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»Fritz, lieber Fritz, was ist dir? Wo willst du hin?«
So rief in besorgtem, fast erschrecktem Ton eine einfach gekleidete Frau, welche nahe bei der Stadt auf der schnurgeraden Straße, die von der Residenz nach der Solitude hinaufführte, daherkam, dem jungen Schiller zu, welcher ihr vor dem Tor begegnete.
Mit auf den Boden geheftetem Blick war der Knabe nahe an sie herangestürmt, ohne ihrer gewahr zu werden. Die peinlichen Eindrücke des heute Erlebten hatten ihn aus der Stadt getrieben, und vielleicht mehr instinktiv als mit Bewußtsein hatte er die Straße nach der Solitude eingeschlagen. Dort lebte ihm ja eine Mutter und eine Schwester, vor denen er sein Herz der Pein, welche es drückte, entlasten konnte.
Die Stimme der Rufenden machte ihn rasch aufblicken. Er sprang mit einem Satz über den Weg, warf sich mit dem Ruf: »O, Mutter, liebe Mutter!« der Frau in die Arme und brach in lautes Weinen aus.
Die Frau Hauptmännin, Elisabeth Dorothea Schiller, wie sie ihren Sohn so in den Armen hielt, ragte kaum um einen Zoll über den hochaufgeschossenen Knaben hinweg. Sie war also nicht groß, aber eine gewisse jungfräuliche Schlankheit und ein Ebenmaß der Glieder zeichnete die Matrone vorteilhaft aus. Sie hatte rötlichblondes Haar, und eine Menge von Sommersprossen bedeckte ihr Gesicht, aber trotzdem machte dieses durch seine außerordentliche Milde einen sehr wohltuenden Eindruck, welcher durch den seelenvollen Ausdruck der blauen Augen noch erhöht wurde.
Die Heftigkeit, womit der Sohn sie begrüßte, und sein Weinen würden die gute Frau noch mehr erschreckt haben, wenn sie nicht gewußt hätte, daß die ungemeine Erregbarkeit der Nerven ihres Kindes oft solche Ausbrüche veranlaßte, ohne daß denselben gerade ein Unglück zugrunde zu liegen brauchte.
»Wer hat dir denn was getan, Fritz?« fragte die Mutter liebevoll, indem sie mit ihrem Tuch die Tränen des Knaben trocknete.
»Mir? Niemand,« entgegnete Fritz, so schnell sich fassend, als läge in der Mutterhand, welche seine Wangen streichelte, eine beruhigende magnetische Kraft. »Aber,« fuhr er fort, »ich habe etwas Schreckliches mit angesehen. Einer der Kapsoldaten hat sich soeben, beim Ausmarschieren des Regiments, auf dem Orangerieplatz vor den Augen des Herzogs erschossen.«
»Um Gottes willen! was sagst du?«
»Was ich gerade vorhin gesehen.– O, Mutter, ist das recht, kann das recht sein, daß ein Fürst die Leute verhandelt wie das unvernünftige Vieh und sie so zur Verzweiflung treibt?«
Man konnte es der Miene der Mutter leicht ansehen, daß sie die Entrüstung des Sohnes teilte. Aber sie bezwang sich und sagte:
»Fritz, der Herzog ist der Gesalbte des Herrn.«
»Aber Gott ist allgütig. Wie kann er solches geschehen lassen?«
»Mein Kind, die Wege Gottes sind unerforschlich. –
Und höre, Fritz, wahre deine Zunge! Dein Vater ißt das Brot des Herzogs. Vergiß das nie!«
»O, Mutter, das ist bitter!« Heute fühle ich das zum ersten Male – es ist schrecklich, von der Gnade eines Tyrannen abhängig zu sein.«
»Bst, bst! Lieber Fritz, laß mich oder andere nie mehr so ein Wort hören. Der Herzog ist der Herr; er kann tun, was ihm gefällt. Seid untertan der Obrigkeit! sagt der Apostel.«
»Ja, so sagt der Spezial auch, aber im Altertum, als die großen Männer Griechenlands und Roms lebten –«
»Auch damals, lieber Fritz, ist viel Gräßliches und Grausames geschehen, wie du mir ja aus deinen Geschichtenbüchern oft vorgelesen hast.«
»Aber es wurde gerächt, Mutter, mannhaft und blutig gerächt!«
»Die Rache ist mein, spricht der Herr. Es kommt ein Tag, mein Kind, wo für jegliches Rechenschaft gegeben werden muß. – Doch komm' jetzt. Ich habe Erlaubnis vom Vater –«
»Kommt er denn nicht in die Stadt?«
»Nein, er mußte in herzoglichen Geschäften nach Hohenheim hinüber. Aber er hat an seinen Fritz gedacht, und weil dein letztes Schulzeugnis so gut ausgefallen, hat er mir erlaubt, dir heute eine Freude zu machen, wie du dir schon lange gewünscht.«
»O, ich weiß, Mutter. Ich darf mit dir ins Theater, gelt?« rief der Knabe aus, mit einem jener plötzlichen Übergänge vom Schmerz zur Fröhlichkeit, welche dem kindlichen Alter so gut stehen.
Die Mutter nickte lächelnd.
»Und es soll dem Vater auch gar nichts kosten,« fuhr der Knabe lebhaft fort, während er an der Hand der Mutter dem Stadttore zuging. »Denke dir nur, ein fremder Herr, welcher mit dem Herrn Schubart ging und mir einen Gruß von dir ausrichtete, hat mir einen großmächtigen Mariatheresiataler geschenkt, einen ganzen! Da hast du ihn! So reich bin ich noch nie gewesen, und da dacht' ich mir, daß ich nun auch mal dem PhineleZärtliche Abkürzung für Christophine, wie Schillers ältere, zwei Jahre vor ihm geborene Schwester hieß. eine rechte Freude machen könnt'. Es hat sich schon lange einen neuen MenteurDas bauschige Halstuch, welches neben dem Stelzschuh, dem Steifrock und der gepuderten Chignon-Frisur bis in die neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts hinein ein charakteristisches Merkmal des Damenanzugs blieb. gewünscht, weißt du? Für so einen Taler kann man gewiß den allerschönsten kaufen, und bleibt noch genug übrig fürs Theater. Denk dir, sie spielen heut' die Dido von Jomelli. Das soll wunderschön sein, sagt der Fritz Hoven, der neulich das Stück hat sehen dürfen. Und was mich noch mehr freut, Mutter, du kannst dann, wenn du heimkommst, den Leuten auf der Solitude sagen: Mein Fritz hat mich in die Oper geführt.«
Die Mutter lächelte wieder, diesmal hochbeglückt. Wenn, wie gerade heute, der Feuergeist des Sohnes ihr zuweilen Besorgnis erregte, so wurde seine reine Herzensgüte stets wieder eine Quelle der Beruhigung für sie.
So saß sie denn, als ihre Geschäfte in der Stadt abgetan waren und der Abend gekommen, auf einer Bank des Opernhauses und freute sich des glänzenden Schauspiels vor ihren Augen. Frau Schiller war in hohem Grade mit Phantasie und einem natürlichen Verständnis des Schönen ausgestattet. Sie hat zwar niemals Verse gemacht, wie das früher ein Biograph ihres großen Sohnes dem andern gläubig nachgeschrieben, aber von jedem Hauch von Poesie fühlte sich ihre offene, lautere und fromme Seele warm angeweht. Sie verstand und teilte die Sympathie ihres geliebten Fritz, wenn ihr dieser in den Schulvakanzen die Lebensbeschreibungen der Helden Plutarchs vorlas, sie fühlte sich erhoben, wie er, von den glutvollen Ausströmungen der Psalmisten, welche der Knabe, gewohnt, sich als künftiger Prediger zu betrachten, zum Texte seiner feurigen Predigten zu nehmen liebte, gehalten von einem Stuhl herab, welchen ihm Schwester Christophine zur Kanzel zurichtete, nachdem sie ihrem Bruder ihre schwarze Schürze als einen Tatar umgebunden. Und gar in den letzten Herbstferien, was hatte da für eine erhöhte, für eine poetische Stimmung in der kleinen Dienstwohnung der Schillerschen Familie auf der Solitude geherrscht! Da hatte der Fritz Klopstocks Messias, ein Geschenk der Mutter seines Busenfreundes Hoven, aus der Residenz mitgebracht und den Seinen vorgelesen. Man muß sich in das Gefühl dankbarer Entzückung, womit diese Familie das epochemachende Werk des Messiassängers genoß, hineinversetzen, wenn man der Liebe gerecht werden will, womit alle Empfänglichen des achtzehnten Jahrhunderts die Schöpfungen unserer großen Dichter aufnahmen. Da war kein Deuteln und Mäkeln, da war die ganze Fülle und Naivität staunender Bewunderung und schwärmerischer Rührung. Da glaubte man noch an das Ideal und ließ sich von den Offenbarern desselben leicht und gern emporheben über den gemeinen Dunstkreis des Lebens. Selbst Vater Schiller, sonst so streng, aller Schwärmerei abhold und weltliche Poesie sehr gering achtend, war dem Reize der tiefen Herzensstimmung des großen Gedichts erlegen, das heutzutage nur noch eine literarhistorische Rarität ist. Nicht nur der biblische Gegenstand zog den frommen Mann an, der Seelenschwung des Dichters riß ihn fort, und so erfuhr auch er die gewaltige, Wirkung des Werkes. Und erst seine Frau und seine Kinder! Sie empfanden und wußten nichts von den Mängeln des Gedichts, sie fühlten nur, daß hier ein erhabener Geist von Erhabenem sang, daß hier ein großes Herz seine Begeisterung, seine Liebe und Milde in die Verse gehaucht. Sie lebten die Seelenkämpfe der edlen Portia mit, sie beteten mit den Engelchören, sie zitterten vor der kolossalen Ruchlosigkeit Satans und weinten mit dem gefallenen, aber bereuenden Seraph Abbadonna.
Heute bot der Frau Hauptmännin die Kunst Bilder aus einer ganz anderen Sphäre; aber wenn auch ihr schlichter Sinn in diesem Gewirre von blendenden Eindrücken sich nicht zurechtfinden konnte, so befähigte sie doch ihre Unbefangenheit hinlänglich, an den süßen Melodien sich zu ergötzen, und wurde ihre Freude verdoppelt und verzehnfacht durch das Entzücken, womit ihr Sohn an den Zaubereien der Bühne hing, die er heute zum erstenmal erblickte.
Das Ludwigsburger Opernhaus, damals das größte in Deutschland, war von Herzog Karl mit unsäglichen Kosten und beispielloser Eile für seine Festzüge und großen Opern erbaut worden. Es stand in den sogenannten Anlagen hinter dem Schlosse. Nicht, nur die für den Hof und seine Gäste bestimmten Logen, sondern das ganze Innere des Hauses war nach damaligem Geschmack mit Spiegelgläsern bekleidet, so daß die reiche Beleuchtung einen wahrhaft märchenhaft phantastischen Effekt hervorbrachte. Licht und Glanz und Blendung, wohin man blickte. Der Herzog war anwesend, mit ihm sein Hof und die vornehmen Gäste, welche Ludwigsburg zur Zeit des Karnevals beherbergte. Die Logen funkelten von den Ordenssternen der Kavaliere und den Diamanten der Damen.
Man gab die von Metastasio gedichtete und von Iomelli komponierte Oper Dido. Der berühmte Maestro selbst saß vor dem Dirigentenpult, denn die herzogliche Oper war nicht nur in Beziehung auf das Haus, sondern auch auf das Kunstpersonal kostspielig ausgestattet. Italien und Frankreich, Spanien sogar, hatten um schweres Geld ihr künstlerisches Kontingent gestellt. Der Kastrat Aprile und die Sängerin Masi hatten die ersten Rollen inne. Das Orchester war aus lauter zum Teil weit berühmten Virtuosen zusammengesetzt. Da waren die Geiger Nardini Lolli und Teller, der Hornist Rudolfi, die Oboisten Plas, ein Brüderpaar von jenseits der Pyrenäen. Und dann noch ein Ballett, welches Noverre leitete, und in welchem Tänzer wie Lepi, Balletti und der »große« Vestris selbst auftraten, jener Vestris, welcher sein »Haus« mit dem »Haus Bourbon« auf gleiche Linie stellte und durch Summen, welche uns heute kaum glaublich vorkommen, vermocht wurde, seine kostbare Zeit zwischen Paris und Ludwigsburg zu teilen. Hierzu denke man sich die Wunder, welche die besten Dekorationsmaler und geschicktesten Maschinisten ersinnen und ins Werk setzen konnten; und die Pracht von szenischen Gruppierungen, zu welchen bis zu hundert Figuranten zumal verwendet wurden. Um alles mit einemmal zu sagen, die heutige Vorstellung war eine jener Festopern des Karnevals, von denen jede den Herzog von Württemberg hunderttausend Gulden kostete.
Die glänzende Versammlung, die Pracht des Hauses, der Pomp der Szenerie, die Vereinigung von Poesie, Musik und Tanz in diesem musikalischen Drama übten auf Schillers junge Seele einen unbeschreiblichen Eindruck. Er verstand die italischen Rezitative und Arien Metastasios nicht, aber er kannte den Gegenstand der Handlung aus seinem Virgil. Eine neue, unbekannte, entzückende Welt tat sich vor ihm auf. Die Flügel seiner Phantasie lüfteten sich, um ihn hineinzutragen in diese Zaubergegenden. Mit ihrer ganzen Frische und Kraft nahmen seine Sinne diese wunderbaren Eindrücke auf. Er hätte bald laut weinen, bald laut aufjauchzen mögen. Wenn er sich im Verlaufe des Stückes bemühte, alles, was er sah und hörte, sich klar zu machen, bemächtigte sich seiner eine gemischte Empfindung. Dieser Knabe, bestimmt das germanische Abstraktionsvermögen in höchster Potenz zu künstlerischer Anschauung zu bringen, begann zu dieser Stunde dunkel seinen Beruf zu ahnen. Der Dichter, der Künstler, der Gesetzgeber der Kunst regte sich in ihm, nicht im entferntesten bewußt, aber doch instinktiv. Er wußte nichts von den Gesetzen der Poesie und des Dramas, aber doch durchdrang ihn eine chaotische Empfindung, daß hier die höchsten Gesetze der Kunst nicht erfüllt würden. Und eins wurde ihm klar: die göttliche Macht des Genius, und wieder ein anderes: die hohe Mission des dramatischen Dichters. O, so von der Bühne herab zum Volke zu sprechen, mahnend, warnend, strafend, zündend! Jedesmal wann der Vorhang wieder emporging, war ihm, als hübe sich zugleich der Vorhang vor seiner eigenen Seele, und er erblickte dahinter etwas Unbekanntes, Geheimnisvolles, Unnennbares, was ihn zugleich mit Staunen, mit Schrecken und mit Entzücken erfüllte. Es war die Erschütterung einer jungen Künstlerseele, die zum erstenmal unter dem Anhauch einer Kunstoffenbarung erbebt.
Aber eben weil die Seele des Knaben eine Künstlerseele war, flogen Licht und Schatten, Luft und Weh in raschestem Wechsel über sie hin. Dieses edle Herz hat selbstsüchtigen Genuß nie gekannt. Alle die humanen Anschauungen und weltweiten Impulse, welche zur Höhezeit unserer Klassik in die herrliche Formel gefaßt wurden:
Wer die Sache der Menschheit als seine eigne betrachtet,
Hat an der Götter Geschäft, hat am Verhängnisse teil –
lagen als Keime in der Brust des jungen Schiller und harrten nur der Entwicklung. Jedes besondere ward ihm ein allgemeines, und je mehr sein Geist nach der Harmonie des Ideals dürstete, um so schmerzlicher fielen ihm die Dissonanzen der Wirklichkeit. Ach, er war schon nicht mehr jung genug, um mit souveräner Unbefangenheit dem Momente sich hinzugeben. Schon war die Fähigkeit des Sonderns, des Abwägens, des Vergleichens in ihm erwacht. Die sittliche Kraft, welche der Herzschlag seiner großen Zukunft werden sollte, betätigte sich schon frühzeitig in ihm und zeigte ihm die Dinge auch von der Kehrseite. Mit einem Gefühl ehrfurchtsvoller Bewunderung sah er den Maestro Iomelli seinen Taktierstock regieren, den Zauberstab, welcher diese Wunderwelt beherrschte. Aber dann fielen ihm auch die unheimlichen Sagen ein, die über den genialen Italiener umliefen, und wie derselbe zu Rom seinen Nebenbuhler, den Portugiesen Terradella, meuchlerisch erstochen habe. Er wußte noch nichts von der Macht der Leidenschaften, und so konnte er sich einen wahren Künstler nur vorstellen, rein wie die Seraphim Klopstocks, getragen von den erhabensten Gefühlen. Und wenn er die Blicke auf die Prachtloge des Herzogs richtete, da verband sich mit der Vorstellung von diesem Erdengott immer und immer wieder die Erinnerung an das, was er heute auf dem Orangerieplatze erlebt. Er sah die verkauften Kapsoldaten, hörte den selbstmörderischen Schuß fallen, sah den Unglücklichen blutend auf dem Pflaster liegen. Dann meinte er, ein ungeheurer Trauerflor rolle über die Bühne herab und lege sich bleischwer über das ganze von Lichtern funkelnde Haus. Er hörte die erstickten Klagen der Mütter, die verzweifelnden Flüche der Väter, denen man mit List oder Gewalt die Söhne entrissen hatte, um sie in einer Wildnis jenseits des Meeres elend umkommen zu lassen. Dieser Glanz, dieser Prunk und Pomp, mit wieviel Jammer, mit wieviel Tränen und Verwünschungen war das alles erkauft! Was für ein tausendstimmiges Echo des Elends antwortete von draußen diesen schmelzenden Melodien, welche die Seele in wollüstigen Schlummer zu wiegen trachteten! Der arme Knabe wurde traurig im tiefsten Herzen. Seine Mutter bemerkte mit Befremden, daß seine Augen nicht mehr vor Freude strahlten, sondern daß seine Brauen finster zusammengezogen waren; aber sie ahnte nicht, sie konnte nicht ahnen, welchen gewaltigen Einfluß die Erlebnisse dieses Tages, dieses Abends auf die künftige Laufbahn ihres geliebten Kindes haben würden.