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Nicht allein für das Alter, sondern auch für die Jugend kommen Tage, von welchen geschrieben steht, daß sie uns nicht gefallen. Das geschieht alljährlich nach Allerheiligen. Die »trüben Tage vor der Weihnacht« sind die Prosa des Winters. Seine Poesie, die, ach, immerhin eine sehr kalte ist, hebt erst mit dem klingenden Frost des Januars an. Man sieht dann wieder ein Endchen Himmel, ein Stückchen Sonne und spricht hoffnungsvoll: Wäre nur erst Lichtmeß da! Zwar liegt hinter dieser ersehnten Lichtmeß gewöhnlich nur ein neuer Aufzug der Wintertragödie, aber die weiße und graue Kälte geht doch allmählich in die »grünangestrichene« über, und wenn dich auch am ersten Mai tüchtig fröstelt, so erhebt dich über diese kleine Unliebsamkeit das mailiche Bewußtsein, endlich allen Apriltücken zum Trotz in den offiziellen Wonnemond eingetreten zu sein.
November und Dezember hingegen, das ist eine hoffnungslose Zeit. Doch nein, lieber Leser. Ich vermute, du bist noch jung und hast von diesen Monaten eine ganz andere Ansicht. Mit Recht. Dir bringt diese aschgraue Zeit Blumen – im Haare der Geliebten, die du zu Balle begleitest. Wollte ich dir sagen: Diese Blumen welken – ach, wie schnell! und der magische Glanz, welcher sechzehnjährige Mädchenstirnen umfließt, verschwindet – ach, wie spurlos! du würdest dich ungläubig von mir abwenden. Und du, süßerrötende Kleine, deren junges Herz unter dem aufblühenden Busen erzittert, wenn der »liebe Wohlbekannte«, dem Frack und Schnurrbart so vortrefflich sitzen, auf dich zuschreitet, um dich zum Walzer oder zur Polka zu führen, wie würdest du unwillig den Mund aufwerfen, falls ich dir zuflüsterte: Dein Ideal ist hohl vom Scheitel bis zur Sohle. Aber ich tue es nicht. Seid glücklich mitsammen und täuscht euch mittels der Ballnächtetäuschungen über Novemberstürme und Dezembernebel hinweg. Uns anderen freilich will das nicht mehr gelingen. Die Erfahrung ist eine häßliche Lupe. Sie zwingt uns, zu bemerken, daß oft die schönsten Ballblumen in die Klasse der Giftpflanzen gehören, und daß hinter dem erwähnten magischen Stirnglanz schon die Furchen lauern, wie Leidenschaft, Kummer und Sorge sie pflügen. So fühlen wir denn das Lastende der trüben Tage vor der Weihnacht in seiner ganzen Schwere. Glücklich, wem wenigstens ein warmer Ofenwinkel gegönnt ist, wo er die unendlich langen Abende verdämmern kann. Glücklicher noch, wer im Süden der Erinnerung den Norden der Gegenwart vergessen, wer von dieser als von einer Vergangenheit redend, sich, wie der große Wolfgang in Rom, froh fühlen kann, der Zeiten gedenkend:
Da ihn ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf seinen Scheitel sich senkte,
Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und er über sein Ich, des unbefriedigten Geistes
Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank.
Den Menschen in stille Betrachtungen zu versenken, dazu sind die trüben Tage vor der Weihnacht geeignet genug. Es ist, als legte sich der Dezemberhimmel mit seinem bleiernen Grau recht eigentlich zu dem Zwecke so schwer auf die Erde, um uns auf uns selbst zurückzuführen, uns zu zwingen, in unserem Inneren Lebensquellen aufzugraben, welche draußen zu sprudeln aufgehört haben. Und nicht nur der Mensch, auch die Landschaft nimmt dann das Aussehen stiller Beschaulichkeit an. Man kann sich einbilden, die Erde verarbeite in sich die Erinnerungen des letzten Frühlings und Sommers, um darüber einzunicken, bis dann wieder ein zudringlicher Sturm unsanft an der müden Schläferin rüttelt, um sie für Augenblicke zu einem Leben aufzustören, das doch nur ein Scheinleben ist.
Das dreifach geteilte, im Sommer so reizende Tal, wo am Ufer der sanftgekrümmten Saale die kleine Residenz Rudolstadt liegt, lag an einem der ersten Dezembertage des Jahres 1787 stillbeschaulich unter dem »graulichen Himmel«. In diesen stiegen hinter den verschneiten Waldhöhen, welche es umgaben, höhere Gebirge weiß empor. Auf die schneebedeckten Dächer der Stadt blickte das fürstliche Schloß von seiner Felsspitze düster herab. In den Gassen war es schläfrig still. Ein Trupp Knaben, aus der Schule kommend, hatte vor einem Hause, das sich durch ein gewisses, wenn auch nur bescheiden aristokratisches Ansehen vor seinen Nachbarn auszeichnete, Versuche angestellt, ob sich der lässig rieselnde Schnee nicht ballen lasse. Diese Versuche waren fehlgeschlagen, und verdrießlich, um ihr Vergnügen betrogen zu sein, hatten sich die Jungen zerstreut, in die roten Hände blasend.
Hinter den Scheiben eines Fensters des bezeichneten Hauses wurde der schöne Kopf einer jungen Frau sichtbar, welche träumerisch sinnend in das Flockengeriesel herunterschaute.
Es war Karoline von Lengefeld, seit einigen Jahren die kinderlose Gattin des rudolstädtischen Hofrats Freiherrn von Beulwitz, eines achtbaren Mannes, welchem die Sechzehnjährige nach den Grundsätzen der Konvenienz verlobt worden. Ihr Herz war dabei nicht gefragt worden; vielleicht hätte es damals überhaupt noch keine Antwort gegeben. Jetzt freilich wußte es zu antworten, aber die Brust, in welcher es schlug, hatte gelernt, dem kleinen Muskel, welchen wir als Sitz der besten und leidenschaftlichsten Gefühle anzusehen gewohnt sind, keine rebellischen Regungen zu gestatten, wenigstens keine sichtbaren.
Für dieses noch so junge und schöne weibliche Wesen sollte einst, nach einer langen Laufbahn, ein Tag kommen, wo es anordnete, daß man ihm die Worte: »Sie irrte, litt, liebte« – auf den Grabstein schriebe. Ach ja, sie litt und liebte, aber ihr Irrtum, wenn überhaupt einer, war der schönste, war nur der, zu glauben, dem Glücke geliebter Menschen sich zu opfern sei das höchste Glück.
Sie mögen selten sein, aber es gibt solche Frauen. Sie haben etwas Eigentümliches im Auge, etwas wie verhaltene Zärtlichkeit, Schwärmerei, todwunde und doch in ihren Schmerzen stillbeglückte Resignation. Zuweilen blickt aus diesen Augen, während der Mund opferfreudig lächelt und die Stirne ein Strahl sanfter Begeisterung erleuchtet, eine tiefrührende Klage. Aber ausgesprochen wird sie nie, ausgeweint vielleicht in der Einsamkeit schlummerloser Nächte.
Frau von Beulwitz hatte solche Augen. Indem sich dieselben jetzt vom Fenster abwandten, richteten sie sich mit mütterlicher Zärtlichkeit auf ihre um einige Jahre jüngere Schwester Charlotte – in der Familie und von den Freunden derselben kurzweg Lotte, Lottchen, Lolochen geheißen – welche ihr an dem in die Fensternische gerückten Arbeitstischchen gegenübersaß, über eine halbvollendete Kreidezeichnung hingebeugt, an welcher sie mit kunstgeübter Hand emsig arbeitete.
In dieser Stellung, wenn man nur die zierlichen Vorderarme und Hände, die feingerundeten Schultern und den rosigen Nacken erblickte, über welchen die schlichtgescheitelten lichtbraunen Haare in kunst- und bandloser Lockenfülle herabfielen, in dieser Stellung hatte die Erscheinung Charlottes von Lengefeld etwas Kindliches. Sie mußte erst das sinnige Auge erheben und den Beschauer eine Büste sehen lassen, in welcher sich die jungfräulichen Formen in anmutiger Vollendung ausprägten, um jenem ersten Eindruck den noch angenehmeren blühender Mädchenschaft zu gesellen.
Karoline hat, wie bekannt, später mit liebevoller Schwesterhand das Bild ihres Lottchens gezeichnet, ohne zu schmeicheln. Sie rühmt an der Schwester die Grazie der Gebärde und Bewegung, die Reinheit und Zartheit der Empfindungen, den feinen und tiefen Sinn für die Natur. Sie sagt von ihr: »Lotte hatte eine sehr anmutige Gestalt und Gesichtsbildung. Der Ausdruck reinster Herzensgüte belebte ihre Züge, und ihr Auge blitzte nur Wahrheit und Unschuld. Sinnig und empfänglich für alles Gute und Schöne im Leben und in der Kunst hatte ihr ganzes Wesen eine schöne Harmonie.« Diese Harmonie, setzen wir hinzu, schloß alles Stürmische, leidenschaftlich Hochfliegende aus, ohne doch einen Mangel an Gefühlswärme und treuer Hingabe zu bedingen, und so war Lotte in der Tat eine jener seltenen, bei allem Reichtum der Anlagen und Empfindungen mäßigen Frauennaturen, welche geschaffen sind, reinstes Glück nicht nur zu genießen, sondern auch zu gewähren oder, besser gesagt, gerade in der Gewährung desselben selber glücklich zu sein. Diese nicht hoch genug anzuschlagende Fähigkeit verbreitet über ihre Besitzerinnen einen ganz eigenen Zauber von Frohsinn und Heiterkeit. Sie verleiht ihnen etwas kostbar Leichtlebiges, welches weder im Glück sich überhebt, noch im Mißgeschicke Fassung und Mut verliert. Daraus erklärt es sich, daß zur Stunde, wo wir Lottes Bekanntschaft machen, nur eine scharfe Beobachtung einen Zug sanfter Traurigkeit um die vollen roten Lippen des Mädchens hätte wahrzunehmen glauben können. In Wahrheit, es war so ein Zug vorhanden, aber nur noch wie ein leiser Nachschimmer oder Nachschatten. Das arme Kind hatte die erste, lebhaft zugewandte Neigung seines aufkeimenden Herzens zu einem trefflichen und liebenswürdigen Manne an Verhältnissen scheitern gesehen, welche den Freund aus Deutschland und Europa hinweg in einen fernen Weltteil gezwungen. Die Wunde war jetzt freilich vernarbt, aber die Narbe doch noch frisch genug, um bei jeder Berührung schmerzlich zu erzittern. Solche Stimmungen sind gerade, wie jedermann weiß, für junge Mädchen und Frauen oft verhängnisvoll. In diesem Alter hat sich das Herz noch nicht daran gewöhnt, leer zu sein, und an die Stelle des verloren gegangenen Gegenstandes, welcher es ausfüllte, schlüpft daher häufig ganz unversehens ein anderer, meist ein besserer sogar. Denn mit welcher Bevorzugung die Poesie immer die erste Liebe verherrlichen mag, in der Wirklichkeit ist diese weitaus mehr nur unklare Ahnung als volles Genügen, oft geradezu nur täppische Einbildung und Phantastik, eine buntschillernde Seifenblase, welche der leiseste Windhauch entführt. Schön ist gesagt worden, die zweite Liebe sei der Missionär, welcher vom Heiligen Grabe komme. Die Heiligkeit dieses Missionärs lassen wir gerne gelten, aber wir erinnern daran, daß schon in manchem Heiligen Grab bei näherer Untersuchung nur falsche Reliquien sich vorfanden, das heißt, wir preisen die zweite Liebe als eine sich bewußte vor der ersten, nur instinktiven. Für das ganze Leben lieben, das kann nur ein gereiftes Herz. Nur die Wunden, welche dieses empfängt, können tödlich sein. Wie sein hat der große »Herzenskündiger« diese Wahrheit an seinem Romeo nachgewiesen! Nicht um Rosalinde, aber um Julia stirbt der junge Montague.
Das Lengefeldsche Haus war eines der besten in dem kleinen thüringischen Fürstentum. Freilich, in unseren Tagen, wo das Evangelium des Mammonismus das einzige mit Mund und Herz zugleich bekannte ist, dürfte es ein mitleidiges Lächeln entlocken, wenn wir ein Haus ein gutes und bestes nennen, welches mit Glücksgütern keineswegs übermäßig oder selbst nur mäßig gesegnet war. Zur Zeit, als unsere Väter jung waren, gab es aber noch andere Maßstäbe der Trefflichkeit als die oder vielmehr den. heutzutage gültigen. Man hatte damals noch nicht gelernt, den Menschen einzig und allein nach seiner Steuerfähigkeit oder auch nach seinem Papierschwindlergenie zu taxieren. Die Lengefeldsche Familie war keine reiche, aber sie war eine gebildete, wenig also nach den heutigen, viel nach den damaligen Begriffen. Den beiden Töchtern des Hauses gab die Gunst des Geschickes, mit vielen jener besten Männer ihrer Zeit, zu welchen wir Epigonen als zu Halbgöttern hinaufzublicken haben, in nahe und nächste Beziehung zu treten. Und mehr noch: Karoline sowohl als Lotte gehörten recht eigentlich zu jenem Kreise edler Frauen, ohne welche unsere besten Männer gar nicht möglich gewesen wären. Man beachte nur die mittelbaren und unmittelbaren Bekenntnisse Goethes, wieviel er in allen Tagen seines Lebens den Frauen verdankte, von seiner unvergleichlichen Mutter an bis hinab zu dem jungen Mädchen, welches im Marienbad das Herz des Fünfundsiebzigjährigen noch einmal mit schönsten Liebesgluten erfüllte, und man wird uns kaum beschuldigen, den Anteil der Frauen an den besten Resultaten der Geschichte des deutschen Geistes zu hoch anzuschlagen.
Line und Lotte hatten den Vater verloren, doch nicht so früh, daß die Eindrücke seiner trefflichen Erziehungsweise sich wieder hätten verwischen können. Herr von Lengefeld, in seinem Fach als Forstmann eine berühmte Autorität, war einer jener deutschen Edelleute gewesen, welche mit Herz und Kopf in die Ideen ihres Jahrhunderts eingingen. Er hatte, wie damals jedermann, sein Ideal, und dieses war Friedrich der Große, mit welchem in persönliche Berührung zu kommen ihm vergönnt gewesen. Der große Monarch, von dem Rufe des thüringischen Forstmannes angezogen, hatte denselben zu Ende des Siebenjährigen Krieges nach Leipzig beschieden und ihm den ehrenvollen Antrag gemacht, in seine Dienste zu treten, um eine Reform des preußischen Forstwesens durchzuführen. Lengefeld hatte den Antrag abgelehnt, hauptsächlich, weil ihn seine Kränklichkeit an der Durchführung des schwierigen Werkes verzweifeln ließ; aber seither war die Verehrung des großen Fritz, durch die begeisterten Schilderungen des Vaters genährt, in dem Lengefeldschen Hause zu einem förmlichen Kultus geworden. Schon das bezeugt, in welchem Geiste der treffliche Mann die Erziehung seiner Töchter leitete. Er förderte die ideale Richtung ihres Wesens, aber er wußte sie zugleich vor jener maßlosen Schwärmerei zu bewahren, welche unter der männlichen und weiblichen Jugend jener Zeit epidemisch umging. In heiteren Tischgesprächen mehr als im trockenen Lehrton hatte er den Töchtern seine klaren und weiten Ansichten von der Welt und den Menschen beizubringen gewußt und, wie die physischen, so auch die psychischen Gaben und Kräfte der Kinder durch liebevolle Anregung zeitig zur Selbsttätigkeit ermuntert. »Wir lernten« – erzählt Karoline – »den Geist erkennen und schätzen, der alle Erscheinungen auf ihren Ursprung, auf ihren Grund zurückführt. Die Welt, die wir uns hinter unseren blauen Bergen dichteten, gewann im Lichtblicke des väterlichen Verstandes feste Umrisse. Wir lernten zeitig fühlen, was wir suchen sollten. Ein Gefühl des wahren Wertes der Menschen, der männlichen Würde insbesondere, faßte Wurzel in uns; denn die verehrte Gestalt des Vaters, die Festigkeit in Grundsätzen der Ehre und schönen Sitte ausdrückte, war ihr reines Abbild.«
Die Bemühungen des Vaters, seinen Töchtern eine gediegene Bildung zu geben, wurden unterstützt durch die Mutter, in deren »liebenswürdiger Natur Empfänglichkeit für alles Schöne lag.« So waren die Mädchen in einer Atmosphäre herangewachsen, wo das Gemeine und Alltägliche keinen Zutritt hatte. Frau von Lengefeld war allerdings nicht ohne ein lebhaftes Gefühl der Geburt und des Standes, und dieses verlieh ihrer äußern Erscheinung etwas zeremoniös Abgemessenes, einen hofdamenhaften Anstand. Auch haftete an ihr bei all ihrer Herzensgüte ein starker Anflug von Weltlichkeit, der sie eine »standesgemäße« Versorgung ihrer Töchter lebhaft wünschen ließ. Demgemäß war ihr die »standesgemäße« Verbindung Karolines mit Herrn von Beulwitz sehr willkommen gewesen, und was Lotte anging, so war es gegenwärtig im Werke, dem Mädchen die Stelle einer Hofdame am herzoglichen Hofe von Weimar zu verschaffen. Die Herzogin Luise, Karl Augusts Gemahlin, sowie Charlotte von Stein, Luises Freundin und Goethes Herzensfreundin, interessierten sich dafür. Aber Lottchen sollte wohl eine Hofdame werden, doch nicht am Weimarer, sondern am Hofe des deutschen Geistes.
Die Bestimmung, welche Frau von Lengefeld für ihre jüngere Tochter im Auge hielt, hatte sie vermocht, mit ihren Kindern einige Zeitlang am Genfersee zu leben. Dort sollte sich Lottchen den französischen Weltton aneignen. Auf der Rückkehr aus der Schweiz hatte die Familie Stuttgart und Mannheim berührt. Von ersterem Orte aus hatten die Schwestern, auf Veranlassung und in Begleitung der Frau von Wolzogen, welche mit ihnen verwandt war, Schillers Eltern auf der Solitude einen Besuch abgestattet; in Mannheim hatten sie den Dichter selbst gesehen. Allein diese Begegnung war nur eine ganz flüchtige gewesen und hatte, wenigstens bei Lotte, keinen Eindruck hinterlassen. Zwar kannten und schätzten die Schwestern den Ruf des jungen Dichters und seine Werke. Aber wenn auch einzelne Szenen in den »Räubern«, im »Fiesko« und in »Kabale und Liebe« sie angezogen und gerührt, so hatte sie doch die »Masse von wildem Leben« in diesen Stücken wieder zurückgescheucht.
Lottchen zeichnete immerfort und war so gar nicht in mitteilsamer Stimmung, daß sie es vermied, aufzusehen und den Blicken der Schwester zu begegnen.
Karoline wandte das Auge von dem trostlosen Wetter draußen und dann auch von der schweigsamen Schwester ab und den Lebensbeschreibungen des Plutarch zu, wovon sie einen Band in der Hand hielt.
»Wie rührend doch dieser Ausgang des Pompejus dargestellt ist,« sagte sie nach einer Weile. »Lauter große und doch wieder so einfach menschliche Züge. Nichts Gemachtes. Gerade das, denke ich, ist es, was uns an den Charakteren des Altertums und ihren Geschicken so lebhaft und tief ergreift. Es ist in dieser antiken Welt eine Unbefangenheit und natürliche Größe, zu welcher die modernen Menschen es gar nicht mehr bringen können.«
Die Zeichnerin gab keine Antwort.
»Du bist ja heute ganz in dich verschlossen und vermauert, Lotte, fuhr Frau von Beulwitz fort. »Hast du wieder einmal, was du deine Ahnungen nennst? Laß das, liebes Kind. Dein Wesen ist ja darauf angelegt, das Leben heiter zu nehmen und froh zu führen.«
»Das ist bald gesagt, Line,« erwiderte Lotte, in ihrer Arbeit innehaltend. »Wer kann für Ahnungen? Es drückt mich heute den ganzen Tag etwas, ein seltsames Bangen, nicht gerade wie vor einem Unglück. Aber mir ist so sonderbar zumute, gerade wie damals, als – als –«
Sie stockte, und ihre rosigen Wangen wurden bleich.
Frau von Beulwitz blickte die Schwester teilnahmevoll an und versetzte im Tone zärtlichen Vorwurfs:
»Warum immer wieder an der Scheidewand rütteln, welche die Vergangenheit von der Gegenwart trennt? Hast du mir nicht erst gestern gesagt, Lottchen, was vorüber sei, wolltest du nun auch wirklich vergangen sein lassen?«
»Ja, Line, wer deine Kraft der Fassung besäße! O, ich weiß wohl, du verstehst zu leiden, ohne es die Menschen merken zu lassen.«
»Und hat man denn etwas davon, wenn man sie es merken läßt? Sind nicht die Menschen ihrer ungeheuren Mehrzahl nach so ganz von ihrem lieben Ich ausgefüllt, daß für andere in ihnen höchstens noch Platz bleibt für achselzuckendes Mitleid, dem sich nicht selten eine geheime Schadenfreude gesellt?«
»Das wäre schrecklich, Schwester. Aber es ist nicht so, und du selbst glaubst gar nicht daran.«
»Zuweilen doch, liebes Kind. Es gibt Augenblicke, wo ich zu glauben anfange, unser Freund Knebel habe doch nicht so ganz unrecht, wenn er meint, wenn man einmal nicht mehr ganz jung sei, so sei jeder Tag, den man erlebe, ein Schritt vorwärts zum Pessimismus und zur Misanthropie.«
»Pfui, so kann nur ein ausgemachter Hypochonder sprechen. Da ist doch unser herrlicher Freund Lavater ein ganz anderer Mensch. Liebe ist ihm der große Pol, um welchen die Welt sich dreht.«
»Ja, aber er übersieht nur, daß jeder Pol seinen Gegenpol hat.«
»Merken wir etwas davon in seiner Gegenwart? O, die schöne Schweiz! Was waren das für glückliche Tage, die wir angesichts jener wunderbaren Natur verlebten. Selbst der Schnee sieht dort anders aus, viel poetischer als der da, welcher so verdrossen auf den Gassen liegt.«
»Sieh, sieh, unser guter thüringischer Schnee will sich diesen Schimpf nicht gefallen lassen,« sagte Frau von Beulwitz lächelnd, als in diesem Augenblicke das Schneegestöber, vom Winde gepeitscht, rasselnd ans Fenster schlug. »Er will herein, um dich zu züchtigen.«
»Er soll nur draußen bleiben. Ich mag die rohen Gesellen nicht,« versetzte Lotte, in den scherzenden Ton der Schwester eingehend. Aber mit einem plötzlichen Übergange fügte sie beklommen hinzu: »Wie der Wind heult! Wie muß das erst auf der See sein! Gott sei denen gnädig, die jetzt auf wilder Meeresflut vom Sturme geschaukelt werden.«
Sie senkte die Augen, und ein halberstickter Seufzer hob ihren Busen.
Die Narbe, deren wir oben erwähnten, war berührt worden. Frau von Beulwitz hütete sich aber, diese Berührung durch Verweilen dabei noch schmerzlicher zu machen, und ein günstiger Zufall kam ihr zu Hilfe.
»Amen zu deinem Gebet, liebe Lotte,« sagte sie. »Gott schirme alle Reisenden zu Meer und Land, in diesem abscheulichen Wetter! Auch die beiden Fremden da, die in ihren verschneiten Mänteln die Gasse heraufgeritten kommen.«
Die Erscheinung von zwei Reisenden zu dieser Jahreszeit war in dem kleinen Rudolstadt, zu dessen Toren damals noch keine Kunststraße führte, kein alltägliches Ereignis, und wir müssen gewissenhaft angeben, daß es die Neugierde der beiden Schwestern lebhaft erregte, so kleinstädtisch dies auch den Menschen unserer Zeit vorkommen mag, welche täglich Hunderte und Tausende von Reisenden auf dampfbesflügelten Wagenburgen an sich vorübersausen sehen.
Line und Lotte waren also ans Fenster getreten und blickten auf die Gasse nieder, durch welche die bemäntelten Reiter auf augenscheinlich durch das Ungemach des zurückgelegten Weges ermüdeten Pferden heraufkamen.
»Wie ist mir denn?« sagte Frau von Beulwitz. »Ich meine, ich sollte den einen der Reisenden oder gar beide kennen. Sieh dir mal den mit der hohen, etwas nach vorwärts gebeugten Gestalt an, liebe Lotte. Sollte er uns nicht schon irgendwo begegnet sein?«
»Das ich nicht wüßte, Linchen. Aber der andere kommt mir bekannt vor. Hat er Zahnweh, daß er das Gesicht so mit einem, Zipfel seines Mantels verhüllt?«
»Der dort? Aber sieh, jetzt schaut der Hochgestaltete herauf. Ah!«
»Was hast du denn?«
»Nichts – und doch! Aber es ist wohl nur eine wunderliche Einbildung. Der häßliche Mantelkragen!«
»Du glaubst den Fremden zu kennen?«
»Freilich. Es gibt nur ein solches Gesicht.«
»Was für eins?«
»Das von Friedrich Schiller.«
»Ah bah, wie käme der hierher?«
»Ich weiß nicht, aber ich meine, er müsse es sein.«
»Und der andere?«
»Der andere –«
»Der Mantelzipfel fällt. Glückauf, 's ist Wilhelm, unser Vetter Wilhelm Wolzogen!« rief Lotte aus, fröhlich in die Hände klatschend. »Sieh, er grüßt herauf, dein allergetreuester Verehrer. Böse Line, warum siehst du ihn gar nicht an?«
Die beiden Reiter zogen unten vorüber.
»Wir bekommen Besuch!« sagte Lotte. »Ich wette, noch heute kommt der Vetter zu uns und bringt wohl seinen Begleiter mit. Siehst du, Schwesterchen, meine Ahnungen hatten doch etwas zu bedeuten.«
»Ob es wohl wirklich Schiller ist?« fragte Frau von Beulwitz gedankenvoll.
Sie sollte nicht lange im Zweifel bleiben, denn es war kaum eine halbe Stunde vergangen, so trat die Mutter der beiden Damen ins Zimmer mit den Worten:
»Eine gute Nachricht, Kinder. Wir bekommen Besuch. Vetter Wolzogen, der von Bauerbach kommt, bringt mir Grüße von seiner Mutter und läßt anfragen, ob er die Ehre haben könnte, uns auf den Abend aufzuwarten und uns seinen Reisebegleiter, den Herrn Rat Schiller, vorzustellen.«
»Also war es doch Schiller? Was du für ein scharfes Auge hast, Linchen,« sagte Lotte neckend.
Frau von Beulwitz kehrte sich lächelnd zur Seite. Tat sie es, um das leise Erröten ihrer Wangen zu verbergen?