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Die würdige Hausfrau hatte Sorge getragen, daß die Besuchsstube erst ordentlich gelüftet und dann gehörig geheizt wurde. Auch ward in der Küche zum Tee eine Extratorte bereitet, wobei, wie unsere Quelle will, Lottchen die Hände tätig mit im Spiele hatte. Hierauf beschränkten sich die Zurüstungen zum Empfang der Gäste, denn unsere Väter hatten vor uns unter anderem auch das voraus, daß sie sich gesellig mitsammen freuen konnten ohne allen den weitschichtigen Apparat, den wir bei jeder Gelegenheit in Bewegung setzen zu müssen glauben.
Um aber ganz gewissenhaft zu sein, müssen wir sagen, daß Frau von Lengefeld noch einer Privatvorbereitung oblag, denn sie war, wie schon angedeutet worden, eine ziemlich umständliche Dame. Sie nahm daher einige Verschönerungen an ihrem häuslichen Anzuge vor, und insbesondere wurde eine schneeweiße, vielbebänderte Haube mit großer Genauigkeit auf ihre etwa anderthalb Fuß, hohe Frisur gesetzt. Die gute Dame huldigte nämlich in Sachen des Kopfputzes noch der strikten Observanz damaliger Hofmode, während ihre beiden Töchter ihren Haaren schon jene revolutionäre Freiheit verstatteten, welche die Flechten ohne künstliche Zusätze auf den Nacken niederfallen ließ. Sind wir recht unterrichtet, so hatten zu dieser Entfesselung der Frauenhaare insbesondere die »wallenden Locken« der Heldinnen Ossians das einflußreiche Vorbild abgegeben.
Mit Wilhelm von Wolzogen eingetreten, seinem Freund und Studiengenossen von der herzoglichen Militärakademie in Stuttgart her, wurde Schiller von dem Schwiegersohn der Hausfrau artig empfangen. Herr von Beulwitz war ein gewiegter Hofmann, etwas trocken und kaustisch in seiner Redeweise, aber nicht unzugänglich und keineswegs ohne Empfänglichkeit weder für die zeitbewegenden Ideen noch für die Träger derselben. So fand sich Schiller um so leichter in den Herrn Hofrat, als er selbst keineswegs mehr der unbeholfene und eckige Jüngling vom Jahre 1781 war.
Seit wir den Dichter nicht mehr gesehen, sind nahezu dritthalb Jahre über seinen Scheitel dahingegangen. Er war jetzt ein Achtundzwanzigjähriger. Seine edle Gestalt hatte sich zu ihrer ganzen Höhe entwickelt, seine Physiognomie war zu einem bestimmten Ausdruck gereift, zu jener anziehenden Mischung von genialer Würde und milder Freundlichkeit, welche ihm so vieler Menschen Zuneigung gewann. Sein Äußeres verriet den Gentleman, wenn es gestattet ist, mit diesem vielbezeichnenden englischen Ausdruck die Erscheinung eines Mannes zu charakterisieren, welche im Benehmen und Anzug das Bewußtsein verrät, daß dem Manne von Bildung überall auch äußerlich eine gewisse Wohlanständigkeit gezieme, Eleganz ist freilich Schillers Sache nie gewesen, aber seine Frisur war geordnet, sein brauner Rock neu und seine Wäsche – wofür die Frauen bekanntlich einen scharfen Blick haben – untadelhaft weiß, wenn schon da und dort ein Schnupftabakskorn auf der Spitzenkrause, des Vorhemdes nicht weggeleugnet werden konnte.
Der Dichter hatte in den letzten Jahren mit vielerlei Menschen verkehrt und war allmählich in der Fremde heimisch geworden. Wohnte ihm wohl eine größere Fähigkeit inne, sich unter Fremden weltbürgerlich zurechtzufinden, als sonst seinen Landsleuten zu Gebote zu stehen pflegt, oder aber machte ihn die eigene Welt, die er in der Seele trug, gleichgültiger für die landschaftlichen Unterschiede als andere Schwaben? Wir nehmen das letztere an, um so unbedenklicher, als die weltbürgerliche Richtung von Schillers Genius durch die Veröffentlichung des »Don Karlos« gerade unlängst ihre erste, ebenso entschiedene als glänzende Offenbarung vollzogen hatte.
Er war, wie wir gesehen, von Mannheim nach Sachsen gekommen auf die Einladung edler Menschen hin, die dem Dichter den Tribut ihrer Bewunderung nicht nur in Worten entrichten wollten. Obenan unter diesen Freunden stand Körner, eines herrlichen Sohnes trefflicher Vater. Er und seine Braut Minna empfingen den Gastfreund wie eine beste Gabe des Glückes, wie einen geliebten Bruder, und es bildete sich in Leipzig und Dresden um den Heimatlosen ein Freundeskreis, wo er sich wohl und gut fühlte. Das mancherlei Mißbehagen, in welches ihn die Mannheimer Theaterwirren geworfen hatten, löste sich, und wenn es auch an allerhand inneren und äußeren Bedrängnissen nicht fehlte, so gelangte seine Seele doch wieder in »süßen Einklang mit sich selbst«. Er sah sein Streben von guten Menschen dankbar, ja enthusiastisch anerkannt, und seine Schöpferkraft fühlte sich dadurch zu neuer Tätigkeit angeeifert. Er durfte sich gestehen, daß er etwas vermöge und etwas zu bedeuten habe unter den Menschen, und daher weht auch ein voller Hauch von Unsterblichkeitsahnung in dieser brieflichen Äußerung aus jener Zeit: »Wenn ich mir denke, daß in der Welt vielleicht mehr solche Zirkel sind, die mich unbekannt lieben und sich freuten, mich kennen zu lernen, daß vielleicht in hundert und mehr Jahren, wann mein Staub schon lange verweht ist, man mein Andenken segnet und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt, dann freue ich mich meines Dichterberufes und versöhne mich mit Gott und meinem oft harten Verhängnisse.«
Von einem solchen zu sprechen hatte unser Dichter gewiß das Recht. In Wahrheit, nur ein so hochedler Geist wie der seinige vermochte die gemeine Not des Lebens, die ihn oft so zudringlich umringte, so standhaft und heiter zu ertragen, daß sie, statt ihn zu bändigen, wie »im wechsellosen Scheine« unter ihm lag. Die Werke Schillers gewinnen an sittlicher und künstlerischer Würde und Bedeutung, wenn man erwägt, daß sie nicht im Sonnenschein des Glückes, sondern in der rauhen Luft der Widerwärtigkeit gereift sind. So dichten, wie er tat, das konnte nur ein wesentlich guter Mensch. Seine Größe als Dichter ist recht eigentlich aus seiner Größe als Mensch erwachsen, und daher hat jene geniale Frau, die Tochter Neckers, schon vor vielen Jahren das richtigste Urteil über Schiller gefällt, indem sie sagte, das Gewissen sei seine Muse gewesen. Jawohl. Niemals hat es ein Mann von Genie mit seiner Arbeit so ernst genommen wie Schiller, und so ist er denn auch mehr geworden als ein bloßer Poet und Künstler, ein Prophet nämlich und Lehrer der ganzen zivilisierten Welt.
Im Dorfe Gohlis, zu welchem man von Leipzig aus in nördlicher Richtung, das »Rosental« durchwandernd, gelangt, da steht noch das Häuschen, in welchem Schiller nach seiner Ankunft in Sachsen herbergte und das Hohelied »An die Freude« dichtete. Später in Dresden der Gast Körners, hatte er in dessen Weinberghaus beim Dorfe Loschwitz am rechten Ufer der Elbe Wohnung genommen. Da war »Don Karlos« in seiner jetzigen Gestalt vollendet worden. Aber während des Dresden-Loschwitzer Aufenthaltes war auch der letzte Sturm jugendlicher Leidenschaft über des Dichters Herz gefahren, vielleicht der gewaltigste. Zu jenen beiden Frauengestalten, Lauretta und Lolo, denen wir unsern Dichter leidenschaftlich zugewandt sahen, hatte sich eine dritte gesellt, eine Henriette Elisabeth, deren bezaubernde Schönheit die phantastische Glut der Lauraoden-Zeit in Schiller noch einmal zur hellen Flamme anfachte. Besorgte Freunde hatten das Unheil erkannt, daß dieses Feuer leicht zu einem Brand werden könnte, welcher des Dichters Zukunft vorweg verzehren würde, und so hatten sie ihn gedrängt, den Schauplatz einer so drohenden Gefahr zu verlassen. Schiller hatte in sich die Kraft gefunden, diesen Rat anzuerkennen und sich loszureißen. Er war der freundlichen Einladung Wielands gefolgt, nach Weimar zu kommen und Mitarbeiter am »Deutschen Merkur« zu werden, welche Zeitschrift durch Schillers Beiträge bekanntlich den Höhepunkt ihres Ansehens erreichte. Er hatte die berühmte Musenstadt an der Ilm mit der lebhaftesten Spannung betreten, aber wie gut er auch von Wieland, Herder und andern – Goethe war damals in Italien – aufgenommen wurde, es wollte sich dort für ihn zuvörderst noch kein recht erquickliches und ersprießliches Verhältnis gestalten. Nur um so weniger vielleicht, als er da auch wieder mit Lolo zusammengetroffen war, deren leidenschaftlich gespannte Natur nur schwer oder gar nicht in den Ton ruhiger Freundschaft sich hineinzufinden wußte. Schiller litt darunter und es war ihm daher eine rechte Erleichterung, gewesen, als er mit seinem Freunde Wolzogen den Ausflug nach Bauerbach machen konnte, von wo er jetzt über Rudolstadt nach Weimar zurückkehrte. Auf dieser Rücklehr hatte er auch Meiningen berührt und dort die geliebte Schwester Christophine begrüßt, welche inzwischen die Frau seines Freundes, des Bibliothekars Reinwald, geworden war. Und nun zum Text zurück.
Herr von Beulwitz, in den Kreisen von Weimar wohlbewandert, fragte den Dichter nach Neuigkeiten von dort und erfreute den Gast mit seinem richtigen Urteil über weimarische Personen und Zustände. Wolzogen seinerseits nahm an diesem Gespräche nur sehr oberflächlich teil und blickte fortwährend unruhig nach der Türe, durch welche die Damen eintreten sollten.
Der junge Edelmann hatte guten Grund dazu, denn er war seiner Base Karoline mit tiefster Herzensneigung zugetan, welche zwar keineswegs so warm, wie er es wünschte, erwiderte wurde, dennoch aber zuletzt über alle Hindernisse triumphierte. Denn was der liebende Vetter gegenwärtig noch gar nicht zu hoffen wagte, sollte nach Jahren in Erfüllung gehen. Die geliebte Base reichte ihm später, nach friedlich bewerkstelligter Scheidung von Beulwitz, die ersehnte Hand.
Endlich kamen die Damen, und obwohl es Wolzogen heftig drängte, zu einem Gespräche mit Karoline zu kommen, kannte er doch Frau von Lengefeld viel zu gut, als daß er unterlassen hätte, die Einführung Schillers in aller Form zu bewerkstelligen. Der Zeremonientik der Hausfrau fand an dem ehrerbietigen Anstand, womit der Dichter den Förmlichkeiten genugtat, ein großes Wohlgefallen, und sie benahm sich gegen ihre Gäste mit einer Freundlichkeit, welche das Zusammensein sofort sehr behaglich machte.
Die Gesellschaft war zu klein, um sich in einzelne Gruppen aufzulösen, und plauderte daher recht gemütlich mitsammen. Am stillsten war Lotte. Es lag überhaupt nicht in ihrem Wesen, sich vorzudrängen, und heute hatte sie überdies genug damit zu tun, den Eindruck der Erscheinung des Dichters sich zurechtzulegen. Vortretend war dabei in ihr das Gefühl der Verwunderung, daß sie an dieser Persönlichkeit bei der Begegnung in Mannheim so unachtsam habe vorübergehen können. Karoline ihrerseits beschäftigte sich um so lebhafter mit Schiller, als sie jede ungewöhnliche Annäherung ihres Vetters Wolzogen vermeiden wollte, und was den Dichter betrifft, so war er gesprächig und in hohem Grade liebenswürdig. Das machte, er fühlte sich schon in der ersten Viertelstunde in diesem Kreise so heimisch, wie es ihm lange nicht begegnet war.
Wolzogen, welcher jetzt noch nicht wußte, daß er später Hofmann und Diplomat werden sollte, setzte seine Verwandten von seiner Absicht in Kenntnis, nach Paris zu gehen und sich dort in seinem Fache, in der Architektur, weiter auszubilden. Beulwitz wünschte ihm Glück dazu und versprach ihm die günstigsten Eindrücke von der Weltstadt. Aber der junge Mann versetzte:
»Ich fürchte, Ihre freundlichen Wünsche dürften kaum in Erfüllung gehen. Gehe ich doch mehr mit einem geheimen Bangen als mit freudiger Erwartung dem Aufenthalt in der großen Kapitale entgegen. Mir ist, der Wirrwarr des modernen Babylon müßte mich nur stören und verwirren, und am Ende könnte die bunte Vielerleiheit der Eindrücke nur Überdruß zum Resultate haben.«
»Wie deutsch-idyllisch!« sagte Schiller scherzend und fuhr dann ernster fort, unwillkürlich, wie es seine Art war, in eine sententiöse Weise hineingeratend: »Wer Sinn und Lust für die große Menschenwelt hat, muß sich, wie ich glaube, in dem weiten großen Element von Paris gefallen. Wie klein und armselig sind unsere bürgerlichen und politischen Verhältnisse dagegen! Aber freilich muß man Augen haben, die an großen Übeln, welche unvermeidlich miteinfließen, kein Ärgernis nehmen. Der Mensch, wenn er vereinigt wirkt, ist immer ein großes Wesen, so klein auch die Individuen und Details ins Auge fallen. Darauf eben, dünkt mich, kommt es an, jedes Detail und jedes einzelne Phänomen mit diesem Rückblick auf das Ganze, dessen Teil es ist, zu denken. Wie holpericht und höckericht mag unsere Erde von dem Gipfel des Gotthard aussehen, aber die Bewohner des Mondes, falls es solche gibt, sehen sie gewiß als eine glatte und schöne Kugel.«
»Vortrefflich philosophiert, liebster Freund,« entgegnete Wolzogen. »Schade nur, daß ich mir in bezug auf Paris nicht eines Mondbewohners Auge zutrauen darf. Du hast ein solches, so ein philosophisches Auge, und daher erneuere ich nochmals alles Ernstes meinen Vorschlag, daß du mit mir nach Paris gehen mögest. Ich bin überzeugt, der Aufenthalt in jener Stadt müßte dich vielfach fördern.«
»Vielleicht, lieber Wilhelm, vielleicht aber auch nicht. Ich habe einen unendlichen Respekt vor diesem großen, drängenden Menschenozean, aber es ist mir auch wohl in meiner Haselnußschale. Mein Sinn, wenn ich einen dafür habe, ist nicht geübt, nicht entwickelt, und solange mir das Bächlein Freude in meinem engen Zirkel nicht versiegt, so werde ich von diesem großen Ozean ein neidloser, ruhiger Bewunderer bleiben. Und dann, um doch recht ins Gelag hineinzuphilosophieren, dann glaube ich, daß jede einzelne ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die größte Menschengesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der größte Staat ist ein Menschenwerk, der Mensch ist das Werk der unerreichbaren großen Natur. Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls, aber der Mensch ist ein notwendiges Wesen, und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig als durch die Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, nur ein Gedankenwelt, aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst und der Schöpfer des Gedankens.«
Frau von Lengefeld, welche von dieser abstrakten Richtung des Gespräches nicht sehr erbaut sein mochte, führte die Unterhaltung auf realeren Boden zurück, und ihr Schwiegersohn unterstützte sie darin, indem er eine gelegentliche Äußerung Wolzogens über Weimar benützte, um dieses Thema festzuhalten.
Frau von Beulwitz, welche mit Lolo befreundet .war, fragte den Dichter nach dem Gehaben der Freundin, aber die Antwort lautete ziemlich unbestimmt und ausweichend. Mit dem seinen Takt ihres Geschlechtes ließ daher Karoline den Gegenstand fallen und gab, die Rede auf bedeutende Persönlichkeiten der Musenstadt lenkend, dem Dichter Gelegenheit, sich freier auszusprechen.
»Wieland,« sagte er unter anderem, »ist jung, wenn er liebt. Er ist noch immer der Dichter der Grazien. Man kann aber nur durch ein Gedränge kleiner und immer kleinerer Kreaturen von lieben Kinderchen zu ihm gelangen. Sein Äußeres hat mich überrascht. Was er ist, hatte ich nicht in diesem Gesichte gesucht, doch gewinnt es sehr durch den augenblicklichen Ausdruck seiner Seele, wenn er mit Wärme spricht.«
»Sie haben auch Herders Bekanntschaft gemacht?« fragte Beulwitz. »Ist es wahr, daß seine Persönlichkeit neuestens einen starken Anflug von – von – wie soll ich sagen? von theologischer Essigsäure bekommen hat?«
»Davon habe ich nichts wahrgenommen,« erwiderte Schiller. »Herder hat mir sehr behagt. Er ist ein Mensch aus einem Guß, kernhaft, knorrig, ein rechter Eichenmann. Seine Empfindungen bestehen in Haß und Liebe, aber seine Unterhaltung ist voll Geist, Stärke und Feuer. Er reißt einen unwiderstehlich mit sich fort, auch da, wo man ihm widersprechen möchte.«
»Das dürfte kaum angehen, mein lieber Herr Rat,« sagte Beulwitz mit seinem trockenen Lächeln. »Der gute Generalsuperintendent von Weimar soll ein größeres Gefühl der Infallibilität in sich tragen als zehn Päpste. Ich habe mir auch sagen lassen, Herder und seine Frau lebten neuestens in einer egoistischen Einsamkeit und bildeten zusammen eine Art von heiliger Zweieinigkeit, von der jeder Profane ausgeschlossen sei.«
»Medisance, lieber Freund,« bemerkte Karoline, »weiter nichts. Wir hören von Frau von Stein, daß Weimar dermalen sehr in Gefahr sei, ein recht boshaft kritischer Ort, um nicht zu sagen, ein Klatschnest zu werden.«
»Hm, ma chére,« entgegnete der Hofrat, »zu dieser übeln Meinung von Weimar dürfte die gute Frau von Stein wohl durch den Klatsch bewogen worden sein, welchen ihr dienstfertige Zungen über die poetischen Lizenzen, die sich ihr Herzensfreund Goethe in Rom nähme, zu Ohren brachten.«
»Das mag sein,« sagte Schiller, »aber gewiß ist, daß jedermann in Weimar Goethes Abwesenheit sehr empfindet und bedauert. Herr von Knebel erwies mir die Ehre, mich im letzten August mit der Elite der Weimarer Gesellschaft zur Feier des Geburtstages von Goethe in dessen Garten einzuladen. Wir konnten aber zu keiner rechten Fröhlichkeit kommen, und Wieland gab der allgemeinen Stimmung Worte, indem er in seiner etwas überschwenglichen Weise sagte, es fehle eben dermalen dem Weimarer Leben seine Zentralsonne, der Wolfgang, dessen Geburtsfeier wir begingen.«
»Es wäre doch jammerschade,« meinte die Frau vom Hause, »wenn alle die mancherlei Hoffnungen, welche durch das Zusammenleben so bedeutender Menschen in Weimar geweckt wurden, schon welk wären. Zwar konnte sich nicht jedermann mit den Ausschreitungen der Weimarer Geniewirtschaft befreunden, aber abgesehen davon, mochten doch alle Empfänglichen nah und fern die belebenden Einflüsse eines solchen erhöhten Lebens empfinden.«
»Gewiß, gnädige Frau,« versetzte der Dichter. »Ich selbst erinnere mich mit Lust der bedeutenden Wirkung des genialischen Treibens in jenem Kreise, als ich in weiter Ferne zuerst davon Kunde erhielt. Gegenwärtig freilich herrscht eine gewisse Ebbe in der Stimmung der Weimarer Gesellschaft. Es fehlt ihr im ganzen, scheint mir, ein kräftiges Ferment. Im einzelnen jedoch bietet sie noch immer viel des Erfreulichen, Förderlichen, und beim augenblicklichen Mangel des Genialischen mag man mit dem Komischen vorlieb nehmen. Habe ich doch selbst gleich in den ersten Tagen meines dortigen Aufenthalts eine spaßhafte Episode erlebt.«
Man fragte, und Schiller erzählte:
»Ich sitze gerade, Briefe zu schreiben, als an meine Türe geklopft wird, und auf mein Herein! tritt ins Zimmer eine kleine, spindeldürre Figur, krumm und sehr gebückt, in grüngelber Weste und weißem Frack. – Habe ich nicht das Glück, fragt die Figur, den Herrn Rat Schiller vor mir zu sehen? – Der bin ich, ja. – Ich habe gehört, daß Sie hier wären, und konnte nicht umhin, den Mann zu sehen, von dessen ›Don Karlos‹ ich eben komme. – Gehorsamer Diener, mit wem habe ich die Ehre? – Ich werde nicht das Glück haben, Ihnen bekannt zu sein. Mein Name ist Vulpius. – Ich bin Ihnen für diese Höflichkeit sehr verbunden und bedaure nur, daß ich mich in diesem Augenblicke versagt habe und eben im Begriffe war, auszugehen. – Ich bitte sehr um Vergebung. Ich bin zufrieden, daß ich Sie gesehen habe. Dann ein unbeschreiblicher Bückling und, husch, war die Figur zur Türe hinaus.«
Man lachte.
So liebt, mit unserem Dichter zu sprechen, die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen. Denn, lieber Leser, du mußt wissen, die komische Figur in grüngelber Weste und weißem Frack war keine geringere Person als jener große Bulpius, der nachmals nicht nur Goethes Schwager, sondern auch Verfasser des »Rinaldo Rinaldini« wurde, ein Mann also, dessen Unsterblichkeit noch heutzutage bei Ladendienern, Köchinnen, Unteroffizieren und sogar bei Gymnasiasten nicht ganz sterblich geworden sein dürfte.
Ein schöner, Friedrich den Großen zu Pferde darstellender Kupferstich, welcher Schillers Stuhl gegenüber an der Wand hing, fesselte seine Aufmerksamkeit, und da er die Beziehungen der Familie zu dem großen König durch Wolzogen erfahren hatte, erwies er der Frau vom Hause die von dieser wohlgewürdigte Artigkeit, die Rede darauf zu bringen. Dies gab Veranlassung, über den berühmten Monarchen einläßlicher zu sprechen, um so mehr, da es sich herausstellte, daß die »Histoire, de mon temps« des königlichen Autors, wie den Dichter, so auch die Lengefeldsche Familie kürzlich lebhaft beschäftigt hatte. Schiller bemerkte über das berühmte Buch:
»So glaubwürdig und zuverlässig diese Quelle sein mag, so muß ich dennoch gestehen, daß ihr meines Erachtens noch manches zur befriedigenden Vollkommenheit fehlt. Die Voltairesche Manier, mit einem witzigen Einfall über erhebliche Details hinwegzuglitschen, ist nicht das Nachahmungswürdigste im historischen Stil. Im ganzen ist die Ansicht doch nur individuell, freilich in einem großen und vortrefflich unterrichteten Kopfe; aber die Kapricen, die den großen Friedrich in seinem handelnden Leben geleitet, haben auch seine Feder redlich geleitet. Die Rolle, die er seine Maria Theresia spielen läßt, ist fein angelegt aber nicht ohne Bosheit. Sie erinnern sich, daß er bei aller Mäßigung, die er sich gegen sie auferlegt zu haben scheint, nie unterläßt, sie als im Glücke übermütig zu zeigen. Dieser feine Kunstgriff wird aber zu häufig angewandt, so daß die Absicht nicht zu verkennen ist. Bei alledem aber muß das Buch als ein merkwürdiges und wahrhaft stärkendes anerkannt werden.«
Lotte sagte schüchtern:
»Der Blick, welchen der königliche Geschichtschreiber auf die Verfassung der verschiedenen Staaten tut, und das, was er von den Nationen sagt, hat mir viel Freude gemacht. Durch die Schlachtberichte aber und die langen Belagerungsgeschichten konnte ich mich nur schwer durchwinden.«
Sie hielt inne, allein ein ermutigender Blick des Dichters machte sie fortfahren:
»Ich glaube, Plutarch hat mich verwöhnt, daß ich vor der Tapferkeit unserer jetzigen Welt keine so große Ehrfurcht mehr habe. Es wäre schön, wenn wir solche Menschen aufzuweisen hätten, wie das Altertum sie besaß. An Geschichtschreibern würde es nichts fehlen. Wie schön würden nicht Sie, verehrter Herr Rat, ihre Taten uns darstellen, und noch lange würden sich die Menschen danach bilden; denn nichts ist größere Aufmunterung, als solche Vorbilder zu haben.«
Sie sagte das mit so ungeheuchelt herzlicher Offenheit, daß Schiller aufs wärmste davon berührt wurde.
»Ich machte die nämliche Wahrnehmung wie meine Schwester,« bemerkte Frau von Beulwitz. »Der Kontrast dieser Zeit zu den Zeiten von Plutarchs Helden ist gar so sonderbar. Ich kann mir's nicht nehmen, gegen jene gehalten kommt mir unsere Zeit vor wie ein Garten mit verschnittenen Alleen und Bäumen gegenüber einem schönen Eichwald. So eisern und eng erscheinen mir die Menschen im Leben des großen Königs.«
»Dürfte das,« fragte Schiller, »nicht daher rühren, daß Sage und Dichtung noch nicht Zeit gehabt haben, die Charaktere und Ereignisse der Zeitgeschichte mit den Forderungen unserer Phantasie in ein richtiges Verhältnis zusetzen?«
»Allerdings,« gab Karoline zurück. »Und da kommt mir ein guter Gedanke. Die Sage zwar hat an Friedrich dem Einzigen schon vielfach ihr Recht geübt. Tausend Anekdoten zeugen dafür. Aber die Dichtung hat dem Heldenkönig noch keinen Tribut dargebracht, der seiner Taten würdig wäre. Sollte es nicht Sie, ja gerade Sie, Herr Rat, anmuten, den König in betreff seines Vorurteils gegen die vaterländische Poesie noch im Grabe zu beschämen, indem Sie den Beweis lieferten, daß ein deutscher Dichter für seine Apotheose mehr tun könne als alle seine Franzosen zusammengenommen?«
»Verehrte Frau,« entgegnete der Dichter mit lebhafter Bewegung, »Sie überschätzen wohl in Ihrer Güte allzusehr mein Vermögen. Abgesehen aber hiervon, ist es ein mir bedeutsames Zusammentreffen, daß mich der Gedanke, Friedrich den Großen zum Helden eines epischen Gedichtes zu wählen, gerade in diesen Tagen vielfach beschäftigt hat. Auch über die Epoche aus Friedrichs Leben, die ich wählen würde, habe ich nachgedacht. Ich gäbe einer unglücklichen Situation den Vorzug, weil eine solche seinen Geist unendlich poetischer entwickeln ließe. Die Haupthandlung müßte womöglich sehr einfach und wenig verwickelt sein, so daß das Ganze immer leicht zu übersehen bliebe, wenn auch die Episoden noch so reichhaltig wären. Ich würde darauf ausgehen, immer des Königs ganzes Leben und sein Jahrhundert darin anschauen zu lassen. Freilich, ein episches Gedicht im achtzehnten Jahrhundert muß ein ganz anderes Ding sein als eins in der Kindheit der Welt. Das aber gerade ist es, was mich an dieser Idee so anzieht. Unsere Sitten, der Duft unserer Philosophie, unsere Verfassungen, Künste, häuslichen Einrichtungen, kurz alles muß auf eine ungezwungene Art darin niedergelegt werden und in einer schönen Freiheit leben, wie in der Ilias alle Zweige der altgriechischen Kultur anschaulich leben. Ich bin auch gar nicht abgeneigt, mir eine epische Maschinerie dazu zu erfinden, denn ich möchte alle Forderungen, die man an den epischen Dichter von selten der Form macht, haarscharf erfüllen. Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoffe, in einem so prosaischen Zeitalter, die größte Schwierigkeit zu haben scheint, kann das Interesse in einem hohen Grade erhöhen, wenn sie eben diesem modernen Geiste angepaßt wird. Es rollen allerlei Ideen darüber in meinem Kopfe trübe durcheinander, aber vielleicht wird sich noch etwas Helles daraus bilden.«
»Glück zu!« sagte Frau von Beulwitz mit schöner Teilnahme. »Lassen Sie uns hoffen, verehrter Freund, daß Ihr dichterischer Genius recht bald mit dem königlichen Friedrichs sich verbinden werde.«
»Sei mir dieses Wort ein Wort der Weihe! Aber, Verehrteste, manches Bedenken ist zuvörderst noch zu überwinden. Die Schwierigkeiten, die aus der so nahen Modernität des Stoffes entstehen, sind groß, und damit hängt dann auch die Frage zusammen, ob es überhaupt gestattet sei, die Gestalt Friedrichs aus der historischen Beleuchtung in die poetische hinüberzurücken. Die geschichtliche Figur des Königs, mit allen ihren Ecken, hat sich der Phantasie unserer Zeitgenossen so fest eingeprägt, daß es sie wahrscheinlich aufs heftigste empören müßte, wenn die Dichtung irgendwelche Veränderung daran vornähme.«
»Sollte dieses Bedenken wirklich von so großem Gewichte sein? Und wenn, müßte es nicht zu der Folgerung führen, daß es dem Dichter überhaupt verwehrt wäre, geschichtliche Erscheinungen zu behandeln? Das hieße aber, scheint mir, der Weltgeschichte und der Poesie gleichermaßen unrecht tun. Hegten wir wohl für die Helden und Heldinnen Homers das tiefe menschliche Interesse, welches sie uns einstoßen und den fernsten Geschlechtern einstoßen werden, falls nur eine trockene Chronik uns ihr Tun und Leiden überliefert hätte? Könnte eine aktenmäßige Darstellung des trojanischen Krieges und der Reiseschicksale des Odysseus den bildenden Einfluß auf die Nachwelt üben, welcher den homerischen Gesängen innewohnt. Gewiß nicht. Und dann, die Geschichte wird, dünkt mich, noch kein Roman, wenn einige Züge falsch sind, das heißt, Poetisch ausgeschmückt oder auch geradezu ersonnen. Die großen geschichtlichen Charaktere, die großen Taten, die großen Revolutionen bleiben doch immer wahr, und eine große Seele versteht ihren Geist auch in der Ferne. Im Anschauen wahrer Begebenheiten – und ich verstehe darunter sowohl tatsächlich als auch poetisch wahre – schwebt der Seele immer ein großer Reiz vor. Sie wird in den Strom der Begebenheiten hinein und von demselben in ferne Zeit gezogen.«
»Das ist's, verehrte Frau. Sie scheinen mir ganz richtig das Wesen der historischen Dichtung zu bezeichnen. Der Vorzug der realen Wahrheit, welchen die Geschichte vor dem Roman, dem Epos und Drama voraus hat, könnte jene allerdings über diese erheben. Aber es fragt sich, ob die ideale Wahrheit, die ich die philosophische und künstlerische nennen will und welche in jeder poetischen Darstellung in ihrer ganzen Fülle herrschen muß, nicht ebensoviel Wert hat als die historische. Daß ein Mensch in solchen Lagen so empfindet, sich ausdrückt und handelt, ist ein großes, wichtiges Faktum für den Menschen; und das muß der Dramatiker oder Romandichter leisten. Die innere Übereinstimmung mit der Geschichte, die Wahrheit wird gefühlt und verstanden, ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen sein muß. Der Nutzen ist unverkennbar. Mau lernt auf diesem Wege den Menschen und nicht den, Menschen kennen, die Gattung und nicht das so leicht sich verlierende Individuum. Auf diesem großen Felde ist der Dichter Herr und Meister. Der Geschichtschreiber dagegen ist oft in den Fall gesetzt, diese wichtigere Art von Wahrheit seiner historischen Nichtigkeit nachzusetzen oder wenigstens nur mit einer gewissen Unbehilflichkeit anzupassen. Ihm fehlt die Freiheit, mit der sich der Künstler mit schöner Leichtigkeit und Grazie bewegt.«
Unter solchen Gesprächen, die einerseits zeigen mögen, wie sich in Schiller mit dem Dichter allmählich mehr und mehr der Kunstphilosoph verband, und die andererseits ein gewiß nicht ungünstiges Zeugnis für deutsche Frauenbildung im achtzehnten Jahrhundert ablegen, verstrichen die Stunden des Abends schneller, als den Beteiligten lieb sein mochte. Ihr Gedankenaustausch hatte den Dichter und die beiden Schwestern einander rasch näher gebracht, denn auf beiden Seiten war lebhafte Strebsamkeit und ein edler Enthusiasmus, der namentlich in der Vorliebe für die antike Welt einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt fand. Schon die Teilnahme für die Helden Plutarchs, welche von seiten der Schwestern laut geworden, hatte für Schiller etwas wohltuend Anheimelndes. War es doch gerade damals, daß er eifrigst anfing, in dem ewigen Jungbrunnen des klassischen Altertums täglich Geist und Herz zu erfrischen.
Beim Aufbruch fand Wolzogen Gelegenheit, der geliebten Frau gegenüber seine Gefühle sprechen zu lassen. Karoline sagte ihm das schöne Wort:
»Wenn ich, lieber Vetter, eine Weltfrau von dem gewöhnlichen Schlage wäre oder eine Prüde, der alles Reine und Unschuldige verdächtig ist, weil sie selbst sich nicht rein fühlt, so könnte ich tun, als beleidigten mich zärtliche Empfindungen; aber mich, Ihre wahre und herzliche Freundin, mich schmerzt nicht der Ausdruck Ihrer Empfindungen; wohl aber machen mich dieselben für Sie besorgt. Warum wollten Sie sich der Leidenschaft überlassen, die so oft edle Herzen verzehrt und sie fühllos für alle Freuden des Lebens macht? Eine lange Laufbahn liegt vor Ihnen. An Ihnen ist es, sie zu einer schönen und glücklichen zu machen. Warum sollten Sie Ihnen und mir die Gegenwart verbittern und die Zukunft verdüstern? Nehmen wir geduldig und dankbar an, was die Götter geben.«
Inzwischen tauschten Schiller und Lotte Abschiedsworte, die beiderseitig den Wunsch des Wiedersehens enthielten.
»Gestatten Sie mir zu hoffen, gnädiges Fräulein,« sagte er, »daß dieser Abend den Grund gelegt habe zu der Berechtigung, mich Ihren Freund nennen zu dürfen. Mit dieser Vorwegnahme dessen, was, wie ich wohl fühle, erst verdient sein will, sage ich Ihnen Lebewohl.«
»Leben Sie wohl,« entgegnete sie, »recht wohl, wenn ich Sie hier nicht mehr sehen soll, und denken Sie freundlich meiner. Ich wünsche, daß es oft geschehe.«
Und gleichsam zur Entschuldigung dieses naiven Wortes setzte sie hinzu:
»Meine Freunde, alt oder neu, sind mir gleich lieb. Es war ja nicht der Wert der älteren, der mich sie früher schätzen lernte, sondern nur der Zufall, der mich eher ihre Bekanntschaft machen ließ.«
»Sie ehren und erfreuen mich,« erwiderte der Dichter, »indem Sie mich schon jetzt in die Zahl Ihrer Freunde einreihen. Lassen Sie das kleine Samenkorn der Freundschaft nur aufgehen. Wenn die Frühlingssonne darauf scheint, mag es zur Blume werden. Und wie danke ich Ihnen und den Ihrigen für die glücklichen Stunden, die mir in Ihrer Nähe zu verleben gegönnt war! Sie reichten aus, mich zu überzeugen, daß ich unter edlen Menschen wäre. Warum kann man solche glückliche Augenblicke nicht festhalten? Man sollte lieber nie zusammengeraten – oder nie mehr getrennt werden.«
Nachdem die Freunde gegangen, blieben die Schwestern noch allein mitsammen. Karoline war nachdenklich. Lotte äußerte unbefangen ihre Befriedigung über die Bekanntschaft mit dem Dichter.
»Wie seltsam,« sagte sie, »daß wir damals in Mannheim so achtlos an Schiller vorübergehen konnten.«
»Achtlos?« versetzte Karoline mit einer Betonung, welche Lotte die Schwester verwundert ansehen machte. Dann fügte sie ruhiger bei:
»Du hast recht, liebe Lotte, unsere damalige Unempfänglichkeit war wirklich seltsam. Ich erkläre mir sie aber daraus, daß unsere Seelen von den Wundern der Schweiz noch allzuvoll waren, als daß wir anderen Eindrücken zugänglich gewesen wären. Und außerdem, gehen doch die Menschen im Leben oft am Guten und Besten vorüber, ohne davon Notiz zu nehmen.«
»Was mir bei Schiller besonders angenehm auffiel,« fuhr Lotte fort, »war zweierlei.«
»Nämlich?«
»Zum ersten der Gegensatz seiner sanften Persönlichkeit zu den stürmischen Dichtungen, welche ihn berühmt gemacht haben. Zum zweiten die einfache, so ganz ungekünstelte Bescheidenheit, die einem in solchem Alter schon so berühmten Manne doppelt schön steht.«
»Vergiß auch nicht die angeborene Würde, die seine Erscheinung zu einer ganz königlichen macht. Wie bitter ist es, denken zu müssen, daß ein solcher Mann mit den gemeinen Nöten des Lebens zu ringen habe. Ach, wohl hatte er recht, wenn er unsere bürgerlichen und politischen Verhältnisse armselige nannte.«
»Aber, Line, war Homer nicht ein Bettler, und ist er nicht trotzdem der Lehrer der Menschheit geworden?«
»Weiß man, mit welchen Schmerzen er das erkauft hat?«
»Mit bitteren ohne Zweifel. Aber erst neulich, weißt du? haben wir im Shakespeare gelesen:
Süß ist die Frucht der Widerwärtigkeit,
Die gleich der Kröte, häßlich und voll Gift,
Ein köstliches Juwel im Haupte trägt.«
»Liebe Lotte, wärest du nicht eben meine liebe Lotte, ich könnte dich um deine unschätzbare Fähigkeit beneiden, alles im tröstlichen Lichte zu sehen.«
»Warum denn, Linchen, sollte ich unsern neuen Freund allzusehr darob beklagen, daß er dem Leben dessen Bedürfnisse abringen muß, da ich doch sehe, wie ihn diese Notwendigkeit nicht verschlechtert, sondern nur veredelt hat? Vetter Wilhelm teilte mir einen gar herzigen Zug von ihm mit, während die gute Mutter Schiller von den Beziehungen unseres seligen Vaters zu Friedrich dem Großen erzählte.«
»Einen herzigen Zug? Laß doch hören!«
»Ja, er hat mich recht gefreut. Fast noch mehr als Schillers ›Lied an die Freude‹, welches uns doch neulich so sehr entzückte.«
»Das herrliche Lied? Wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»O, es hängt mit meiner Geschichte ganz unmittelbar zusammen, wäre vielleicht ohne dieselbe gar nicht entstanden. Höre nur! Während Schiller in Gohlis bei Leipzig lebte und an seinem ›Don Karlos‹ schrieb, pflegte er sich durch einen Gang im Rosental in erster Morgenfrühe auf seine Tagesarbeit vorzubereiten. Auf einem dieser Gänge vernimmt er im Ufergebüsche der Pleiße eine leise Menschenstimme, die sich in einem Selbstgespräch, halb verzweiflungsvolle Klage, halb Gebet, Luft macht. Er dringt rasch durch das Buschwerk und findet einen Jüngling, welcher eben halbentkleidet in den Fluß springen will, Schiller wirft sich auf ihn, um den Selbstmord zu verhindern. Der Unglückliche, nachdem er seiner Bestürzung Meister geworden, erzählt seinem Retter, daß er ein armer Student der Theologie sei und seit einem halben Jahre nur trocken Brot gegessen habe. Jetzt aber seien seine bisherigen spärlichen Subsistenzmittel vollends gänzlich versiegt, und er müsse demnach langsam am Hunger sterben oder aber eine minder qualvolle Todesart wählen. Schiller gibt dem Armen alles Geld, welches er bei sich hat, spricht ihm tröstend zu und nimmt ihm das Versprechen ab, die nächsten acht Tage über nicht auf sein schreckliches Vorhaben zurückzukommen. Einige Tage darauf ist Schiller als Hochzeitsgast in ein reiches Leipziger Haus geladen. Mitten in der Fröhlichkeit des festlichen Kreises erinnert er sich da seines armen Theologen –«
Karoline, ahnend, was kommen werde, war ans Klavier getreten, schlug die Saiten an und sang leise:
»Göttern kann man nicht vergelten,
Schön ist's, ihnen gleich zu sein:
Gram und Armut soll sich melden,
Mit den Frohen sich erfreun –«
»Ja,« fuhr Lotte fort, »so war es auch. Schiller erhob sich und schilderte der frohen Tafelrunde sein Abenteuer im Rosental in begeisternder Weiset Dann ging er mit einem Teller rund um die Tafel und hatte die Genugtuung, zu erfahren, daß seine Erzählung die Börsen nicht weniger weit als die Herzen geöffnet habe. Noch am nämlichen Abend händigte er dem erstaunten und entzückten Studenten den schönen Ertrag dieses Bittganges ein, und in der Nacht habe er dann in seiner stillen Klause zu Gohlis das Lied an die Freude gedichtet.«
»Ich glaube es, von Herzen. Darum ist auch so ein voller Jubelton einer schönen Seele darin. Nur ein wahrhaft guter Mensch kann diesen unsterblichen Hymnus geschaffen haben.«
»So mutet er auch mich an. Gewiß, Schiller ist ein guter Mensch.«
»Sage: ein großer und ein guter!« versetzte Karoline mit schwärmerischer Innigkeit.