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Raleigh, des Freundes momentane Verbitterung begreifend und achtend, ließ es eine Weile anstehen, bis er, die drückende Pause zu beendigen, die Frage tat:
»Was macht der Verschwörer von Genua?«
Schiller schaute auf. Er verstand die wohlwollende Absicht des Freundes, ihn von unfruchtbarem Grübeln abzuziehen, und kam derselben sogleich freundlich entgegen.
»Was der Fiesko macht?« versetzte er. »Nun, ich denke, er verschwört sich brav.«
»Die Arbeit rückt also vorwärts?«
»Tüchtig, aber mit jedem Schritt steigern sich auch die Schwierigkeiten. Ich sehe wohl ein, wie gut es mein lieber Lehrer Abel mit mir meinte, wenn er mir riet, einen historischen Stoff zu behandeln. Er wollte damit meiner, wie er sich mit einer Anspielung auf meinen wilden Erstling ausdrückte, räuberischen Phantasie einen Kappzaum angelegt wissen. Aber wenn ich mich nun in die geschichtlichen Quellen vertiefe, aus welchen ich meinen Stoff geschöpft habe, sehen mich die Tatsachen so grau an, daß ich mir Gewalt antun muß, nicht alles umzumalen. Um ein poetisches Werk zu schaffen, muß ich meine Charaktere doch wohl von dem gemeinen Boden der Wirklichkeit in die Region des Ideals emporheben. Aber dann überkommt mich wieder die Furcht, der Geschichte ins Handwerk zu Pfuschen. Ich ahne freilich, was die echte historische Tragik leisten soll. Sie soll die Adern der Geschichte mit poetischen Säften schwellen. Allein ich fürchte, meine Künstlerschaft ist noch zu sehr von gestern und heute, als daß sie diese Aufgabe vollständig erfüllen könnte. Kurz, es ist noch kein rechter Fluß und Guß in dem Werk, obwohl ich mir auf einzelne Partien etwas einbilden möchte. Am meisten Not hab' ich damit, daß die von mir erfundenen Personen des Stückes noch nicht recht zu den historischen passen wollen.«
»Du hast das Stück wieder in Prosa geschrieben?«
»Ja. Hat uns doch Lessing durch seine ›Emilia Galotti‹ gezeigt, daß Melpomene auch in dem Gewande der Prosa mit höchster Würde einhergehen könne. Er wußte wohl, was er tat, als er dem weitbauschig-deklamatorischen Verse der französischen Tragödie seine knappgeschürzte dramatische Prosa entgegensetzte.«
»Aber seither hat er doch seinen herrlichen ›Nathan‹ in Versen geschrieben?«
»Er konnte es, weil edle Mäßigung ihm stets die Feder führt, und ich hoffe, die jambische Form des ›Nathan‹ werde in der Entwickelung unserer dramatischen Poesie ein bedeutsames Moment abgeben. Was aber mich betrifft, so getraue ich mir einstweilen noch nicht, ein Drama in Versen zu komponieren. Weißt du, ich habe die verwünschte Eigenheit, in Versen im Handumdrehen ins Überstiegene hineinzugeraten – hol's der Henker! – und so muß ich meinen dramatischen Pegasus einstweilen noch auf der Trense der Prosa reiten.«
»Du erwähntest vorhin der erdichteten Personen deines neuen Dramas – dabei fällt mir ein, daß mir dein Freund und Akademiegenosse, der Bibliothekar Petersen, sagte, es komme in dem Stück eine furchtbare Kokette vor, eine Donna Julia oder Gräfin – Gräfin – wart' mal –«
»Gräfin Imperiali.«
»Recht. Die sei aber nicht aus der Phantasie, sondern aus dem Leben gegriffen, meinte Petersen.«
»Wieso?«
»Er sagte, das Original der Donna Julia sei eigentlich das junge Mädchen in der Ecole des Demoiselles, Fräulein Lauretta.«
»Die Turbinella?«
»Ja.«
Es ist natürlich, daß ein junger Poet, wenn von einem seiner Werke die Rede, seine Aufmerksamkeit viel zu sehr diesem Gegenstande zuwendet, um auf anderes achtsam zu sein. Wäre dem nicht auch hier so gewesen, hätte Schiller unschwer bemerken können, daß sein Freund das Gespräch nicht ganz ohne Absicht auf die Turbinella lenkte.
»Der Petersen hat oft wunderliche Flausen im Kopfe,« bemerkte der Dichter arglos.
»So sagte Scharffenstein auch, allein Petersen blieb bei seiner Behauptung.«
»Das glaub' ich wohl; was der einmal im Kopfe hat, ist wie angenagelt. Du sollst aber binnen wenigen Wochen urteilen können, wie grundlos seine Meinung ist. Bis dahin wird, hoff' ich, der ›Fiesko‹ fertig sein. Ich mag dir das Stück nicht unfertig zum Lesen anbieten. Meine Kokette Julia ein Konterfei der Turbinella? Bah, dummes Zeug, dazu halt' ich das seltsame Mädchen denn doch zu hoch, viel zu hoch.« »Was soll eigentlich der sonderbare Name Turbinella?« »Die Frau Generalin von Wimpfen, welche über Lauretta noch jetzt eine Art Protektorat ausübt, gab ihn dem Mädchen, und man muß sagen, der Spitzname ist nicht ohne Grund gegeben. Das schöne Kind ist ein Wirbelwind, eine Windsbraut. Die gute Frau Oberstin Seeger hatte mit der Turbinella in der Ecole so große Not wie der Herr Oberst Seeger mit irgendeinem von uns Wildfängen in der Akademie.«
»Aber wer und woher ist sie denn eigentlich?« »Hm, das ist eine ziemlich romanhafte Geschichte. Ob alles wahr, was man sich davon erzählt, weiß ich nicht. Es heißt, Lauretta sei als kleines Kind bei einem Streifzug herzoglicher Landdragoner gegen eine Gaunerbande im Schurwalde aufgegriffen worden. Es habe bei dieser Gelegenheit eine Art Gefecht abgesetzt, und da sei die Mutter der Kleinen durch eine verirrte Kugel getötet worden. Der Herzog befand sich gerade in Göppingen, als das gefangene Gesindel dort eingebracht wurde. Der Anblick des Kindes habe ihn seltsam bewegt. Er sei dadurch an eine wilde Episode seiner wilden Zeit erinnert worden, die damals schon so ziemlich hinter ihm lag. Lauretta habe ihn an die Sizilianerin Laura Pastori erinnert, welche in der langen Reihe seiner italischen Buhlerinnen eine vortretende Rolle gespielt hatte. Die Sängerin und Tänzerin Pastori sei schön gewesen wie die Sünde und wild wie ein Panther. Der Herzog sei mit wütender Leidenschaft in sie verliebt gewesen, und man sagt, sie habe ihn lange schmachten lassen. Wenige Monate nachher wurde die vielbeneidete Odaliske eines Morgens mit bloßen Füßen, wie eine gemeine Straßendirne, zum Eßlinger Tore hinausgestäupt, ein Racheakt herzoglicher Eifersucht, die, motiviert oder grundlos, ihrer Wut keine Grenze setzen mochte. Später habe es sich herausgestellt, daß die Unglückliche, an welcher man diese Brutalität verübte, während sie sich in einem Zustande befand, der auch die verhärtetste Grausamkeit entwaffnen gesollt, völlig schuldlos gewesen. Sie war verschollen, und es war über die ganze Geschichte Gras gewachsen, als das im Schurwalde aufgegriffene Kind den Herzog wieder daran erinnerte. Leute, welche die Pastori, genannt La Bella, noch gekannt haben, wollen wissen, die Turbinella sehe derselben außerordentlich ähnlich; andere behaupten, sie habe in den und um die Äugen einen unverkennbar herzoglichen Zug. Was weiß ich? Genug, Herzog Karl brachte den Findling damals in seiner eigenen Kutsche nach Ludwigsburg und übergab dort die Kleine der Generalin von Wimpfen. Etwas später kam Lauretta hierher in die Ecole des Demoiselles und da hat sie bis heute gelebt, Mit Ausnahme der seltenen und kurzen Zwischenräume, die sie in Ludwigsburg bei der Generalin zubringen durfte, welche für diese Schutzbefohlene eine lebhafte Zuneigung gefaßt hat.«
»Die Geschichte hat allerdings einen romanhaften Anstrich. Aber was soll denn am Ende aus dem Mädchen werden?«
»Eine Künstlerin. Wenigstens lag das in des Herzogs Absicht. Du mußt wissen, seiner Ansicht zufolge soll die Ecole eine Ergänzung zur Akademie bilden. Es werden dort Töchter aus den besten Familien erzogen für das Leben in der großen Welt, aber auch arme talentvolle Mädchen für die bildenden und darstellenden Künste. Lauretta lernte alles, was dort gelehrt wird, und noch mehr mit wunderbarer Leichtigkeit. Ihr Aneignungstalent für Sprachen wird als ein beispielloses gerühmt. Sie zeichnet und malt vortrefflich, aber zum Entsetzen der Frau Intendantin fast ausschließlich nur boshafte Karikaturen; sie tanzt wie eine Elfin, singt wie ein Engel zum Klavier, zur Harfe und zur Laute. Summa Summarum: sie ist ein herrliches Geschöpf, aber rebellisch wie Luzifer und unstet wie Wind und Welle. Jeder öffentlichen Schaustellung ihrer Gaben und ihrer Kunstfertigkeit hat sie sich bisher mit unbeugsamer Entschiedenheit geweigert. Sie bietet selbst dem Herzog Trotz und, was noch merkwürdiger ist, er läßt sich von ihr Trotz bieten. Allen seinen im freundlichsten Tone gemachten Vorstellungen habe sie eine eisige Gleichgültigkeit entgegengesetzt. Es ist überhaupt die merkwürdigste Vereinigung von Glut und Frost in diesem Mädchen.«
»Du schilderst ein bizarres Wesen.«
»Bizarr? Ja, das ist das rechte Wort. Da wirbelt alles in atemlosem Wechsel durcheinander. Wenn noch soeben ihre Miene die einer Königin war, strahlend von unsagbarem Stolz, so gleicht im nächsten Augenblick schon ihr Gesicht dem einer Bacchantin, einer Mänade. Und auch wie Medusa soll sie blicken können. Du meinst, ihr Herz müsse ein Kristall sein, kühl, klar, spröde, und doch beginnt dieser Kristall mit einmal zauberhafte Liebesmelodien zu tönen, und aus den tiefblauen Augen des Mädchens sieht dich ein ganzer Himmel schuldloser Wollust an.«
»Du liebtest Lauretta, liebst sie noch!«
»Ich liebte sie. O, wie liebte ich sie! Es war ein Sturm, eine Raserei, eine Lohe der Leidenschaft, die mich zu Asche zu brennen drohte. Hast du meine Lauraoden nicht gelesen?«
»Wie sollt' ich nicht? Sie haben mir ein so großes Interesse für ihren Gegenstand eingeflößt, daß ich, weil ich dir ohnehin die Gedichte heute zurückgeben wollte, das Gespräch absichtlich auf die Turbinella lenkte. Da hast du deine flammenden Lieder!« Der Dichter blätterte in dem Hefte, welches der Freund aus der Brusttasche gezogen und ihm dargereicht hatte. Die Flammen, welche in diesen Liedern aufgelodert, waren schon niedergebrannt und von der Asche der Reflexion bedeckt. Aber wie er jetzt die Saiten anschlug, schien unter dieser Asche das alte Feuer wilder Schwärmerei wieder hervorschlagen zu wollen. Unwillkürlich fing er laut zu lesen an:
»Laura! Welt und Himmel weggeronnen«
Wähn' ich, mich in Himmelsmaienluft zu sonnen,
Wenn dein Blick in meine Blicke stimmt.
Ätherlüfte träum' ich einzusaugen,
Wenn mein Bild in deiner sanften Augen
Himmelblauem Spiegel schwimmt.
Leierklang aus Paradieses Fernen,
Harfenschwung aus angenehmern Sternen
Ras' ich in mein trunknes Ohr zu ziehn.
Meine Muse fühlt die Schäferstunde,
Wenn von deinem wollustvollen Munde
Silbertöne ungern fliehn.«
Amoretten seh' ich Flügel schwingen,
Hinter dir die trunknen Fichten springen,
Wie von Orpheus' Saitenruf belebt.
Rascher rollen um mich her die Pole,
Wenn im Wirbeltanze deine Sohle
Flüchtig wie die Welle schwebt.
Deine Blicke, wenn sie Liebe lächeln,
Könnten Leben durch den Marmor fächeln,
Felsenadern Pulse leihn,
Träume werden um mich her zu Wesen,
Kann ich nur in deinen Augen lesen:
Laura, Laura mein!
Wenn nun, wie gehoben aus den Achsen
Zwei Gestirn' in Körper Körper wachsen,
Mund an Mund gewurzelt brennt,
Wollustfunken aus den Augen regnen,
Seelen wie entbunden sich begegnen
In des Atems Flammenwind –
Eine Pause drohet hier den Sinnen –
Schwarzes Dunkel jagt den Tag von hinnen,
Lagert sich um den gefangnen Blick.
Leises Murmeln – dumpfer hin verloren –
Stirbt allmählich in den trunknen Ohren
Und die Welt tritt in ihr Nichts zurück.
Ha, daß jetzt der Flügel Kronos' harrte,
Hingebannt ob dieser Gruppe starrte
Wie ein Marmorbild – die Zeit!
Aber ach! ins Meer des Todes jagen
Wellen Wellen – über dieser Wonne schlagen
Schon die Strudel der Vergessenheit!«
Schiller war beim Vortrag dieser kraftgenialischen »Entzückung an Laura«, deren drei letzte Strophen er bekanntlich später verworfen hat, in eine immer pathetischere Deklamation hineingeraten.
Raleigh zog die Brauen finster zusammen und schien die Beute unangenehmer Empfindungen zu sein. Aber er bemeisterte sich und sagte, als der Dichter geendigt leichthin:
»Teurer Freund, verzeihe mir, wenn ich dich schulmeistere und einen Strahl kalten Wassers in deine Glut spritze. Aber in Wahrheit, du deklamierst schrecklich und kannst weder dein Organ noch deine Gesichtszüge beherrschen. Hüte dich, ich bitte dich, wenn du den Leuten einen Begriff von deiner Poesie beibringen willst, deine Gedichte selber vorzutragen. Du hast nicht den Schatten einer Idee von einem Schauspieler in dir.«
Des Dichters Stirne überflog eine flüchtige Röte des Zornes; aber schon im nächsten Augenblick lachte er gutmütig und versetzte:
»Donner und Doria! So sagt der verteufelte Petersen auch und die ganze Bande sagt so. 's muß was dran sein – Schwerenot! In der Akademie mußten wir zuweilen Komödie spielen, wirkliche Komödie nämlich. Da macht' ich mal den Clavigo. Je mehr ich aber die Zuschauer tragisch erschüttern wollte, desto wütender lachten sie. Der grobe Petersen sagte mir nach Beendigung des Stückes, ich wäre herumgefahren wie ein Esel, dem man brennenden Zunder ins Ohr gesteckt, und der Kapff wandte ein noch viel unsaubereres Bild auf mein Spiel an.«
»Laß dich das nicht verdrießen. Du bist eben keine Komödiantennatur. Dein Wesen ist durchaus auf das Ernste gestimmt, zum Erhabenen angelegt, auf die Wahrheit gerichtet. Aber sag' mir, wie ging es denn zu, daß du trotz der klösterlichen Klausur der Akademie die Bekanntschaft der Turbinella machen konntest?«
»O, das ging, wie dort alles, auf Kommando.«
»Auf Kommando? Warum nicht gar!«
»Und doch! Alljährlich zur Karnevalszeit werden die älteren Akademiker abwechselnd auf die Redouten im herzoglichen Opernhaus kommandiert, um da gesellschaftlichen Ton und Takt zu lernen, und jeder hat eine Dame aufzuführen, eine von den Demoiselles aus der Ecole. Natürlich bestimmt nicht die freie Wahl, sondern ebenfalls das Kommando, welche Demoiselle der und der Akademiker führen soll. Wir holten unsere Damen am Tore des alten Schlosses ab und geleiteten sie, in unsere Paradeuniformen gepreßt, in langem Zuge in den Ballsaal, wo unser Kommen immer große Heiterkeit hervorrief und den sich drängenden Masken zu einem ganzen Feuerwerk von guten und schlechten Witzen über uns Veranlassung gab. Sie hatten Stoff genug dazu, denn unser Auftreten war gewiß unsäglich hölzern, dämisch und ungeschickt. Wir gingen gewöhnlich stumm und dumm wie Automaten neben unseren Schönen her, die ihrerseits meistens auch ganz nonnenhaft still und verlegen waren. Zum zweiten Male, als ich auf die Redoute kommandiert wurde, hatte ich freilich eine Partnerin, die mich reden zu machen wußte.«
»Lauretta?«
»Ja. Mein Freund Hoven sollte ihr Begleiter sein, aber er wurde unwohl und so schob man mich an seine Stelle. Ich kriegte eine höllische Angst und war zugleich ungeheuer neugierig, denn es war von den wilden Possen und von dem originellen Wesen des schönen Kindes manches aus den Mauern des Schlosses heraus- und in die der Akademie hineingedrungen. Die Sache lief indessen viel besser ab, als ich zu hoffen gewagt hätte. Das machte meine aufgeregte Stimmung, welche mit der meiner Schönen einigermaßen Schritt halten konnte. Ich war, damals mitten in den ›Räubern‹ drin, und die Wogen meiner Seele gingen hoch. Die Turbinella schien zwar anfangs über die Figur des ihr zugeteilten Begleiters keineswegs erbaut zu sein, aber gerade ihr spöttisches Lächeln stachelte meinen Stolz, dem Jüngferchen zu zeigen, daß wenigstens kein dummer Junge an ihrer Seite ginge. Es gelang nicht übel, und so unterhielten wir uns schon auf dem Wege nach dem Redoutensaal ganz munter und kordial, was ein Ereignis war, denn unser Zug ging sonst mit der Stille eines Leichenbegängnisses vor sich. Was soll ich sagen? Ich war in die Turbinella verliebt, noch bevor wir den Redoutensaal erreicht hatten. Dort kam mir auch alles ganz anders vor als früher, alles viel schöner, prächtiger, berauschender. Aber was mich am meisten berauschte, war doch das wunderbar reizende Kind an meiner Seite, welches die liebenswürdigste Laune entfaltete. Wir tanzten. ›Himmel!‹ sagte meine Tänzerin nach der ersten Tour, ›Habt Ihr denn in der Akademie einen Elefanten zum Tanzmeister?‹ Ich parierte den Spott, welcher nur zu begründet sein mochte, durch ein enthusiastisches Kompliment und setzte keck hinzu: ›Lehren Sie mich tanzen, mein Fräulein; ich will mir Mühe geben, von dem Unterricht zu profitieren.‹ Mein Benehmen schien ihr nicht zu mißfallen. Sie machte mich plaudern und lachte herzlich über die Schnurren, womit wir den despotischen Zwang, unter welchem wir in der Akademie seufzten, uns erträglich zu machen suchten. Was mich angeht, ich wurde verliebt wie Amadis, wie Don Quijote, wie ein Narr in Folio.«
»Und dann?«
»Dann traf ich nach meinem Austritt aus der Akademie im Hause meiner verehrten Freundin, der Frau von Wolzogen, mehrfach wieder mit Lauretta zusammen. Du weißt, die genannte Edelfrau aus Franken hatte vier Söhne in der Akademie. Der älteste derselben, Wilhelm, war einer meiner besten Freunde geworden. Er führte mich später bei seiner trefflichen Mutter ein, welche häufig hierher kommt. Die Gräfin von Hohenheim ist ihre Gönnerin, die Generalin von Wimpfen ihre Freundin. Die Wolzogen – aber wart' mal, da fällt mir just eine kostbare Geschichte von einem der Brüder ein. Bei einer unserer feierlichen Prüfungen in der Akademie hatte sich ein Zögling bei Lösung einer mathematischen Aufgabe arg blamiert. Der anwesende Herzog rief ihm zornig zu: ›Scher Er sich zum Teufel und laß Er den Ludwig von Wolzogen an die Tafel!‹ Der Aufgerufene hatte gerade an ganz andere Dinge gedacht, wußte also gar nicht, wovon eigentlich die Rede war, und ergriff die Kreide mit dem bangen Vorgefühle, daß es ihm noch schlechter gehen werde als seinem Vorgänger. Da faßt er sich, der geringen Kenntnisse des Herzogs in der Mathematik sich erinnernd, plötzlich ein Herz und fängt aus dem Stegreif wütend an zu malen und zu demonstrieren, bis er endlich, durch eine ganze Legion von Sinus- und Kosinus-Quadranten hindurch, zu einer so einleuchtenden Schlußgleichung gelangt, daß dem Klassenlehrer und den Zöglingen die Haare zu Berge stehen, der Herzog aber, stolz, ein solches mathematisches Genie in seiner Akademie zu haben, den dreisten Kerl der ganzen Klasse als Muster vorstellt. O, wenn mal der Petersen mit seinen Anekdoten aus der Akademie, an welchen er schon lange eifrig sammelt, hervortritt, wird Deutschland was zu lachen haben. Hat dir noch keiner von der Bande den Schwank erzählt, welchen der Graf von Nassau mit der Gräfin von Hohenheim aufführte?«
»Nein.«
»Den mußt du kennen, 's ist der Beste, welcher je in der Akademie gespielt wurde, Schwerenot! Dieser Graf von Nassau war ein ganz unbändiger Junge und die Billetts regneten ihm von allen Seiten zu –«
»Die Billetts?«
»Nun ja, so hießen die verwünschten Sündenregister, welche die Sünder dem Herzog bei seinen Besuchen in der Akademie präsentieren mußten. Er diktierte dann höchstselbst die Strafen. Bei seinen Besuchen hatte er fast immer die Gräfin Franziska am Arme. Diese Frau, noch jetzt eine höchst anmutige Erscheinung, war die Göttin der Akademiker. War sie doch sozusagen das einzige weibliche Wesen, welches wir in unserer Klausur zu sehen bekamen. Was Wunder, daß wir so ziemlich alle in sie verschossen waren und um die Wette Verse auf sie machten? Kommt sie da auch eines Tages mit dem Herzog. Der Nassau hatte ihm, wie gewöhnlich, wieder ein ganzes Bündel Billetts zu überreichen. Karl las das lange Sündenverzeichnis und fragte dann den wilden Burschen: ›Sag Er mir, was würde Er nun wohl tun, wenn Er an meiner Stelle wäre?‹ Der Schlingel von Nassau, nicht faul, gibt der Gräfin von Hohenheim einen herzhaften Kuß, nimmt ihren Arm und sagt frischweg: ,Komm, Franzel, und laß den dummen Jungen stehen.!' Die Gräfin, purpurrot, konnte ein Lächeln kaum unterdrücken. Der Herzog, zwischen Zorn und Lachen über die beispiellose Unverschämtheit schwankend, hielt es am Ende für das Gescheiteste, gute Miene zum bösen Spiele zu machen, und entfernte sich eiligst mit seiner Dame, ohne eine Strafe zu diktieren. War das nicht groß von dem Nassau?«
»Gewiß. Um aber auf die Turbinella zurückzukommen – Du sahst sie bei der Frau von Wolzogen?«
»Ja. Sie kam dahin mit der Generalin von Wimpfen. Diese ist eine sehr lebhafte, joviale Französin, die Wolzogen eine Frau, welche sich für Kunst und Poesie, für alles Schöne und Edle lebhaft interessiert. Ich verlebte dort schöne Stunden und doch auch wieder peinvolle. Ich hörte Lauretta singen und musizieren und sog in vollen Zügen den Strahlenstrom in mich. O, wie litt ich, schwankend zwischen Himmel und Hölle, zwischen quälender Furcht und kühnster Hoffnung.«
»Sie ermunterte dich?«
»Zuweilen wähnte ich es glauben zu dürfen; aber dann trat an die Stelle freundlichen Bezeigens wieder ein sprödester, fast verletzender Stolz, durch welchen ich doch wieder leise Töne warmer Teilnahme hindurchzuhören meinte. Sie war manchmal gegen mich gut und lieb, aber dann sogleich, wieder ganz Turbinella, wetterwendisch wie der April. Zuletzt mußte ich mir unter Schmerzen gestehen, sie spiele mit mir wie mit allem und allen.«
»Aber deine Lauraoden?«
»Sind Gedichte, wilde Eingebungen einer aufgereizten Phantasie, Aufschreie toller Wünsche, denen nicht die kleinste Befriedigung zuteil wurde.« »Du meinst, Lauretta habe für dich nicht zärtlich gefühlt?«
»In Wahrheit nie, ich muß es glauben. Hätte sie mich wirklich geliebt, wie hätte ich aufhören können, sie zu lieben?«
»Du hörtest auf, sie zu lieben?«
»Ja. Ich bin ihr noch herzlich gut, meine lebhafte Teilnahme gehört ihr, ich könnte viel für sie tun, denn sie ist ein wunderbares Geschöpf, ich wiederhole es. Wenn man ein Stück von einem Poeten ist, so muß einen ein aus solchen Widersprüchen zusammengesetztes Wesen, halb Engel, halb Dämon, immer anziehen. Aber wenn ich mich jetzt aufrichtig prüfe, so muß ich mich fragen: War diese Lauraliebe nicht eine bloße Phantasie? – Liebe! Ei, was ist überhaupt Liebe? Ist dieses große Band der empfindenden Schöpfung nicht zuletzt nur ein glücklicher Betrug? Erschrecken, erglühen, zerschmelzen wir für das fremde, uns ewig nie eigen werdende Geschöpf? Gewiß nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf ist.«
»Teurer Freund, ich bewundere dein Vermögen, in dem Nachen philosophischer Abstraktionen über die Wogen der Leidenschaft so ruhig und sicher hinwegzusteuern.«
»Hm, mit der Ruhe und Sicherheit dürfte es trotz alledem nicht sehr weit her sein. Meine Resignation hat mich doch einen schweren Kampf gekostet. Allein hätte ich es vielleicht gar nicht zustande gebracht, meinen tollen Hoffnungen zu entsagen. Meine Mutter, der ich alles sagen darf, war mir auch in dieser Sache die treueste Helferin. Sie hat, scheinbar ohne alle Absicht, wie das ihre Art ist, in mir zu klarem Bewußtsein gebracht, was ich instinktmäßig fühlte, daß nämlich die Verbindung von Mann und Weib nur dann dauerndes Gluck gewähre, wenn dieselbe mehr, weit mehr auf ruhige Achtung und Freundschaft als auf stürmische Phantastik und Leidenschaft basiert ist.«
»Wie mein Freund? Du, der Dichter der ,Räuber' hegtest eine solche zahme, um nicht zu sagen eine solche philisterhafte Ansicht von der Liebe und ihrem Glück?«
»Ja, es mag dir wunderlich vorkommen, wie es mir zuweilen selber wunderlich vorkommt; aber es ist doch so. Ich kann mich für ein weibliches Original, für eine Heroine poetisch begeistern, aber ich möchte kein dauerndes Glück von so einem Wesen erwarten. – Mir kommt vor, daß die Frauen geschaffen seien, die liebe heitere Sonne auf dieser Menschenwelt nachzuahmen und ihr eigenes und unser Leben durch milde Sonnenblicke zu erheitern. Wir stürmen und regnen und schneien; das weibliche Geschlecht soll die Wolken zerstreuen, die wir auf Gottes Erde zusammengetrieben haben, den Schnee schmelzen und die Welt durch seinen Glanz wieder verjüngen. Wer weiß, was für große Dinge ich von der Sonne halte, wird glauben, daß dieses Gleichnis das beste ist, was ich von den Frauen habe sagen können.«
»Und auf Fräulein Lauretta, meinst du, passe dein Gleichnis nicht?«.
»Hast du noch nie einen recht wunderschönen Frühlingstag erlebt? Da ist alles Pracht und Glanz, Farbenschmelz und Blütenduft; aber plötzlich schwärzt sich der Himmel, der Sturm rast, Blitze zucken, Donner rollen, und aus den getürmten Wolken prasseln Hagelschauer verderblich auf die blühenden Fluren herab. So ist die Turbinella.«
Raleigh ließ es eine Weile anstehen, bis er die Erwiderung gab:
»Was tut das? Ich habe den Frühling gern mit all seinen Stürmen, Gewittern, Blitzen und Donnern. Ich – ich liebe die Turbinella.« Schiller schaute hoch auf.
Der Freund hatte das ruhig, so gleichmütig vorgebracht, und doch auch wieder so bestimmt!
Der Dichter hatte im ersten Augenblicke Lust, hell aufzulachen, aber als er den Ernst in Raleighs Mienen wahrnahm, hemmte er den Ausbruch seiner Fröhlichkeit und sagte ganz verblüfft:
»Du willst dir wohl einen Spaß mit mir machen? Wie könntest du sonst so kühl, so eiszapfig sprechen –«
»Teurer Freund, ich bin kein phantastischer Knabe mehr, war es eigentlich nie. Ich habe ein zu großes Stück Welt und Menschenleben gesehen und zu Ernstes erlebt, um nicht sagen zu dürfen, ich sei ein Mann. Als solcher sprach ich, und was gesagt ist, bleibt gesagt: ich liebe dieses Mädchen!«
»Aber du kennst ja Lauretta kaum.«
»Wahr. Ich sah sie nur ein paarmal flüchtig, aber doch etwas weniger flüchtig auf der letzten Redoute. Sie war dort mit der Frau Generalin von Wimpfen –«
»Ja, man gestattet ihr mancherlei Ausnahmen von den Regeln der Ecole. Sie hat eben die Frau von Seeger und den Herzog und alle Welt am Schnürchen ihrer Launen.«
»Auf der Redoute hab' ich zu wiederholten Malen mit ihr gesprochen und getanzt.«
»Und sie bezauberte dich?«
»Sie bezauberte mich.«
»Du liebst zum erstenmal?«
»Wenn ich früher wähnte, schon geliebt zu haben, so weiß ich jetzt, daß es eben ein alberner Wahn war.«
»Und wie nahm die Turbinella deine Huldigungen auf?«
»So wie nur je das jungfräulichste aller Mädchen die Huldigungen eines Mannes aufgenommen hat.«
»Du liebst also bloß auf gut Glück? Sie gewährte dir keinen Schimmer von Hoffnung, ließ dir keine Ermutigung zuteil werden?«
»Nicht die Spur eines Schattens.«
»Ach, sie war also in ihrer königlichen oder madonnenhaften Laune?«
»Sie war, schön, strahlend, edel!«
»Sie hat dich also alles Ernstes erobert?«
»Ganz und gar. Und nun höre mich an, lieber Freund. Nach dem, was du mir über dein eigenes Verhältnis zu Lauretta gesagt, darf ich mit der Sprache ganz frei herausgehen. Du weißt – wenigstens glaube ich es dir gesagt zu haben – daß ich den Unabhängigkeitskampf meines Vaterlandes mit der Waffenstreckung des Generals Cornwallis bei Yorktown beendigt glaube. Nach dieser glorreichen Aktion sandte mich General Washington mit Depeschen an den Kongreß und dieser, sei es infolge einer Empfehlung des Generals, mit dessen Familie die meinige von alters her befreundet war, sei es, weil ich sechs Jahre hindurch, erst als gemeiner Milizmann, dann als einer der Adjutanten unseres Befreiers, nach Kräften meine Pflicht getan, erwies mir die Ehre, mir eine vertrauliche Mission an unsere Gesandtschaft am Hof von Versailles zu geben. Nachdem ich mich dieses Auftrags entledigt und einigermaßen in Paris mich umgesehen hatte, reiste ich, über Brüssel rheinaufwärts hierher, wohin mich ein Auftrag meiner guten Mutter und das eigene Herz zog. Ich sollte und wollte das Grab meines geliebten Bruders Georg besuchen, wollte seinen Freunden danken für all das Gute, was sie ihm erwiesen, und auch dem Herzog und der Frau Gräfin von Hohenheim meinen und meiner Familie ehrfurchtsvollen Dank abstatten für das Wohlwollen, welches sie dem armen Georg namentlich in seiner Krankheit bezeigt haben«
»Das ist billig, denn der Herzog benahm sich wirklich gütig, die Gräfin liebreich gegen den Kranken.«
»Ihr alle tatet es. Darum ist es auch unverzeihlich, daß ich noch nicht dazu gekommen, den Fürsten um eine Audienz zu ersuchen. Aber seit ich dieses Mädchen gesehen und gesprochen, bin ich ganz aus meinem gewohnten Gleise. – Höre, Friedrich, sage mir auf Ehre und Gewissen, hältst du Fräulein Lauretta für eine Kokette?«
Schiller besann sich keinen Augenblick, sondern sagte mit Entschiedenheit:
»Auf Ehre und Gewissen, nein!«
»Wie danke ich dir! Aber sieh, auch wenn deine Antwort anders gelautet, würde sie mich in meinem Vorhaben nicht wankend gemacht haben.«
»Was hast du vor?«
»Kannst du fragen? Ich will alles daran setzen, den Preis zu gewinnen. Was wir Amerikaner wollen, das pflegen wir mit Energie zu betreiben. Zwar fließt zur Hälfte deutsches Blut in meinen Adern, doch überwiegt das virginische. Ich liebe dieses Mädchen, aber ich bin kein empfindsames Lämmerschwänzchen, kein Werther, der sich aus Liebesgram totschießt. Ich will um Lauretta werben wie ein Mann und will sie heimführen unter meines Vaters Dach – drüben am Ufer des Potomak.«
»Und glaubst du, sie werde deine Werbung annehmen und dir folgen?«
»Ich hoff' es, obgleich ich fürchten muß, einen Nebenbuhler zu haben und zwar einen begünstigten.«
»Schwerenot, Nebenbuhler hast du sicherlich genug und übergenug; aber einen begünstigten? Wie ist das?«
»Neben meinem Zimmer im Bären hat seit einigen Tagen deren eine ganze Reihe ein Italiener inne, ein Venezianer. Er läßt sich Chevalier titulieren und tritt mit großem Glanze auf. Ich halte ihn freilich für einen Abenteurer, aber er ist jedenfalls eine bedeutende, eine imponierende Persönlichkeit und ein gewiegter Weltmann. Trage er seinen Titel mit Recht oder Unrecht, man muß sagen, er hat etwas Chevalereskes an sich, etwas, was, wie ich vermute, den Frauen gefallen muß. Ich habe gelegentlich bemerkt, daß er mittels seines Lächelns, seiner Artigkeit, mittels einiger Scherze und Schmeicheleien unsere Wirtin und alle Dienstmädchen im Hause bezaubert hat.«
»Ein richtiger Lovelace also?«
»Ich denke wohl. Auf der Redoute, die für mich so bedeutungsvoll wurde, näherte sich der Chevalier dem Fräulein in auffallender Weise, und ich bemerkte wohl, daß er dem Mädchen in viel gewandterer Art den Hof zu machen verstand als ich. Auch glaubte ich zu bemerken, daß seine Bemühungen nicht so kalt und stolz aufgenommen wurden wie die meinigen. Ich lernte da mit der Liebe zugleich die Eifersucht kennen. Am folgenden Tage, als wir nach Tische unsern Wein tranken, sagte er mir plötzlich: ,Mein Herr, wir haben gestern auf einer Fährte gejagt, aber – entschuldigen Sie meine Offenheit – ich meine, Sie seien noch kein sehr geübter Jäger.' Ich nahm mich zusammen und gab eine scherzhafte Antwort, worauf er sagte: ,Ich sehe, Sie sind ein Mann von Welt und nehmen dergleichen Abenteuer, wie sie genommen werden müssen.' Hierauf bot er mir eine Wette an, daß ihm, wie er sich ausdrückte, das fragliche Wild in das Netz gehen würde, bevor zwei Wochen herum wären.«
»Der Geck!« rief Schiller entrüstet aus.
»Was willst du? Er scheint ein Mann zu sein, der gewohnt ist, zu siegen. Ich nahm die Wette an. Vielleicht war das unziemlich, töricht, kindisch, aber seit der heutigen Wachtparade habe ich Grund zu glauben, der Venezianer habe auf was für eine Art immer eine Intrige mit der Turbinella angesponnen.«
»Wie? Der Unverschämte! Doch da fällt mir ein, daß der Schlaukopf, der Erzpfiffikus, der Hexenmeister, vulgo Sammetdoktor, beharrlich behauptet, das unfehlbarste Mittel, die Weiber zu gewinnen, sei die Unverschämtheit. Aber du sprachst von der heutigen Wachtparade. Was ist denn da –«
Ein starkes Klopfen an der Türe unterbrach den Sprecher.
»Bleib draußen, Kerl!« rief der Dichter, in der Meinung, der Kronenbitter begehre Einlaß. »Bleib draußen, Saufaus! Wir können dich jetzt nicht brauchen.«
Die Türe öffnete sich aber trotzdem zur Hälfte, und durch die Öffnung herein sprach eine tiefe Baßstimme:
»Ein höflicher Empfang, das muß ich sagen! Nicht umsonst hat der witzige Junge, der Haug, einmal in einem seiner Epigramme die Göttin der Grobheit geschildert, wie sie aus den Wolken herab zu dem Akademiker Schiller sagt: Du bist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.«
Nun tat sich die Türe ganz auf und ließ einen Mann von würdevoller Korpulenz eintreten, bei dessen Anblick Schiller von der Bank aufsprang mit dem Ausruf:
»Donner und Doria! Lupus in fabula – der Sammetdoktor!«
Der Eingetretene war ein Mann von umfangreichem, aber nicht würdelosem Habitus, groß, starkknochig und so stramm und aufrecht, daß man nur schwer glauben konnte, über seinen Scheitel seien bereits siebzig oder achtzig Jahre hingegangen. Aus seiner altmodischen dreizipfeligen, schneeweiß gepuderten Allongeperücke schaute ein volles rotes Gesicht, das nur wenige Runzeln zeigte, und aus welchem zwei kleine schwarze Augen klug und durchdringend blickten. Eine mächtige Falkenschnabelnase bog sich jäh zu dem feingeschnittenen Mund herab und verlieh, im Verein mit den Schlangenlinien um die Lippenwinkel, den Zügen des Mannes etwas Mephistophelisches, welches aber für gewöhnlich hinter dem Ausdrucke humoristischer Kordialität verschwand. Er trug sich elegant, fast etwas auffallend, denn er ging in einem goldbordierten Rock von Scharlachsammet und in einer goldgestickten Pattenweste von weißem Sammet, trug ein zierliches Jabot und breite Spitzenmanschetten, schwarze Seidenstrümpfe, goldene, mit blitzenden Steinen verzierte Knie- und Schuhschnallen. Unter dem linken Arm hatte er den kleinen schwarzseidenen Chapeaubas festgeklemmt, und in der Rechten führte er ein gewaltiges Rohr mit großem Goldknauf. Rechnet der in der Geschichte des Kostüms bewanderte Leser zu diesem Anzuge noch die erwähnte Allongeperücke hinzu, so brauchen wir ihm nicht zu sagen, daß wir die offizielle Tracht der Ärzte im achtzehnten Jahrhundert beschrieben haben, eine Tracht, die in ihrer ganzen Strenge im Jahre 1782 allerdings wohl nur noch von wenigen Jüngern Äskulaps beibehalten sein mochte.
»Servus,« sagte der würdige Mann gravitätisch und tat seine Verbeugungen nach den strengsten Vorschriften des Höflichkeitskodex von damals ab.
Dem Dichter machte es Spaß, diese Gravität nachzuahmen, und so stellte er den Doktor Armbruster, gemeinhin der Sammetdoktor genannt, und seinen Freund Raleigh in aller Förmlichkeit einander vor.
»Sehr scharmiert, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, mein werter Mister Raleigh,« sagte Herr Armbruster. »Habe großen Respekt vor den Herren Amerikanern. Haben sich in neuerer Zeit sehr notabel gemacht. War aber vorauszusehen, daß es so kommen würde, obgleich seit der Zeit, wo ich in Amerika war, dort manches bedeutend sich verändert haben muß.«
»Sie waren in Amerika, mein Herr?« fragte Raleigh mit schnell erwachendem Interesse an seinem neuen Bekannten.
»Ach Gott, lieber William,« fiel Schiller ein, »wo wäre der Sammetdoktor nicht gewesen!«
»War in Amerika, ja, ist ein Fakt,« bemerkte der Doktor. »Gefiel mir dort ganz passabel. Ist ein mächtig aufstrebendes Land, dieses Amerika. Nur eins hat mir mißfallen, mit Verlaub.«
»Was?«
»Das ewige Psalmensingen. Herrgott, was hab' ich da in Boston und Philadelphia für ein Genäsel und Quinkelieren mitanhören müssen! War das zuviel für meine arzneiwissenschaftliche Konstitution. Strich daher wieder ab. Nichts für ungut, mein werter Sir.«
»Bitte, bitte, keine Entschuldigung. Wir in Virginien sind nicht so exzessiv fromm wie die Leute in den Neuenglandstaaten. Diese stammen von den Puritanischen Pilgrimen, wie Sie wissen, wir Virginier dagegen von den muntern Kavalieren und kühnen Abenteurern des Zeitalters der Königin Beß.«
»Schön, schön, mein werter Sir. Werde mir ein großes Vergnügen daraus machen, so ich die Ehre haben kann, bei gelegener Zeit mit Ihnen über Amerika zu plaudern. Praesenti momento bin ich leider etwas pressiert, wasmaßen ich noch unterschiedliche patientes zu inspizieren habe. – Kam gestern abend spät von Heilbronn zurück, allwohin ich zu einer Konsultation in einem absonderlich schwierigen casu berufen worden. Tat uns übrigens, meinen Herren Amtsbrüdern und mir, das fragliche Subjekt den Possen, uns sozusagen unter den Händen wegzusterben. Media in vita sumus in morte. Nicht wahr, werter Kollege Schiller, Sie haben auch schon zu unterschiedlichen Malen Gelegenheit gehabt, das alte Sprüchlein zu beten, wenn Sie, gewohnt, wie in poësi starke Aesthetica, so in medicina starke Emetica anzuwenden erfahren mußten, daß Ihre Mittel auf die Augéschen Grenadiere zu drastisch wirkten?«
Bei den letzten Worten spielte ein mephistophelisch-behagliches Lächeln für einen Augenblick um die Mundwinkel Armbrusters.
»Hol Euch der Teufel, Doktor,« rief der Dichter aus. »Ihr könnt es doch wahrlich nie und nimmer lassen, aus Eurem Sammetgehäuse die Krallen der Bosheit hervorzustrecken.«
»Das ist nun wieder so ein poetischer modus loquendi, mein werter Sir,« sagte der Sammetdoktor, zu Raleigh gewandt, mit unerschütterlicher Kaltblütigkeit. »Der alte Armbruster hat keine boshaftigen Krallen. Posito, er hätte jemalen überhaupt Krallen gehabt, so hat sie ihm der Zahn der Zeit längst abgebissen. – Im übrigen,« fuhr er fort, wieder zu Schiller sich wendend, »sollte ich jetzt, Sie für Ihr unkollegialisches Wort in Pön zu nehmen, die Neuigkeit für mich behalten, welche ich Ihnen im Vorbeigehen mitteilen wollte.«
»Heraus damit, Ihr größter aller Neuigkeitskasten! – Aber ich bitt' Euch, edler Sammetdoktor, laßt es bei den bisher gegebenen Proben von Eurem verwünschten Kurialstil bewenden und sprecht, wie Euch der Schnabel gewachsen ist.«
»So tu' ich ja immer, guldiges Herrle. Aber wollt gütigst bedenken, mein Schnabel ist ein altmodischer Doktorschnabel, kein kraftgenialischer Gelbschnabel.«
Und mit gewinnendstem Lächeln bot er aus seiner großen goldenen, mit Brillanten verzierten Dose dem Dichter eine Prise.
Schiller – wir können nichts dafür, zarte Leserin – machte von diesem Anerbieten nicht nur ohne Umstände, sondern auch mit viel Behagen einen sehr umfassenden Gebrauch, worauf er sagte:
»Mit Euch ist nicht zu streiten, Doktor. Ihr seid mit allen Hunden gehetzt und gewinnt einem immer den Vorsprung ab. Aber laßt uns jetzt Eure Novelle hören.«
»Uns?« erwiderte der Sammetdoktor mit einem seltsamen Blick auf Raleigh. »Ich denke, meine Novelle wird bloß Euch, mein Söhnchen, interessieren. – Die Sache ist diese: die Ecole des Demoiselles soll einen neuen italischen Sprachmeister bekommen.«
»Was, zum Henker, Doktor, schiert mich das?«
»Immer oben hinaus! Immer eitel Sturm und Drang! Wartet doch, bis ich zu Ende bin. – Machte vor Tische der Frau Intendantin von Seeger einen Pflichtschuldigen Besuch, da ich die Ehre habe, Hausarzt der Ecole zu sein. Traf da bei der gnädigen Frau einen großen, herkulisch gebauten, etwas pockennarbigen fremden Herrn –«
Raleigh schaute und horchte auf. Der alte Arzt, welchem das nicht entging, fuhr fort:
»Als der Fremde, dessen Tournüre so recht die eines Mannes come il faut, das Zimmer verlassen hatte, teilte mir die Frau Intendantin mit, derselbe sei ein Venezianer und solle nach des Herzogs Wunsch die Stelle des plötzlich erkrankten italischen Sprachlehrers an der Ecole provisorisch übernehmen. Er muß ein Mann von großem Lehreifer sein, denn als ich, das Schloß verlassend, durch den großen Korridor ging, machte ich zufällig die Wahrnehmung, daß der neue Sprachmeister bereits mit einer seiner Schülerinnen in spe Bekanntschaft angeknüpft habe.«
»Wie?«
»Nun ja, liebwerter Kollega, ich wurde, natürlich wider Willen und rein zufällig, Zeuge einer Unterredung, die mir nicht ganz – nicht ganz – alltäglich vorkam. Wie ich nämlich den dunkeln Korridor herabging – Ihr wißt, ich bin ein tapferer Mann, und da Vorsicht die Mutter der Tapferkeit ist, pflege ich stets vorsichtig aufzutreten und nie überflüssigen Lärm zu machen – ja, wie ich den Korridor herabging, hörte ich hinter einem der mächtigen Pfeiler ein italisches Gewispere. Ihr wißt, ich bin ein leidenschaftlicher Liebhaber der welschen Sprachlaute; sie klingen gar so süß. Blieb also stehen und erkannte in der Stimme des Wisperers die des herkulischen Fremden und in der Stimme der Wisperin die – nun, Herr Kollega, ratet mal, wessen Stimme?«
»Die der Turbinella?«
»Erraten, vortrefflich erraten! – Ach, mein Lieber, ich merke, Ihr seid noch immer turbinellisch gesinnt, lautgewordener Versicherungen vom Gegenteil ungeachtet. – Nun, nun, Ihr braucht darob nicht verlegen zu werden. Die Sache ist begreiflich, sehr begreiflich. Wenn Feuer und Pulver zusammenkommen, wißt Ihr, so gibt's ne Explosion. Ein Poet und so ein Blitzmädel – hm, da gibt's Funken, Feuer, Flammen.– Aber sag': Periculum in mora – oder auch: Hannibal ante portas. – Die Weiber sind ein wetterwendisches Volk, das ist eine weltgeschichtliche Tatsache, und Wagen, dreistes Wagen, unverschämtes Wagen! das ist das Feldgeschrei, welches sie am liebsten hören.«
»Was soll mir denn das alles?«
»Was Euch das soll, mein lieber Kollega? Da hör mal einer! Wenn es Euch übrigens nicht sekkiert, so kann das mir ganz einerlei sein. – Ich für meine Person wollte nur sagen, daß es zuweilen nicht uneben ist, welsch zu verstehen. Hörte da hinter dem besagten Pfeiler – es ist der nämliche, hinter welchem vorzeiten der wilde Herzog Ulrich seine Frau Sabine in einem Tête-a-Tête mit dem armen Burschen, dem Hanns von Hutten, ertappt haben soll – ja, hinter diesem Pfeiler hört' ich was davon, daß eine gewisse Demoiselle heute abend mit der Frau Generalin von Wimpfen nach Ludwigsburg fahren würde, ferner von einem morgigen Rendezvous in den Anlagen hinter dem Ludwigsburger Schlosse, ferner – doch Sie sagen ja, mein Herr Kollega, das alles interessiere Sie ganz und gar nicht. Herrn Raleigh, als einen Fremden, kann es noch weniger interessieren. – So bitt' ich um Entschuldigung für mein interesseloses Geplauder und habe die Ehre, meine Herren, mich Ihrer Gewogenheit bestens zu empfehlen.«
Damit machte er eine sehr umständliche, ungeheuer höfliche Verbeugung und drehte sich unter graziösem Chapeauschwenken zu Türe hinaus.
»Donner und Doria!« sagte der Dichter, »ist das nicht ein merkwürdiger Kerl? Ein Original jeder Zoll. Spottsüchtig wie der Teufel und doch auch wieder gutmütig wie ein Kind, ein Schalk, ein Gelehrter, ein Pessimist, ein Philanthrop, ein Humorist, ein Genie und ein Philister, alles bunt durcheinander. Man weiß nie recht, wie man mit ihm daran ist. Ich glaube, er sieht die Menschen nur als Figuren in der Komödie an, die er sich zu seinem Privatvergnügen unaufhörlich vorspielt. Er bekümmert sich um alles, weiß alles, hat die Hand oder wenigstens einen Finger in allem. – Ich möchte darauf schwören, daß er recht wohl wußte, wie sehr dich, lieber Freund, alles interessiere, was die Turbinella angeht. – Vielen Leuten wird's geradezu unheimlich in der Nähe des Sammetdoktors, wie man ihn seines ewigen Sammetrocks wegen heißt. Er prätendiert zwar, ein geborener Stuttgarter zu sein, aber als er vor nicht langer Zeit hierher kam, wollte kein Mensch von ihm oder von seiner Familie wissen. Jetzt ist er freilich sehr bekannt durch seine Absonderlichkeiten und seine genialen Kuren. Der Mensch ist uralt – der Petersen hat einmal im Rausche zu ihm gesagt, er halte ihn für den ewigen Juden – er ist überall gewesen, in allen Ländern, an allen Höfen, er kennt alle merkwürdigen Personen Europas, Männlein und Weiblein, aus persönlichem Umgang. Wenn's ihm drum ist, erzählt er prächtig von Maria Theresia, von Kaunitz, von Friedrich Wilhelm I., Friedrich dem Großen, vom großen Zar Peter und der Zarin Katharina. Du mußt ihn einmal hören. Er flieht alte Leute wie die Pest, hält sich zu der Jugend und fehlt fast bei keiner Versammlung der Bande im Ochsen.«
Raleigh schien diese Charakteristik des Sammetdoktors gar nicht gehört oder wenigstens nicht beachtet zu haben, denn er stand auf, nahm seinen Hut und sagte zerstreut: »Hast du morgen Dienst?« »Nur eine Stunde, in aller Frühe.« »Gut. Kannst du reiten?« »So zur Not. Aber –« »Willst du mir einen Gefallen tun?« »Natürlich!« »Gut. Ich hole dich morgen beizeiten ab. Jetzt muß ich fort. Adieu!« Er ging, ohne die Fragen des Dichters abzuwarten, und dieser rief, des Freundes Benehmen richtig deutend, nach dessen Weggehen nachdenklich aus: »Da hat mal wieder das Sprichwort recht: Stille Wasser sind tief!«