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»Regimentsfeldscherer Schiller, Er hat sich heute abend um vier Uhr im Schlosse zu Hohenheim zur Audienz bei Sr. Durchlaucht zu melden.«
Der Regimentschef, General Augé, sprach das so kalt unfreundlich, wie er sonst dem Dichter gegenüber, den er wohl leiden mochte und dem er manches nachsah, nicht zu sprechen pflegte. Der ominöse Befehl wurde dadurch noch ominöser. Aber vollzogen mußte er werden, da half nun schon nichts dagegen.
So stieg denn Schiller nachmittags die steile Steige nach Degerloch hinauf und wandte sich von diesem Ort aus linkshin nach Hohenheim hinüber.
Seine Stimmung auf diesem Gange war um so düsterer, als er, von den Nachwehen einer heftigen Grippe noch nicht befreit, auch körperlich leidend war. Wir sagen »auch«, denn sein Geist litt noch mehr. Sein Gemüt war voll nagender Unruhe.
Verschiedene Begegnisse hatten ihm in letzter Zeit die Seele verwirrt und getrübt.
Die Abreise Raleighs, der einen Abstecher in die Schweiz machte und von dort nach Amerika heimkehren wollte, hatte eine schwer empfundene Lücke in dem Dasein des Dichters verursacht. Er hatte sich so sehr an den trefflichen Freund gewöhnt, daß ihm jetzt dessen Gegenwart auf Schritt und Tritt mangelte, und das Gefühl dieses Verlustes wurde noch peinlicher dadurch, daß er überzeugt sein mußte, William habe – obgleich derselbe seit jener Szene unter der Klosterlinde von Lorch seine frühere männliche Ruhe und Fassung wieder vollständig gewonnen zu haben schien – eine tiefe Herzenswunde aus dem alten Schwabenlande mit fortgetragen.
Mitten in der schmerzlichen Aufregung über das Scheiden des Freundes hatte er mit Eifer nach einem ihm gebotenen Mittel der Zerstreuung gegriffen. Die Frau von Wolzogen, welche ihm ein mütterliches Wohlwollen bezeigte, hatte den Wunsch geäußert, einer Darstellung der »Räuber« beizuwohnen. Auch Schillers Hauswirtin, die Frau Hauptmännin Vischer, wollte mit von der Partie sein, und so wagte er zum zweitenmal, ohne einen Urlaub nachzusuchen, dessen Verweigerung er voraussah, nach Mannheim zu gehen. Diese mit den genannten beiden Damen unternommene Reise hatte ihm viel Genuß bereitet, aber die Nachwirkungen derselben waren nur um so bitterer. Er hatte sich abermals von dem gewaltigen Eindruck seines Stückes auf das Publikum überzeugt und durfte sich ohne Scheu einem erhöhten Selbstgefühl überlassen. Mannheim und die ganze Pfalz hatte ihm bei diesem Besuch noch besser gefallen als beim ersten. Es schien ihm dort eine mildere Luft zu wehen als daheim. Er hatte wahrzunehmen geglaubt, daß dort ein Hauch griechischer Lebensheiterkeit die Gemüter durchziehe und sie empfänglich mache für die Offenbarungen des Schönen durch die Poesie. Die Fernen stehen ja stets verklärt. Der Gedanke war in ihm aufgestiegen, die Heimat zu verlassen, welche nun einmal doch seinem Talente weder Licht noch Raum zur Entwickelung gewähren wollte, und sich in der Pfalz eine neue, seinem ganzen Wesen mehr zusagende Existenz zu gründen. Er hatte darüber mit dem Freiherrn von Dalberg, dem Leiter des kurfürstlichen Theaters zu Mannheim, gesprochen. Er hatte denselben seine ganze Lage aufgedeckt, hatte auf sein der Vollendung entgegengehendes zweites Trauerspiel, auf den »Fiesko« hingewiesen, hatte angedeutet, er würde auch seinem Berufe als Arzt mehr Geschmack abgewinnen können, falls er denselben als freier Mann in der Pfalz statt in der soldatischen Zwangsjacke in Stuttgart ausübte. Er hatte in Dalbergs Blicken, in Dalbergs Händedruck reges Mitgefühl und unverhohlene Billigung seiner Absichten zu erkennen gemeint; aber er wußte nicht, daß der Freiherr eine jener schwankenden Gönnernaturen war, deren Eitelkeit es zwar höchlich kitzelt, wenn sie sich den Anschein geben können, ein Talent »entdeckt« zu haben und zu »protegieren«, die jedoch sich ängstlich davor hüten, ihre Protektion so weit zu treiben, daß sie sich dadurch irgendwie kompromittieren könnten. Wenn daher Schiller im Drang seiner Seele gegen Dalberg äußerte, er lege sein ganzes Schicksal vertrauensvoll in die Hände desselben, so bewies er eine Naivität, deren hochgespannte Erwartungen bald genug getäuscht werden sollten.
Bei seiner Zurückkunft aus Mannheim, als zu seinen Sorgen noch körperliches Unwohlsein gekommen war, hatte er mißmutige Vergleichungen zwischen jener Stadt und Stuttgart angestellt. Dort war er der gefeierte Dichter gewesen, hier war er wieder der unbeachtete oder gar der gehudelte Feldscherer, gegen knappen Sold zum Mitmachen von allerlei militärischer »Alfanzerei« gezwungen. Ging er nach der Solitude hinauf, so fehlte es von seiten des Vaters nicht an strengen Vorhalten und Verweisen, und wenn er gegenüber der Mutter in seiner Ungeduld ein Wort davon verlauten ließ, daß er sich, koste es, was es wolle, seiner schwäbischen Fesseln entledigen müsse und werde, so verstand zwar die Gute den Mißmut des Sohnes besser als der Vater, aber sie wußte ihn doch nur unter Tränen zu ermahnen, sich in Geduld zu fassen und ihr nicht dadurch das Herz zu brechen, daß er sich ins Unglück stürze. Am besten wußte das ganze Peinliche seiner Stellung seine gemütsstarke und tieffühlende Schwester Christophine zu würdigen. Das edle Mädchen, welches dem von ihr grenzenlos geliebten Bruder in Gesichtszügen und Charakter ähnlich war, hatte ihm unlängst zur Antwort auf seine Klagen das mutige Wort gesagt: »Lieber Fritz, die Welt ist weit, und ihr Männer habt vor uns den unermeßlichen Vorteil voraus, überall zu Hause zu sein.« Das war ein besserer Trost gewesen, als er bei den Symposien der »Bande« im Ochsen holen konnte. Er fühlte sich dem burschikosen Treiben nachgerade entwachsen. Seine Erlebnisse in Mannheim, sein Umgang mit Raleigh und dem Sammetdoktor, sein Ausflug ins Oberland, seine literarische Korrespondenz hatten ihm allmählich den Blick in größere und bedeutendere Verhältnisse geöffnet, und bei diesen erweiterten Anschauungen kam ihm das kraftgenialische Treiben seiner akademischen Freunde mitunter schon recht schal und unersprießlich vor.
Zu alledem gesellte sich noch die mißliche Gestaltung seines Verhältnisses zu seinem fürstlichen Landesherrn und Gebieter, in welchem er gewissermaßen auch seinen Erzieher anerkennen mußte. Die Erziehung des Dichters war allerdings nicht sehr nach den Wünschen des hohen Pädagogen ausgefallen, und man konnte auch nicht sagen, daß der Herzog sich sehr angegriffen habe, Schiller bei dessen Austritt aus der Akademie eine Stellung zu verschaffen, welche den Versprechungen entsprochen hätte, die er den Eltern des Dichters seinerzeit gemacht hatte. Dessenungeachtet ist es wahr, daß Karl dem jungen Stürmer noch einige Zeit nicht nur mit Aufmerksamkeit, sondern auch mit Teilnahme zusah. Das titanische Genie seines Zöglings konnte und wollte er freilich weder verstehen noch schätzen, aber dennoch schmeichelte es seiner Eitelkeit nicht wenig, daß auch ein Poet aus seiner Akademie hervorgegangen. Hätte sich der arme Poet nur nach der Schnur des herzoglichen Geschmackes ziehen lassen! Aber daß Schiller seine eigenen Wege ging, das mußte dem despotischen Sinne des Fürsten, der für die allerwärts sich kundgebenden Freiheitsregungen unter den Völkern weder Auge noch Ohr hatte, ein Greuel sein. Sein Mißfallen, schon durch die Tendenz eines Stückes, wie die »Räuber« waren, höchlich erregt, war kürzlich noch gesteigert worden durch verschiedene Gedichte in der Anthologie, die nicht nur die Schillersche Chiffre führten, sondern die volle Signatur vom Geiste des Dichters der »Räuber« trugen. So hatte insbesondere die zornsprühende Ode »Die schlimmen Monarchen« dem Herzog wie Hochverrat und Rebellion geklungen. Außerdem hatten allerlei Zuträgereien und Hetzereien den Fürsten mit den zwei ohne Urlaub unternommenen Ausflügen des Dichters nach Mannheim, ins »Ausland«, und mit noch anderem bekannt gemacht, was seinen Zorn reizte. Daher meinte er denn, es sei hohe Zeit, einzugreifen und dem jungen Tollkopf von Poeten zu zeigen, wer sein Herr und Meister sei. Um dem Herzog gerecht zu werden, muß man sagen, daß er sich zu solchem Eingreifen nicht allein berechtigt, sondern auch verpflichtet glaubte. Er handelte dabei ganz genau nach den Grundsätzen des sogenannten patriarchalischen Despotismus, welcher von den Rechten der Persönlichkeit keine Vorstellung hatte. Zu keiner Zeit noch sind die Forderungen individueller Freiheit und die Ansprüche absoluter Despotie so nahe und unvermittelt nebeneinander oder einander gegenüber gestanden wie im achtzehnten Jahrhundert. Maßlosigkeit hüben und drüben.
Wir brauchen nicht zu sagen, daß der Gang nach Hohenheim für Schiller ein schwerer war. Er ahnte, was die Vorladung zu bedeuten habe: er sah einen Sturm fürstlichen Zornes und fürstlicher Ungnade voraus, und er zeichnete sich ein Benehmen vor, welches die dem Herzog schuldige Ehrfurcht einhalten sollte, aber ohne Selbsterniedrigung. Der Dichter hatte sich schon zu sehr mit dem Gedanken vertraut gemacht, sein Heimatland mit dem Rücken anzusehen, als daß er gewillt gewesen wäre, sich irgendwie zu erniedrigen, um sich in Württemberg eine erträgliche Existenz zu schaffen. Trotzdem ging er der Audienz, zu welcher er kommandiert worden, nicht ohne lebhaftes Bangen entgegen. Wußte er doch, daß Karl in den Paroxysmen seines Jähzorns noch immer der ärgsten Gewaltsamkeiten fähig wäre.
Auf dem stillen Landsitze des Fürsten angekommen, meldete er sich, wie ihm befohlen worden, auf der Adjutantur, erhielt aber aus dem herzoglichen Kabinette den Bescheid: »Soll warten bis zum Abend.« Da er so noch mehrere Stunden vor sich hatte, ging er in den Park, welchen Bau- und Gartenkunst im Verein zu einer der großartigsten Anlagen dieser Art in Europa gemacht hatten. Der sinnreichste Wechsel von Erfindungen der Architektur, Skulptur und Hortikultur breitete sich vor der herrlichen Fassade des Schlosses auf einer weiten, sanftgeneigten Fläche aus, bis hinüber zu dem Dorfe Plieningen und noch weiter, so weit, daß man sich der Täuschung überlassen konnte, nur die fern herüberblauenden Berge der Schwäbischen Alb bildeten die Grenzmarken dieser prächtigen Gärten. Der Dichter hätte müssen keiner sein und die Elastizität der Jugend schon verloren haben, wenn er nicht im Genusse des schönen Sommerabends in solcher Umgebung die bedrohliche Ursache seines Hierseins so ziemlich vergessen hätte. Er ließ die Reize des Ortes zuletzt ganz unbefangen auf seine Sinne und sein Gemüt wirken. Er fand, daß dieses Hohenheim, welches die Idyllik einer großbäuerlichen Landwirtschaft mit allen Launen fürstlicher Prachtliebe vereinigte, eine sehr eigentümliche Schöpfung sei, eigentümlich auch darin, daß alle diese Pracht sich doch gewissermaßen ganz prunklos darstellte und bei Abwesenheit alles höfischen und militärischen Getümmels und Wirrwarrs die Weihe ländlicher Stille und Einsamkeit trug.
In jene vagen Träumereien versenkt, aus deren Nebelhüllen hervor oft plötzlich Gebilde voll Größe oder Anmut vor das Dichterauge treten, hatte sich Schiller in entferntere Partien des Parkes verloren, und schon hatte Phöbus, nach dem schönen Ausdruck eines altenglischen Poeten, Lebewohl gesagt an Blatt und Blüte, als er sich des Zweckes seines Hierseins wieder erinnerte. Die Mondsichel hing silbern im leichten Sommernachtgewölke und machte den Dichter auf die vorgerückte Abendzeit aufmerksam. Er erschrak und ging eilends dem Schlosse zu.
Wie er aber, bei demselben angelangt, die Fassade entlang auf das Portal zuschritt, dessen Säulenschäfte den großen, nach den Gärten hinausschauenden Balkon tragen, machten ihn Sprachlaute, welche von dort herabklangen, stillestehen. Er unterschied die Stimme des Herzogs und eine weibliche, die ihm ebenfalls bekannt vorkam. Oder war das nur eine Täuschung? Gewiß, es konnte nur eine solche sein, und doch – eine dritte Stimme, gleichfalls die einer Frau und dem Dichter auch bekannt klingend, mischte sich von Zeit zu Zeit beschwichtigend in den Streit der beiden andern.
Denn um einen Streit handelte es sich.
Der Dichter, von einer natürlichen Neugier getrieben, näherte sich dem Balkon so weit, daß er das Gespräch deutlicher vernehmen konnte.
Der Park lag ruhig in der Mondlichtdämmerung. Im Schlosse war auf der Gartenseite nur da und dort ein Fenster erhellt. Überall herrschte Stille, so daß man in den Gärten die Springbrunnen rauschen, die Nachtigallen schlagen, die Grillen zirpen hörte. Aber mit diesem Frieden der Natur schien das Gespräch, welches in dem runden Salon, der auf den Balkon hinausgeht, geführt wurde, nicht zu harmonieren. Es mußte im Gegenteil dort stürmisch hergehen.
Wenn der lauschende Dichter seine Augen über das Blätterwerk von wilden Weinpflanzen erhob, deren Ranken an den Säulen empor sich wanden und droben die steinerne Brustwehr des Balkons unter der grünen Fülle ihres Laubwerkes verschwinden ließen, so konnte er auf den weißen Seidengardinen der hohen Türfenster einen von dem Kerzenlichte drinnen verursachten schwarzen Schatten hin und her gleiten sehen, wie von einer in dem Gemache heftig auf und ab wandelnden Person. Er hörte auch, denn der Flügel einer der Fenstertüren stand halb offen, den schweren Tritt eines gestiefelten Männerfußes und erkannte darin das Auftreten des Herzogs. Aber er hörte noch mehr.
»Ich sag', das ist Wahnwitz, purer Wahnwitz!« rief droben der Fürst aus. »Alberne Romane haben dir den Kopf verrückt, törichtes Kind! Aber ich werde dafür sorgen, daß du kuriert wirst. Ja, das werd' ich, verlaß dich darauf. Und zum ersten verbiet' ich dir jetzt, weiter zu reden. Ich sag', du schweigst, hörst du?« »Sie haben mir nichts mehr zu verbieten, noch etwas zu gebieten,« entgegnete eine Altstimme, die, obgleich offenbar im höchsten Affekt sprechend, dennoch seelenvollsten Klanges war. »Sie sind schon lange nicht mehr mein Herr. Die Sklavin hat die Fesseln Ihrer Launen, Ihrer Gunst oder Ungunst zerrissen. – Ich bin frei wie die Luft!«
»Wie eine Närrin, willst du sagen.«
»O, ich weiß, man wird immer närrisch gescholten, wenn man den Tyrannen die Wahrheit sagt.«
Ein zorniges Aufstampfen des Herzogs machte den Horcher drunten auf die Gefahr seiner Lage aufmerksam. Wie, wenn der Fürst einen Blick durch die halboffene Glastüre warf und den Lauscher bemerkte, der eine so verfängliche Unterredung mit anhörte? Die altwürttembergische Untertanenangst, noch erhöht durch ein Gefühl der Scham über seine Horcherei, bemächtigte sich des jungen Mannes so gewaltig, daß er auf den Fußspitzen über den freien Rasenplatz vor dem Balkon hinweglief und dann in die erste beste Allee hineinstürmte, geflügelten Laufes, als wäre der Feind hinter ihm.
Während so der Poet durch ein Labyrinth von Bosketten, Alleen, Blumenbeeten, Gewächshäusern, griechischen Tempeln, römischen Bädern, Grotten und Einsiedeleien hinfloh, belauschte nur noch der Mond den Fortgang der eigentümlichen Szene in dem Balkonzimmer.
Die klangvolle Altstimme sagte wieder:
»Mein Auftrag ist erfüllt. Herzog von Württemberg, ich habe die Bestellung, die mir meine arme Mutter hundertmal aufgetragen, die sie mir, als die mörderische Kugel sie getroffen, noch mit röchelnder und im Tode brechender Stimme in die Seele prägte, treulich ausgerichtet. Ich habe den Fluch Ihres Opfers in Ihre Ohren geschmettert, und, ich sehe es an ihrer Wut, er haftet in Ihrer Brust. Mögen Sie es versuchen, darüber zu lachen, wenn Sie es können. Und wenn Sie es versuchten, von der eisigen Höhe Ihrer eingebildeten Unverletzlichkeit herab, und wenn Sie zu dieser Stunde sich sagten: Die Rachegöttin schläft! – dennoch wird eine andere Stunde kommen, wo sie ihr Erwachen furchtbar Ihnen kundgibt. – O, es ist so leicht, im Despotentaumel der Allmacht Frevel auf Frevel zu häufen. Aber früher oder später, in der Helle des Tages oder im Grauen der Nacht, richtet sich doch das Gewissen, der bleiche Mahner, in lautloser Schrecklichkeit vor dem stolzen Sünder auf und seines gespenstigen Fingers Deuten macht den Rausch der Sicherheit zerstieben. – Ah, das Gewicht meiner Worte erdrückt Sie? Vergeblich ist Ihr Bemühen, mir Ihr Beben zu verbergen. Hinter der roten Maske ihres Zorns erblicke ich Ihre blasse Seelenangst. – O, meine Mutter, du bist gerächt!«
»Wahnsinniges Geschöpf!« schrie der Herzog wütend auf. »Was hindert mich, dich zu Staub zu zermalmen?«
Zugleich hörte man ein Geräusch wie von einem gewaltsam zu Boden geschleuderten Geräte und dann den Ton einer mit wütender Hast gezogenen Glocke.
In diesem Augenblicke wurde die Balkontüre aufgerissen.
Eine weibliche Gestalt stürzte heraus, schwang sich mit Gedankenschnelle über die Balustrade, glitt mit der Behendigkeit eines Eichhorns an dem Weinrankengewinde einer der Säulen herab, flog über den Rasenplatz hinweg und hatte sich schon in dem Baumdunkel des Parkes verloren, als der Herzog an die Brustwehr des Balkons voreilte.
»Die Rasende!« rief er mit halberstickter Stimme aus. »He, holla, Trabanten, Läufer! Wo sind die Leute vom Dienst? Alles soll mit Fackeln in den Park!« »Nicht so, gnädigster Herr,« sagte eine Frau, die hinter den Fürsten getreten war und ihm jetzt beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte. »Warum einen Eklat machen? Was sollten die Leute denken? Das offenbar halb verrückte Kind kann Ihnen nicht entlaufen, wenn man in aller Stille den Beamten der umliegenden Bezirke die nötigen Befehle zukommen läßt.«
Der Herzog wandte sich heftig um, aber er sah in die Augen der Gräfin von Hohenheim, die stets einen sänftigenden Zauber auf ihn übten.
»Du hast recht, Franziska,« erwiderte er. »Ich will sogleich die nötigen Orders ausfertigen.«
Dann fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und fügte fast tonlos hinzu:
»Das war eine üble Stunde. Das Mädchen blickte wie eine Furie – wie – doch, bah, fort damit!«
»Aber warum sich überhaupt weitere Ungelegenheiten mit dem Wildfang machen?« fragte die Gräfin. »Haben Sie, mein teurer Herr und Gebieter, nicht die leidige Erfahrung machen müssen, daß alle Ihre Güte und, ich darf es wohl sagen, auch die meinige an eine Undankbare weggeworfen war? Und nun vollends diese Szene!«
»Ja, es war affrös. Der sinnloseste Undank!«
»Am Ende wäre es das klügste gewesen, sie damals mit dem Venezianer laufen zu lassen.«
»Nein und abermals nein! – Sie muß parieren lernen, ich sag', sie muß! Ich will sie bändigen, ich sag', ich will!«
Inzwischen hatte sich Schiller von seinem panischen Schrecken wieder erholt. Indem er sich im Gewinde der Alleen zu orientieren suchte, kam ihm seine Flucht so lächerlich vor, daß er bei sich gelobte, von diesem Abenteuer die »Bande« nichts erfahren zu lassen, denn er glaubte schon Petersens und Kapffs schlechte Witze über sein »Auskneifen« zuhören. Er schlug den Rückweg nach dem Schlosse ein, dessen erleuchtete Mittelfenster in der Ferne durch die dunkeln Baumgruppen schimmerten.
»Es wird die höchste Zeit sein, den Kelch dieser Audienz zu leeren, welcher ja doch kaum an mir vorübergehen dürfte,« brummte er in sich hinein und beschleunigte seine Schritte.
Plötzlich stand er überrascht. Beim Heraustreten aus einem dichten Boskett sah in dem bleichen Mondlicht eine weibliche Gestalt gerade auf sich zueilen.
Ein gegenseitiger Ruf des Erstaunens entführ ihm und der Kommenden im gleichen Augenblick.
»Lauretta!«
»Schiller!«
Sie kam rasch auf ihn zu und ergriff seine ihre dargebotene Hand.
Ihre Augen leuchteten, in vom eiligen Gehen losgebundener Üppigkeit fielen ihre prächtigen Haare an den glühenden Wangen auf die marmornen Schultern und den herrlichen Busen nieder, dessen ungestümes Klopfen seine leichte Hülle verräterisch halb verschoben hatte.
»Ihnen, mein, Freund, muß ich hier noch begegnen?« sagte sie mit geflügelter Zunge. »Was tun Sie hier?«
Er konnte nur sagen: »Ach, Lauretta!« und blickte sie dabei vorwurfsvoll an.
»Ah, ich verstehe Sie,« sagte sie hoch aufatmend. »Sie zürnen mir, weil ich in Gotteszell nicht auf Ihr und des Ritters aus Atlantis rettendes Erscheinen gewartet habe? Aber das Warten ist nun einmal nicht meine Liebhaberei. Vollends in diesem Augenblicke nicht! Daher nur noch ein Wort. Ich habe soeben eine Mission erfüllt, die ich erfüllen mußte. Jetzt schüttle ich den Staub dieses Landes von meinen Füßen, hoffentlich für immer. Und Sie, Poet, sollten das auch tun, hören Sie! Hier, unter dieser pedantischen Tyrannei, gedeihen Ihre Ideale nicht. Weg mit dieser garstigen Livree, die Ihre Gestalt verunstaltet, weg mit dem altwürttembergischen Zopf! Sie, gerade Sie, mein Freund, bedürfen der Luft der Freiheit, um zu wachsen. Wollen Sie Ihren Genius unter dem Druck von all diesem ärmlichen Kram verkümmern lassen? Nein! Dem wagenden Sinne gehört die weite Welt, und auch dem Dichter gehört sie. Seine wahre Heimat ist überall und nirgends, sein Wohnsitz nur das Universum. Leben Sie wohl und Glück auf!«
Sie zog ihre Hand aus der seinigen und wandte sich, zu gehen.
Aber plötzlich kam sie noch einmal zurück. Von traumhaft seliger Überraschung durchschauert, fühlte er ihre Arme um seine Schultern sich schlingen, ihre Brust an der seinigen pochen, ihren Kuß auf seinen Lippen brennen und – weg war sie.
Das war gekommen und gegangen wie ein Blitz.
Er spähte umher, er lauschte, aber der schöne, wilde Flüchtling war spurlos verschwunden und, nur die Wasserkünste rauschten eintönig durch die Stille der Nacht, und wie drohend befehlend schimmerten die Lichter vom Schlosse herüber.