenlosigkeit, in den Rachen zu jagen. Und nun frage ich Sie, meine Herren, ich frage Sie, als Maurer zu Maurern sprechend: Wollen Sie es dulden, daß die Loge dieser Stadt, welche so lange ehrenvoll dastand im Deutschen Reiche, zu einem Tummelplatze dunkelmännischer Arglist verwandelt werde?«
»Lieber Bruder,« entgegnete der Herr Kanzler, »so weit ist es noch nicht. Der Conde Fenix empfiehlt zwar das ägyptische System –«
»Welches kein anderes ist als das der strikten Observanz,« fiel der Pastor lebhaft ein.
»Das mag sein. Indessen dürfte doch auch berücksichtigt werden, daß den Conde Fenix in seinen Bestrebungen, hierzulande eine ägyptische Mutterloge zu stiften, ein sehr namhafter Geistlicher der Landeskirche eifrig unterstützt.«
»Wer?«
»Ihr Nachfolger, der Oberhofprediger.«
»Der? – Ich dachte es mir. Noch mehr, ich war längst überzeugt, daß die Volksstimme, welche den Heuchler als heimlichen Apostaten bezeichnete, Gottes Stimme gewesen ist. Aber ich sage Ihnen, nehmen Sie sich in acht, meine Herren! Ich will nicht noch einmal von Ihren Pflichten als Maurer reden, aber Sie sind Minister dieses Landes. Retten Sie den unglücklichen Herzog, der, ohne es zu merken, am Rande des Abgrundes taumelt, und retten Sie das Herzogtum. Die alte Schlange rührt sich wieder mit Macht in diesen Tagen. Eine höllische Kabale ist im Werke. Noch einmal soll es versucht werden, die Fürsten und Völker deutscher Nation in das alte Lügennetz zu verstricken.«
»Sie sehen die Dinge wohl zu schwarz, hochgeschätzter Freund,« bemerkte der Kammerpräsident. »Indessen ist nicht zu leugnen, daß verschiedene Inkonvenienzen an diese mystischen Spielereien, in welche Serenissimum hineinzuziehen gelungen ist, sich knüpfen dürften.«
»Inkonvenienzen? Ei, jawohl!« entgegnete der alte Prediger heftig. »Sie werden Schlimmeres erfahren als Inkonvenienzen, meine Herren, wenn Sie die Sache so leicht nehmen. Ist erst die ägyptische Maurerei, das heißt die ägyptische Finsternis, hier im Flor, so werden Sie vom »Eques a penna rubra« Befehle erhalten. Sie staunen, woher ich das alles weiß? Erinnern Sie sich, meine Herren, unseres alten Freundes und Bruders Armbruster, welcher dermalen in Stuttgart lebt? Dieser weise Mann und treffliche Mensch hat mir durch den Mund eines jungen Bruders, eines Amerikaners, welcher dermalen mein Gast ist, das ganze Gewebe des Luges und Truges enthüllt, dessen Maschen sich um uns zusammenziehen sollen. Ich weiß zwar wohl, unsere Kraftgenies drüben in Weimar machen sich in Versen und Prosa weidlich lustig über die ängstlichen Finsterlingeriecher in Berlin, wie sie den wackeren Nikolai und dessen Freunde spöttisch zu nennen pflegen; aber falls nicht bald umfassende Maßregeln getroffen werden, das üppig wuchernde Unkraut auszurotten, so dürften unsere Kinder und Enkelkinder zu ihrem Schaden erfahren, daß Nikolais Riechorgan nur allzugut organisiert gewesen sei und daß man daher besser getan hätte, seine Worte zu beherzigen, als ihn zu verhöhnen. Freilich, der Mann ist kein titanisches Genie, kein furibunder Obenhinaus, allein ein Mensch von gesundem Menschenverstand ist er, und solche sind in Deutschland leider Gottes immer selten gewesen. Es stünde sonst besser um uns.«
Der alte eifrige Rationalist war auf ein Gebiet geraten, wohin ihm zu folgen die beiden Exzellenzen keine Lust hatten. Sie wollten sich mehr an Zunächstliegendes halten.
»Sie erwähnten Armbrusters, Wertester,« sagte der Kanzler, »und ich erinnere mich des kaustischen Doktors als eines klugen und welterfahrenen Mannes recht gut. Aber sagen Sie, hat er Ihnen nur allgemeine Warnungen vor dem Treiben der sogenannten ägyptischen Maurer zukommen lassen, oder gingen seine Bedenken ins Spezielle?«
»Ins Spezielle und Speziellste, Ihnen zu dienen,« versetzte der Prediger.
»Ah,« bemerkte der Kammerpräsident, »am Ende wußte der alte Schalk, der übrigens ein eifriger Maurer und Illuminat war, Genaueres über unsern Wundergrafen?«
»So ist es. Er hält ihn für einen durchtriebenen Gauner, aber dennoch im ganzen mehr nur für einen betrogenen Betrüger. Mit andern Worten, für einen Sendling der Propaganda, der aber bei Gelegenheit auch auf eigene Hand schwindelt. So urteilt mein amerikanischer Gast, den mir Armbruster warm empfahl, ebenfalls.«
»Ist dieser Amerikaner ein Mann von Stand?«
»Ein Mann von Stand und Bildung, ein Ehrenmann, welcher die Ehre hatte, an Washingtons Seite als dessen Adjutant zu fechten.«
»Wie kommt er aber in Beziehungen zu dem Conde?« »Er steht in keinen Beziehungen zu diesem, aber er hat sich an dessen Fersen geheftet, um der jungen Dame nahe zu sein, welche mit dem Herzog und dem Sizilianer hierher oder vielmehr nach der Eremitage kam.«
»Wie, er ist in die Tochter oder Maitresse des Abenteurers verliebt?«
»Das Mädchen, behauptet er, sei weder die Tochter, noch die Maitresse des Schwindlers. Er ist der jungen Dame allerdings mit einer tiefen Neigung zugetan und hat mir ihre seltsame Geschichte erzählt.«
»Sie reizen unsere Neugier.«
»Kann sie aber vorderhand nicht befriedigen, meine Herren, denn was ich weiß, hat mir mein Gast im Vertrauen mitgeteilt. Genug, wenn ich Ihnen sage, daß der junge Mann, obgleich seine Bewerbung bislang keinen Erfolg hatte, entschlossen ist, alles aufzubieten, um das Fräulein von dem Lügenpropheten loszumachen.«
»Gott segne seine Bemühungen!« sagte der Kanzler lachend.
»Jawohl,« bekräftigte der Kammerpräsident. »Das wäre ein Trumpf, ein Hauptmatador in unserem Spiel. Ohne die Signora ist der Signor ein pures Nichts.«
»Jetzt erkenne ich wieder meinen scharfblickenden Herrn Kollegen,« sagte der Kanzler. »Ich bin, unter uns gesagt, überzeugt, daß Se. Durchlaucht, unser Herr, die magischen Gaukeleien des Conde stets nur wie einen seiner andern barocken Zeitvertreibe betrachtete. Die wahre Magie steckte und steckt in den Augen der Signora. Ist dieser Zauber weg, so wird, ich wette darauf, der Herzog den frechen Scharlatan mit Schimpf und Schande vom Hofe jagen.«
»So?« fragte der ehrliche Prediger verblüfft. »Sie meinen, hinter dem mystischen Schwindel stecke nicht mehr und nicht weniger als eine gemeine und sündhafte Kuppelei?« »Gewiß meine ich das,« versetzte die Exzellenz. »Aber nun kommen Sie, Herr Kollega, und auch Sie, Freund Pastor, es wird Zeit sein zum Diner. Sie müssen beide mit mir speisen, damit wir mitsammen überlegen können, wie diesem vortrefflichen Amerikaner bei seinem Unternehmen unter die Arme zu greifen sei.«