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Der Dichter hatte demnach im Lengefeldschen Hause einen Eindruck zurückgelassen, welcher zu kräftig und günstig war, als daß er sich je wieder hätte verwischen können. Aber er hatte auch einen Eindruck mit hinweggetragen, welcher jenem an Stärke nicht nachstand. So hätte müssen ein besonderer Unstern walten, wenn das Verhältnis von beiden Seiten nicht ein schönes und dauerndes geworden wäre.
Äußere Umstände kamen hinzu, um die beiden Schwestern und den Dichter einander näher zu rücken. Gegen Ende des Winters zu kam Lotte für eine Weile nach Weimar. Es galt, den Hofdamenplan zu fördern. Allein Lotte scheint an der Hofluft wenig Behagen gefunden zu haben. Sie sehnte sich nach ihren heimatlichen Bergen und verhehlte diese Sehnsucht auch dem Dichter nicht, welcher bereits das schöne Vorrecht genoß, freundschaftlichen Tones mündlich und schriftlich mit dem anmutigen Mädchen verkehren zu dürfen. Er sagte ihr damals:
»Sie können sich nicht herzlicher nach Ihren Bergen und Bäumen sehnen, mein gnädiges Fräulein, als ich. Man kann den Menschen recht gut sein und doch wenig von ihnen empfangen. Das ist, glaube ich, auch Ihr Fall. Jenes beweist ein wohlwollendes Herz, aber das letztere einen Charakter. Edle Menschen sind schon dem Glücke sehr nahe, wenn nur ihre Seele ein freies Spiel hat. Dieses wird oft von der Gesellschaft – von guter sogar – eingeschränkt; aber die Einsamkeit gibt es uns wieder, und eine schöne Natur wirkt auf uns wie eine schöne Melodie. Ich habe nie glauben können, daß Sie in der Hof- und Assembleenluft sich gefallen; ich hätte eine ganz andere Meinung von Ihnen haben müssen, wenn ich das geglaubt hätte. So eigenliebig bin ich, daß ich Personen, die mir teuer sind, gern meine eigene Denkungsart unterschiebe – verzeihen Sie mir.«
Die erbetene Verzeihung wurde sicherlich gerne gewährt. Überhaupt muß sich Lotte während des Aufenthalts in Weimar ganz dem unbefangenen Frohsinn und der heiteren Güte ihres glücklichen Naturells überlassen haben. Zeugnis dessen ist die Strophe, welche der Dichter beim Scheiden in ihr Stammbuch schrieb:
Ein blühend Kind, von Grazien und Scherzen
Umhüpft – so, Lotte, spielt um dich die Welt;
Doch so, wie sie sich malt in deinem Herzen,
In deiner Seele schönen Spiegel fällt,
So ist sie doch nicht! – Die Eroberungen,
Die jeder deiner Blicke siegreich zählt,
Die deine sanfte Seele dir erzwungen,
Die Statuen, die dein Gefühl beseelt,
Die Herzen, die dein eignes dir erzwungen,
Die Wunder, die du selbst getan,
Die Reize, die dein Dasein ihm gegeben,
Die rechnest du für Schätze diesem Leben.
Für Tugenden uns Erdenbürgern an.
Den holden Zauber nie entweihter Jugend,
Der Engelgüte mächt'ger Talisman,
Der Majestät der Unschuld und der Tugend,
Den will ich sehn, der diesem trotzen kann!
Der Abschied war jedoch nur für eine kurze Frist genommen. Schiller sehnte sich mit dem kommenden Frühling aus dem Weimarer Stadtleben hinweg, welches damals, aus Gründen, wie wir sie im vorigen Kapitel angedeutet haben, bei manchem Förderlichen für den Dichter doch auch viel Unersprießliches hatte. Er versprach sich im Rückblick auf sein Gartenhausleben in Gohlis und Loschwitz, auf die Arbeiten, welche ihn beschäftigten, den besten Einfluß von ländlicher Einsamkeit. Aber freilich, so ganz einsam sollte dieselbe doch nicht sein. Es zog ihn in die Nähe von Rudolstadt, denn die beiden Schwestern machten nun schon einen Teil seiner Existenz aus.
Von ihrer Seite fand dieser Wunsch des Freundes die günstigste Aufnahme und bereitwilligste Unterstützung. Die Schwestern sahen sich nach einer Passenden Sommerherberge für den Dichter um und fanden eine solche in der Entfernung einer kleinen halben Stunde von der Stadt bei dem Dorfe Volkstädt, das zwischen Wiesen und Gärten an der Saale liegt, in dem Hause des Kantors Unbehaun.
Hierher zog in der Mitte des Maimonds der Dichter und fand bei der Familie seines Wirtes freundliche Aufnahme und sorgliche Pflege. Wenige Tage nach seiner Ankunft pries er in einem Schreiben an seinen Freund Körner den neuen Aufenthaltsort, das liebliche Saaletal mit seinen sanftansteigenden Bergen und die seiner Wohnung gegenüberliegende Anhöhe, von wo Schiller der reizenden Aussicht auf die Stadt so gerne genoß. Dieser Punkt, welchen eine schöne Pietät nachmals Schillershöhe genannt und mit einer Bronzebüste des Dichters geschmückt hat, ist Wanderern, welche den Spuren des Genius nachzugehen und die Stätten, welche großer Menschen Anwesenheit geweiht, aufzusuchen lieben, wohlbekannt.
Es waren glückliche Tage, welche Schiller in Volkstädt verlebte, für seinen Geist eine Zeit des Reisens, für sein Herz eine Zeit sanfter Befriedigung. Mit wem immer er in Berührung kam, der gewann ihn lieb, selbst die einfachen Dörfler, in deren Gedächtnis der »junge gelehrte Mann mit dem blassen, geisterhaften Gesichte und den langen, gelben Haaren, welche nicht gepudert und zusammengedreht waren wie die der Stadtherren«, bis auf unsere Zeit herab fortgelebt hat.
Was ihm der Umgang mit den beiden Schwestern, was diesen der Umgang mit dem Dichter war, das hat uns Karoline in unübertrefflich schönen Worten geschildert. »Wie ein Blumen- und Fruchtgewinde war das Leben dieses ganzen Sommers mit seinen genußreichen und bildenden Stunden und Tagen für uns alle. Schiller wurde ruhiger, klarer, seine Erscheinung wie sein Wesen anmutiger, sein Geist den phantastischen Ansichten des Lebens, die er bis dahin nicht ganz verbannen konnte, abgeneigter. Lange hatte er den Reiz eines freien freundschaftlichen Umganges entbehrt; uns nun fand er immer empfänglich für die Gedanken, welche eben seine Seele erfüllten. Er wollte auf uns wirken, uns von Poesie, Kunst und philosophischen Ansichten das mitteilen, was uns frommen könnte, und dies Bestreben gab ihm selbst eine milde, harmonische Gemütsstimmung. Sein Gespräch floß über von heiterer Laune, und wenn oft störende Gestalten unseren kleinen Kreis beengten, so ließ ihre Entfernung uns das Vergnügen des reinen Zusammenklanges unter uns nur noch lebhafter empfinden. Wie wohl war es uns, wenn wir nach einer langweiligen Kaffeevisite unserem genialen Freunde unter den schönen Bäumen des Saaleufers entgegengehen konnten! Ein Waldbach, der sich in die Saale ergießt und über den eine schmale Brücke führt, war das Ziel, wo wir ihn erwarteten. Wenn wir ihn im Schimmer der Abendröte auf uns zukommen sahen, dann erschloß sich ein heiter ideales Leben unserem innern Sinne. Hoher Ernst und anmutige geistreiche Leichtigkeit des offenen reinen Gemüts waren in Schillers Umgang immer lebendig. Man wandelte im Gespräche mit ihm wie zwischen den Sternen des Himmels und den Blumen der Erde. Wie wir uns beglückte Geister denken, von denen die Bande der Erde abfallen und die sich in einem reineren, leichteren Elemente der Freiheit eines vollkommenen Einverständnisses erfreuen, so war uns zumute.«
Daß bei solcher Stimmung die Arbeiten des Dichters gedeihlich vorrückten, kann nicht wundernehmen. Ihn beschäftigten damals vornehmlich zwei größere Unternehmungen, die »Geschichte des Abfalls der Niederlande« und »Der Geisterseher«.
Das erstere dieser Werke war die erste bedeutendere Frucht seiner geschichtlichen Studien und ist auch, trotz ihrer fragmentarischen Gestalt, die bedeutendste seiner historischen Arbeiten geblieben. Wie Schiller von der Geschichtschreibung dachte, habe« wir zu berühren schon Gelegenheit gehabt. Ihm war hauptsächlich um die innere, um die philosophische Wahrheit zu tun, durchaus mehr um den Geist, als um den Buchstaben der Begebenheiten. Das Detail, namentlich da, wo es der künstlerischen Formgebung widerstrebte, ließ ihn gleichgültig. Überall auf die großen, ewigen Züge in den Geschicken, Leiden, Verirrungen und Taten der einzelnen und der Völker hindeutend, war er, wie als Dichter ein vorwärts zeigender, so als Historiker ein rückwärts gewandter Prophet. So war ihm denn der glorreiche Befreiungskampf der Niederländer gegen die spanische Despotie ein Mittel, »in der Brust des Lesers, ein freudiges Gefühl seiner selbst zu erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache«. Die Idee, von welcher, das ganze Werk beseelt und getragen ist, prägt sich in der Stelle der Einleitung aus, wo es heißt: »Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Gewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist, baß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen und heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hilfsquellen endlich erschöpfen kann.«
Dem Roman »Der Geisterseher« liegt eigentlich der nämliche Gedanke zugrunde wie der Geschichte der niederländischen Revolution. Hier wie dort dreht sich alles um den Kampf der lichten gegen die dunkeln Mächte. Nur geht dieser Streit, der im Geschichtswerk auf der objektiven Bühne der Historie sich abspielt, im Roman innerhalb der Schranken individueller Beziehungen vor sich. Schiller, welcher von seinem Geisterseher später nicht mehr viel hielt, tat dem Werke unrecht, insofern dasselbe eine meisterhaft psychologische Behandlung kulturgeschichtlicher Probleme des achtzehnten Jahrhunderts enthält. Der Dichter hatte mit der Wahl dieses Gegenstandes einen ganz vortrefflichen Griff in seine eigene Zeit hineingetan. Vielleicht, daß ihn jener Brief aus Paris, welchen ihm Raleigh zu schreiben versprochen und auch wirklich geschrieben hatte, auf das Thema des Geistersehers geleitet. Der Freund hatte ihm darin den Verlauf und Ausgang der Intrige am herzoglichen Hofe von S. G. auseinandergesetzt, Laurettas Stellung dazu, sein eigenes rettendes Eingreifen und seine Belohnung durch die Gerettete. So hatte Schiller erfahren, wie sehr zwei Menschen, die seinem Herzen teuer waren, in die Laufbahn des sizilianischen Abenteurers, der an verschiedenen Enden und Orten Europas seine unglaublich frechen und doch urkundlich verbürgten Gaukeleien trieb, verflochten worden waren. Das erklärt die Wärme, womit der Dichter an die Ausführung des Gegenstandes ging. In dem Maße aber, in welchem die Gestalten Raleighs und Laurettas, von denen er weiter keine Nachricht mehr erhalten, allmählich durch die Zeit und durch neuere Bekanntschaften in dämmernde Ferne gerückt wurden, erkaltete auch seine Teilnahme an dem geisterseherischen Thema, und er ließ es zuletzt ganz fallen. Unrecht jedoch würde man dem Dichter tun, wollte man in der Heldin des Geistersehers, in der schönen Griechin, Erinnerungen an Lauretta finden. Dagegen hat man guten Grund, in jener Gestalt der Fiktion Züge der Wirklichkeit zu vermuten, Züge von jener Henriette. Elisabeth, welche den Dichter während seines Aufenthalts in Dresden so leidenschaftlich aufgeregt und verwirrt hatte.
Wenn im Geisterseher Schiller eine Gattung der Poesie, den Roman, kultiviert hat, zu welcher er später nie wieder zurückgekehrt ist, so sind dagegen zwei berühmte Gedichte ans dieser Periode, »Die Götter Griechenlands« und »Die Künstler«, nur Vorblüten – allerdings prächtige – jener lyrisch-didaktischen Dichtertätigkeit, die später Früchte trieb, welche mit zu den besten des germanischen Geistes gehören.
Gegen das Klagelied um die Götter Griechenlands hat gleich bei seinem Erscheinen das Zelotenthum wütend die Lanze eingelegt. Das Gedicht sei irreligiös, wurde geeifert. Wunderlicher Mißverstand! Alle Adern dieses Liedes schwellen von religiösem Gefühl. Es ist ein Laut innigster Sehnsucht nach dem »holden Blütenalter der Natur«, wo diese noch nicht als ein Abfall vom Göttlichen betrachtet, verachtet und gehaßt wurde, wie das später geschah, als man vergaß und vergessen machen wollte, daß auch der Stifter des Christentums in den Evangelien überall als vom innigsten Natursinn durchdrungen erscheint.
Wenn aber Schiller in den Göttern Griechenlands als ein Rächer der Schönheit erscheint, so steht er in den Künstlern als ihr Prophet da. Wir möchten dieses wunderbare Gedicht eine Transfiguration der Kulturgeschichte der Menschheit nennen. Des Dichters philosophisches Kredo: Durch Schönheit zur Wahrheit und Freiheit! kommt hier voll und ganz zur künstlerischen Erscheinung. In erhabensten Tönen wird die Mission des Dichters, des Künstlers verkündigt, und über den wogenden Gedankenstrom dieser frohen Botschaft fährt sänftigend und glättend die Hand der Grazie. Wer die Schöpfungen unseres teuren Dichters näher kennt, dem müssen die Künstler als die erste völlig reine Ausströmung seiner großen Seele erscheinen. Man spürt in jeder Zeile die wohltätige Einwirkung der beiden Schwestern, man fühlte, daß er diesen seinen Dank zollen wollte, daß er sich selbst im Auge hatte, als er in den Künstlern die Stelle schrieb:
In allem, was ihn jetzt umlebt,
Spricht ihn das holde Gleichmaß an;
Der Schönheit goldner Gürtel webt
Sich mild in seine Lebensbahn.
Als Lotte das Gedicht im »Deutschen Merkur« gelesen, sagte sie dem Freunde:
»Ich finde immer mehr Schönes, je öfter ich's lese. Sie haben den Lorbeerkranz errungen! So hat noch kein Dichter die Künste besungen, noch keiner hat gezeigt, wieviel wir ihnen zu danken haben, und man fühlt es klar, daß es so ist.«
Das gegenseitige Vertrauen, das gegenseitige Gefühl der Unentbehrlichkeit wuchs zwischen den Frauen und dem Dichter von Tag zu Tag. Ausdrücke lebendigster Freundschaft traten in ihren Beziehungen an die Stelle der konventionellen Anreden und Begrüßungen, aber, während Karoline ihre Empfindungen mehr zu beherrschen verstand, ließ die arglose Unschuld Lottes hinter dem Schleier der Freundschaft manchmal schon ein, wärmeres, weiblicheres Gefühl hervorblicken. So, wenn sie dem Dichter einen Strauß sendet und dazu die Worte schreibt:
»Diese Blumen sollen ihre süßen Düfte um Sie verbreiten, lieber Freund, und Ihnen einen schönen Gruß von mir bringen.«
Schiller und die Schwestern lasen in diesem Sommer mitsammen den Homer, und so wurde der Dichter von der Hand der Freundschaft immer mehr hineingeleitet in die große Welt des Altertums, in welcher er sich dann durch Übertragungen aus Euripides noch heimischer zu machen suchte. Da gewährte es ihm Freude und Aufmunterung, wahrzunehmen, wie fein und lebhaft das Verständnis Lottes für die Alten war. Einmal äußerte sie:
»Wie schön kommt mir nicht der Mut vor, womit die Menschen der antiken Welt das Unglück tragen. Nie verlieren sie ganz die wohltätige Hoffnung, und wenn dann alles verschwindet, so suchen sie Trost in dem beständigen Wechsel der Dinge.«
Im Lengefeldschen Hause war es auch, wo Schiller zuerst dem eben aus Italien zurückgekehrten Goethe persönlich begegnete. Aber wenn die beiden Schwestern, der Verehrung für Goethe voll, von dieser Zusammenkunft für ihren Freund viel Gutes und Bestes gehofft hatten, so sollten sie für jetzt in dieser Hoffnung sich sehr getäuscht finden. Es mußten noch Jahre vergehen, bevor zwischen den beiden Heroen unserer Literatur Verständnis und Zusammenklang sich herstellte. Schiller zwar war dem berühmten Manne mit offener Herzlichkeit genaht, aber Goethes Gemessenheit scheuchte ihn zurück.
Goethe befand sich damals in einer sehr unbehaglichen Stimmung. Zu der quälenden Rückerinnerung an den eben verlassenen Süden gesellten sich peinliche Eindrücke, die er im Vaterlande vorfand. Die laute Bewunderung für Schillers wildgeniale Jugendwerke war ihm, wie er später offen erklärte, zuwider, nicht etwa aus kleinlichem Neid, sondern weil sie ihn, der sich in Italien ein neues Schönheitsideal gebildet hatte, allzu geräuschvoll an die eigene Kraftgenialität erinnerten, welche er als eine abgetane Sache angesehen wissen wollte. Daß Schiller dem kraftgenialen Naturalismus bereits sich entwunden, daß er eine Bahn eingeschlagen hatte, welche ihn mit Goethe früher oder später zusammenführen mußte, und zwar im modernen Griechentum zusammenführen mußte, das übersah damals der letztere, obwohl ihn Schillers Gedichte von den griechischen Göttern und den Künstlern schon hätten darauf aufmerksam machen können.
So blieb die erste Zusammenkunft zwischen den beiden kalt und förmlich. Schillers gerechtes Selbstbewußtsein fühlte sich verletzt, daß Goethe sein Entgegenkommen ablehnend aufgenommen. Doch war er gerecht genug, gegen Körner brieflich zu äußern:
»Vieles, was mir jetzt noch interessant ist, was ich noch zu wünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei Goethe bereits durchlebt. Sein ganzes Wesen ist schon von Anfang her ganz anders angelegt als das meinige; seine Welt ist nicht die meinige; unsere Vorstellungsarten scheinen wesentlich verschiedene. Indessen schließt sich aus einer solchen Zusammenkunft nicht gründlich. Die Zeit wird das Weitere lehren.«
Den Freundinnen gegenüber sprach sich aber Schillers verletztes Gefühl stärker aus.
»Soviel ich sehe und gehört habe,« sagte er, »hat sich Goethe durch seinen Geist und tausend Verbindlichkeiten Freunde, Verehrer und Vergötterung erworben, aber sich selbst hat er immer behalten, sich selbst hat er nie gegeben. Ich fürchte, er hat sich aus dem höchsten Genuß der Eigenliebe ein Ideal von Glück geschaffen, bei dem er nicht glücklich ist. Dieser Charakter gefällt mir nicht, ich würde ihn mir nicht wünschen, und in der Nähe eines solchen Menschen wäre mir nicht wohl.«
Da Karoline schwieg, versetzte Lotte:
»Sie haben da, teurer Freund, ein Urteil über Goethe gefällt, das mir in seinem Charakter einiges klar macht, was ich sonst nicht gut zusammenreimen könnte; nämlich, daß er sich ein Ideal von Egoismus gebildet hat und daher an nichts mehr recht innig zu seinem eigenen Glück sich anschließen kann. Er kann den Menschen viel für sie selbst geben, aber andere ihm nichts. Er kommt sich daher oft so einsam vor, weil er sich zu groß fühlt, und ich glaube, dies muß ihm trübe Augenblicke machen.«
»Das mag allerdings wahr sein,« entgegnete Schiller, »aber was folgt daraus? Wenn ich auf einer wüsten Insel mit ihm allein wäre, so würde ich freilich weder Zeit noch Mühe scheuen, diesen verworrenen Knäuel seines Charakters aufzulösen. Aber da ich nicht an dieses einzige Wesen gebunden bin, da jeder, wie Hamlet sagt, in der Welt seine Geschäfte hat, so habe ich auch die meinigen: und man hat wahrlich zu wenig bares Leben, um Zeit und Mühe daran zu wenden, Menschen zu entziffern, die schwer zu entziffern sind. Ist er ein so ganz liebenswürdiges Wesen, so werde ich das einmal in jener Welt erfahren, wo wir alle Engel sind. Im Ernst, ich habe zuviel Trägheit und, wenn Sie wollen, auch zuviel Stolz, einem Menschen abzuwarten, bis er sich mir entwickelt hat. Es gibt eine Sprache, die alle Menschen verstehen. Diese ist: Gebrauche deine Kräfte! Wenn jeder mit seiner ganzen Kraft wirkt, so kann er dem andern nicht verborgen bleiben. Dies ist mein Plan. Wenn einmal meine Lage so ist, daß ich alle meine Kräfte wirken lassen kann, so wird Goethe mich kennen, wie ich seinen Geist schon jetzt kenne und anerkenne. Und das noch, meine Freundinnen, lassen Sie mich Ihnen ein für allemal sagen: erwarten Sie nicht zuviel Herzliches und Ergießendes von Menschen, die von allem, was sich ihnen nähert, in Bewunderung und Anbetung gewiegt werden. Es ist nichts zerbrechlicher im Menschen als seine Bescheidenheit und sein Wohlwollen. Wenn so viele Hände an dieses zerbrechlich zarte Ding tappen, was Wunder, wenn es zu schanden geht? Wenn mich je das Glück oder Unglück träfe, daß ich sehr berühmt würde, so seien Sie mit Ihrer Freundschaft gegen mich vorsichtiger. Lesen Sie alsdann meine Schriften und lassen Sie den Menschen im übrigen laufen.«
»Welche Timonslaune, bester Freund!« sagte Karoline lächelnd. »Ich kann nicht glauben, daß das Wohlwollen, diese eigentliche Grundsäule der Menschheit, so leicht einstürzen könne und daß das menschliche Wesen sich so ganz in Ruhmsucht und Eitelkeit auflöse. Ich hoffe, Sie sollen mir immer lieb bleiben können, ungeachtet aller Berühmtheit. Wie diese bisher an Ihnen noch nichts verdorben hat, so wird sie es auch in der Zukunft nicht tun. Ihrem inneren Dasein werden diese Dinge nie etwas gelten, hoffe ich, und das Zerreißen unserer Freundschaft denke ich mir gern aus dem Bereiche der Möglichkeit hinaus.«
Nach einer Pause setzte sie noch hinzu:
»Über Goethe kann ich eigentlich sehr wenig sagen, da ich ihn so gar selten gesehen habe und ihn mehr nur aus den Erzählungen anderer kenne. Es kann sein, ich habe ein unrichtiges Bild von ihm. Das aber bleibt mir doch immer wahr, daß man ihm nur seines Genies wegen vieles vergeben kann, und auf das Vergebenmüssen kommt man am Ende doch immer mit den Menschen. Aller Umgang müßte sonst aufhören. Die rein umschriebene Form der Menschheit, die sich in jeder Lage des Lebens graziös bewegt und nie von der Schönheitslinie abweicht – wo ist sie?«
Aber die »schönen Tage von Aranjuez« – damals war diese Redensart noch nicht trivial geworden – gingen vorüber, und mit dem Blätterfall kam die Zeit des Scheidens. Seine literarischen Geschäfte und Verbindungen riefen den Dichter nach Weimar zurück, obgleich er die Stunde der Trennung soweit wie möglich hinausgerückt hatte.
Die drei guten Menschen, welche sich so innig verstanden und zugetan waren, hatten verabredet, daß sie sich, nachdem der Dichter im Lengefeldschen Hause bereits sozusagen offiziellen Abschied genommen, noch einmal da treffen wollten, wo sie sich an den Sommerabenden so oft begegnet waren. Demzufolge gingen die beiden Schwestern im bleichen Lichte der Novemberabendsonne hinaus an die Brücke über den Waldbach, wo der Freund ihrer schon wartete.
Sie wandelten mitsammen unter den halbentlaubten Bäumen des Saaleufers hin. Der Fluß rauschte, vom ersten Schneefall angeschwollen, trübe zu ihren Füßen.
»Wie melancholisch die Landschaft ist, die doch kaum noch so grün und sonnenhell aussah,« bemerkte Karoline. »Sie stimmt nur allzusehr zu unseren Gefühlen, bester Freund, denn ich sehe mit wehmütiger Genugtuung, daß Sie so wenig gern von uns gehen, als wir Sie ziehen lassen. Wie schön war diese Zeit unseres Zusammenseins! Ach, so schön, daß ich, weil sie nun unwiederbringlich dahin, fast wünschen möchte, sie wäre nie gewesen.«
»Nein,« entgegnete Schiller. »Wir wollen uns, meine Teuren, diesen Sommer nicht reuen lassen, ob er gleich vergangen ist. Er hat unsere Herzen mit seligen Empfindungen bereichert, er hat unsere Existenz verschönert und das Eigentum unserer Seele vermehrt. Was mich betrifft, mich machte er glücklicher als alle, die ihm vorhergegangen sind. Er wird mir noch wohltun in der Erinnerung und die liebe, holde Notwendigkeit, denke ich, soll ihn noch oft und immer schöner für mich wiederbringen. Dank Ihnen für soviele Freuden, die Ihr Geist, Ihr Herz, Ihre liebevolle Teilnahme an meinem Wesen mich hat genießen lassen. Und lassen Sie der schönen Hoffnung uns freuen, daß wir etwas für die Ewigkeit angelegt haben. Diese Vorstellung habe ich mir frühe von unserer Freundschaft gebildet, und jeder neue Tag hat ihr mehr Licht und Gewißheit bei mir gegeben.«
»Ich verstehe Ihre Absicht, teurer Freund, uns dadurch, daß Sie unserer Freundschaft für Sie einen höheren Wert beilegen, an das Bleibende dieses Verhältnisses zu erinnern und uns so über das Schmerzliche des Augenblickes hinwegzuhelfen.«
»Und warum, beste Freundinnen, sollten wir uns diese Trennung schwerer denken und machen, als sie ist? Die Vorstellung unserer Wiedervereinigung steht schnell und heiter vor mir. Alles soll und wich mich darauf zurückführen. Alles wird mich an Sie erinnern und mir teurer sein durch diese Erinnerung. Möchte ich Sie doch von meiner innigen Freundschaft so lebhaft überzeugt haben, als sie ein Teil meines Wesens geworden ist. Ja, meine Lieben, Sie gehören zu meiner Seele, und nie werde ich Sie verlieren, als wenn ich mir selbst fremd werde.«
Indem der Dichter bei diesen Worten seine Blicke von Karoline zu Lotte hinübergehen ließ, glaubte er zu bemerken, daß die gesenkten Wimpern des Mädchens feucht seien. Auch Frau von Beulwitz machte diese Wahrnehmung, und als Lotte, wie um sich der Beobachtung zu entziehen, sich abwandte, flüsterte ihre Schwester dem Freunde zu: »Sagen Sie Lolochen noch ein gutes Wort« und trat dann zurück, um ihm dazu Gelegenheit zu geben.
»Teure Lotte,« sagte er, »Sie sind den ganzen Abend her so still gewesen, als machte es Ihnen Mühe, mich freundlich zu entlassen und mir zu sagen, daß Sie, wie ich zu hoffen mich erkühne, auch in der Ferne meiner wohlwollend gedenken werden.«
»O, glauben Sie das nicht, lieber Freund,« versetzte sie mit sanftem Erröten und bemüht, mit ruhiger Fassung zu sprechen. »Aber warum sollt' ich es leugnen, daß der lange gefürchtete Moment, welcher nun gekommen, mich traurig macht? Noch sehen wir mitsammen dieses Tal, diesen Fluß, diese Berge, und morgen soll dies alles nicht mehr so sein? Mögen immer gute und frohe Geister Sie umschweben, teurer Freund.«
»Ich nehme Ihren Wunsch als ein gutes Omen dankbar an, liebe Lotte. Aber werden Sie mir gerne von Ihnen Nachricht nach Weimar geben und mich dem Gang Ihrer Seele auch abwesend folgen lassen?«
»O, gerne, gerne! Ich möchte Ihnen sagen, wie lieb mir Ihre Freundschaft ist und wie sie meine Freuden erhöht. Aber ich hoffe, Sie fühlen es ohne Worte. Sie wissen, daß ich wenig Worte finden kann, meine Gefühle zu erklären und sie anderen deutlich zu machen. Aber glauben Sie, daß ich nicht weniger den Wert Ihrer Freundschaft zu schätzen weiß. Lassen Sie so oft, wie Sie können und Lust haben, von sich hören, damit der Gang Ihres Geistes mir nicht fremd wird und ich nach Maßgabe meiner Kräfte ihm folgen kann. Und so leben Sie wohl, so wohl, als ich es wünsche, und – und denken Sie gern meiner und oft.«
»Das brauchen Sie mir nicht erst zu empfehlen,« entgegnete der Dichter. »Wie oft und gerne wird es geschehen!«
Damit reichte er Lotten und ihrer inzwischen wieder herbeigetretenen Schwester die Hände hin und sagte noch:
»Adieu! Adieu! Noch einmal Dank, tausend Dank für die vielen, vielen Freuden, die Ihre Freundschaft mir hier gewährt hat. Sie haben, teure Freundinnen, viel zu meiner Glückseligkeit getan und immer, glauben Sie mir, werde ich das Schicksal segnen, das mich hierher geführt hat.«
Damit trennten sie sich an dem Weg über den Waldbach, wo Schiller zurückblieb, um den nach der Stadt gehenden Schwestern nachzusehen. Schon wollte sie eine Biegung des Weges seinen Blicken entziehen, als sich Lotte noch einmal nach dem Freunde umwandte.
Es war nur ein flüchtiges Zurückwenden, aber dennoch gab es dem Dichter auf seinem Heimgange viel zu denken.