Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Fünftes Kapitel,

worin das alte und doch immer neue Thema vom Scheiden und Meiden wieder einmal variiert wird.

Über den Wäldern glühte der Abendhimmel eines heißen Julitages. Golden schimmerte es im Westen, und die mählich niedersteigende Sonne warf zwischen den Wipfeln und Stämmen hindurch rotfunkelnde Lichter auf das üppige Moos- und Efeugrün des Bodens.

Es ist um diese Jahreszeit sehr still im Walde. Die junge Vögelbrut hat das Singen noch nicht gelernt, und die älteren Waldsänger ruhen sich von den Sorgen und Nöten der Begründung und Erhaltung eines Haushaltes aus. Sie haben das Ihrige getan, ihre Jungen sind flügge, sie können sich daher jetzt in stiller Beschaulichkeit dem Federnwechsel, genannt Mauser, überlassen. Das ist in der Welt der Vögel die Bade- und Kursaison, weshalb man ihnen die Vernachlässigung ihrer musikalischen Pflichten zugute halten muß.

Über das Moos glitt ein reizender Frauenfuß, welcher gemeinschaftlich mit seinem Zwillingsbruder die anmutige Gestalt Lolos trug. Sie war von dem verschollenen Schlosse herabgestiegen, nachdem sie der greisen Freundin mit einer Resignation, die nicht ganz natürlich war, gesagt hatte: »Ich gehe, um Abschied zu nehmen.«

Sie verfolgte einen auf dem weichen Moose kaum sichtbaren Pfad, welchen sie schon oft gegangen sein mußte, denn sie war über die Richtung nie einen Augenblick im Zweifel. Mit der einen Hand den Saum ihres langen weißen Kleides emporhaltend, schritt sie rasch dahin und gelangte zu einem jener traulichen Waldverstecke, wie der Instinkt der Liebe sie so leicht und häufig findet.

Ein von Brombeer- und Efeuranken übersponnener kleiner Bach umzog im Halbbogen eine Anschwellung des Bodens, welche von malerisch geformten Felsblöcken eingefaßt war. Zwischen dem Gestein wuchsen wilde Haselsträuche, Birken und Buchen und schlossen so das Plätzchen mit seinem üppigen Moosteppich von der Welt ab, das heißt, von der Waldwelt, denn eine andere gab es weitum nicht.

Auf dieser heimlichen Stelle angekommen, ließ Lolo die großen dunkeln Augen suchend umhergehen. Sie fand sich aber ganz allein in der Stille. Kein Lüftchen regte die Wipfel. Nur zuweilen klang fernab der Schrei eines Hähers oder das Schnabelgepoch des Spechtes oder der kurze surrende Pfiff des Eichhorns.

Lolo hatte sich am Ufer des Baches niedergesetzt, wo er, unter seiner grünen Laubhülle hervorkommend, klar über braune Kiesel hinmurmelte, als wollte er sagen: Kühle dich!

Sie verstand die Einladung und hielt zunächst die Hände in das helle Naß. Dann entledigte sie sich der Schuhe und Strümpfe und plätscherte mit den allerliebsten weißen Füßchen träumerisch in dem kühlen Wasser.

Das war allerliebst anzusehen. Aber die innere Unruhe ließ sie des kindlichen Spieles bald wieder satt werden. Wer sie beobachtet hätte, wie sie Schuhe und Strümpfe hastig wieder anzog, hätte seine Freude daran haben können, denn alle ihre Bewegungen verrieten jene jungfräuliche Tüchtigkeit, welche ein edles Weib auch in tiefster Einsamkeit stets bewahrt und welche sich so schön von jener bewußten, wo nicht kokett zur Schau gestellten Sittsamkeit der Prüderie unterscheidet.

Lolo verließ ihren Sitz am Bache und setzte sich weiter oben auf einen mit Moos, und Efeu bekleideten niedrigen Fels, den die Natur in einer von ihren tausend Launen so gestaltet hatte, daß er wie gemacht schien, nicht einer, sondern zwei Personen zum Ruheplatz zu dienen.

Sie lauschte gespannt über den Bach hinüber, als hätte sich dort der Fußtritt des nahenden Freundes geregt. Aber es war für jetzt eine Täuschung.

Nun zog sie ein Papier aus dem Busen und durchflog die daraufgeschriebenen Verse. Sie kannte dieselben längst auswendig, aber ihr Auge wollte sich an den geliebten Schriftzügen weiden.

Sie las das Gedicht zu wiederholten Malen, erst leise, dann laut, als müßte ihre Aufregung sich Luft machen.

Es waren glutvolle Strophen, welche nicht in den Werken des Dichters stehen, obgleich sie ursprünglich zu einem dort mitgeteilten Gedichte gehören:

»Des wollustreichen Geistes voll – vergessen,
Vor was ich zittern muß,
Wag' ich es, stumm an meinen Busen sie zu pressen,
Auf ihren Lippen brennt mein erster Kuß.

Wie schnell auf sein allmächtig glühendes Berühren,
Wie schnell, Geliebte, floß
Das dünne Siegel ab von übereilten Schwüren,
Sprang deiner Pflicht Tyrannenkette los!

Jetzt schlug sie laut, die heißersehnte Schäferstunde,
Jetzt dämmerte mein Glück –
Erhörung zitterte auf deinem brennenden Munde,
Erhörung schwamm in deinem nassen Blick

Mir schauerte vor dem so nahen Glücke
Und – ich errang es nicht.
Vor deiner Gottheit taumelte mein Mut zurück,
Ich Rasender, und ich errang es nicht!

Woher dies Zittern, dies unnennbare Entsetzen,
Wenn mich dein liebevoller Arm umschlang?
Weil dich ein Eid, den auch schon Wallungen verletzen,
In fremde Fesseln zwang?

Weil ein Gebrauch, den die Gesetze heilig prägen,
Des Zufalls schwere Missetat geweiht?
Nein, unerschrocken trotz' ich einem Bund entgegen,
Den die errötende Natur bereut.«

Lolo hielt inne, ließ das Papier fallen und sagte mit einem bitteren Lächeln:

»Eine Phantasie, was weiter? Er hat mich stets nur mit der Einbildungskraft geliebt. Lange verbarg ich es mir vor meinen innersten Gedanken, ich Törin, aber die Wahrheit schrie doch zuletzt so laut in mir – und in ihm, daß der Selbstbetrug nicht mehr vorhielt. Jetzt geht er, seinem Geschick entgegen, seinem Ruhm – wie dürft' ich ihn halten wollen? Der Frühlingsblütentraum ist verwelkt in der Sommerschwüle, und vor meinen Ohren klingt wieder das alte, ewige Entsagungslied, daß wir Frauen nur da seien, zu lieben, zu leiden und zu schweigen.«

Sie barg das Antlitz in den Händen, versank in eine schmerzliche Träumerei und beachtete es nicht, daß jenseits des Baches das Gebüsch raschelnd auseinandergebogen wurde und in der Öffnung Schiller erschien.

Erst als er, das Wasser überschreitend, sie begrüßte, schaute sie auf und wurde seiner gewahr.

Sie stand auf und trat ihm mit jener äußerlichen Fassung entgegen, unter welcher gerade leidenschaftliche Frauen den Sturm ihrer Gefühle vor einem weniger tiefdringenden Auge oft glücklich zu verbergen wissen.

Der Dichter war freudig bewegt.

»Wie schön Sie sind in diesem grünen Versteck, teure Lolo!« sagte er. »Wenn ich Sie so ansehe, fühle ich erst recht, was ich verlieren soll. Wie neidisch ist doch das Schicksal! Aber ich kann weder noch darf ich seinem strengen Willen widerstehen. Es ist heute ein zweiter Brief von Dalberg eingelaufen. Die Bedenklichkeiten des Freiherrn hinsichtlich meiner unglücklichen Beziehungen zu dem Herzog von Württemberg sind endlich gehoben. Er fordert dringend, daß ich meine Abreise beschleunige. In Mannheim erwarten mich Freunde, erwarten mich Erfolge, erwartet mich eine angemessene Tätigkeit. ›Fiesko‹, sowie ›Kabale und Liebe‹ sollen aufgeführt werden. Mein ›Don Karlos‹ rückt vor, und noch eine Masse anderer Ideen und Pläne fordern rüstige Handanlegung.«

Lolo schwieg und so hatte Schiller Zeit, sie genauer zu betrachten und das gewaltsam Gehaltene in ihrem Wesen zu bemerken. Der frische, heitere Mut, womit er auf eine neu vor ihm aufgetane Lebensbahn blickte, verletzte sie. Der Freund, meinte sie, nahm es doch mit der Trennung von ihr gar zu leicht. Sie sah ihn fast böse an.

Er schaute betreten zu Boden, und seine Blicke hafteten mechanisch auf dem Papier, welches noch dort lag.

Lolo bemerkte es, und einem unwillkürlichen Affekt nachgebend, stieß sie es mit der Fußspitze verächtlich beiseite und sagte:

»Es ist nur ein welkes Blatt, das vor dem Herbste abgefallen.«

Aber schon im nächsten Augenblick bückte sie sich hastig, raffte das mißhandelte Gedicht auf, küßte es und barg es an ihrem Herzen.

So verriet sich dem Dichter die heftige Spannung ihrer Stimmung, jene Turbulenz der Affekte, welche ihm die Nähe der Freundin selbst bei traulichstem Zusammensein oft so unheimlich gemacht hatte. Dieses unglückliche Gemüt war unfähig, Ruhe und Frieden zu finden, selbst in der Freundschaft, selbst in der Liebe. Von einem unklaren, nicht zu bändigenden Titanismus getrieben und gestachelt, kannte diese Frau nur das Streben nach Glück, nie das Glück selber. Sie hätte es daher auch in dem Herzensbund mit Schiller nicht gefunden, und zwar, wäre derselbe ein dauernder gewesen, nur um so weniger. Daher war es für den Dichter eine unberechenbare Gunst des Schicksals, daß er frühe genug erkannt hatte, die Titanide vermöge weder glücklich zu sein, noch glücklich zu machen.

Trotz alledem war seine Situation zu dieser Stunde peinlich genug. Das Benehmen der Freundin am Tage zuvor, wo er ihr in dem verschollenen Schlosse droben die Wendung seines Geschickes angezeigt, hatte ihn hoffen lassen, daß dieses Verhältnis ruhig und schön sich lösen würde. Aber diese Hoffnung schien nun eine sehr voreilige gewesen zu sein. Er hatte nicht bedacht, daß es im Frauenherzen Saiten gibt, die, auch noch so vorsichtig und sanft berührt, dennoch nur tiefschmerzlich vibrieren können.

Jetzt drang sich ihm diese Wahrheit auf, und er suchte daher nach schonenden Worten, um das reizbar gespannte Gefühl der Freundin nicht zu verletzen. Aber selbst dem begabtesten Menschen kommt in solchen Momenten nicht immer das gerade Passende zu Sinne, und so konnte er nur sagen:

»Teure Lolo, ich hoffte nach dem, was wir gestern mitsammen sprachen, Sie heute ruhiger und gefaßter zu finden. Warum das Unvermeidliche uns noch mehr verbittern? Sie waren doch mit mir einverstanden, daß es sich nicht mit meiner Ehre vertrüge, die Gastfreundschaft meiner mütterlichen Gönnerin noch länger zu mißbrauchen. Um so weniger, da meine Beschützerin nicht ohne Grund fürchtet, daß ihre Wohltat, falls sie bekannt würde, das freundliche Verhalten des Herzogs von Württemberg zu ihrer Familie leicht stören könnte. Es gibt in der menschlichen Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, einen Zwang der Verhältnisse –«

Lolo unterbrach ihn ungestüm. Die kochende Lava ihrer Seele strömte über, aber, und das ist charakteristisch, vom persönlichsten wurde sie alsbald zu allgemeineren Anschauungen fortgerissen.

»Zwang, sagen Sie?« rief sie aus. »Zwang? Das ist die ewige monotone Litanei! Möchte ich sie nie wieder hören! Keinen Zwang soll das Geschöpf dulden, aber auch keine ungerechte Resignation. Immer lasse der kühnen, kräftigen, reichen, ihrer Kraft sich bewußten und ihre Kraft brauchenden Menschheit ihren Willen! Aber, ach, die Menschheit und unser Geschlecht ist elend und jämmerlich, und Gesetz und Gesellschaft machen sie immer jämmerlicher. Liebe bedürfte gar keines Gesetzes. Doch was ist Liebe? Euch Männern ein Spiel. Und uns Frauen? Kennen wir sie, dürfen wir sie kennen und bekennen? Nein. Die Natur will, daß wir Mütter werden sollen, vielleicht nur, damit wir, wie einige meinen, euer Geschlecht fortpflanzen. Dazu dürfen wir nicht warten, bis ein Seraph, bis unser Ideal kommt; sonst ginge die Welt unter. Und was sind unsere stillen, armen, gottesfürchtigen Ehen? Ich sage mit Goethe und noch mehr als Goethe: Unter Millionen ist nicht einer, der nicht in der Umarmung die Braut bestiehlt.«

Sie sprach das im Ton einer Sibylle. Aber die Erhebung über das eigene Leid konnte nicht lange währen. In dieser reichen und doch so armen Frauenseele machte die angeschlagene Saite des Stoizismus stets die hart danebenliegende sentimentale mittönen. Die Pythonissa war schon zum flehenden Weibe geworden, als sie mit einem plötzlichen Übergang oder vielmehr ohne einen solchen fortfuhr:

»O, mein Freund, kann es, darf es Ihnen Ernst sein mit unserer Trennung? Wissen Sie denn, was ich dadurch verliere? Seitdem ich Sie kenne, verlange ich mehr, als ich vormals von den Tagen erbeten. Nie habe ich mir selbst bekannt, wie öde meine Vergangenheit. Das Leben hat Sie mir gesandt und Sie wollten unsern Bund trennen? Momente nur sind uns im reinen Sein gegönnt, und diese Gabe besserer Stunden, auch sie wäre dahin? O, wären Sie von irdischer Sorge frei, nicht so nach Ruhm strebend, des Friedens vertilgendem Feind!«

»Teure Lolo,« versetzte er, von dem Schwung ihrer Worte mitbeflügelt, »seien Sie nicht ungerecht gegen mich und gegen sich selbst. Ja, gegen sich selbst, denn wenn je der Funke der Ruhmesliebe in mir gelegen, Sie und nur Sie haben ihn zur hellen Flamme angeblasen. Das Feuer meiner Seele hat sich in Ihrem reinen Lichte entzündet. Ihre Gegenwart, teure Freundin, gab mir eine Begeisterung, die ich früher nicht gekannt. Vor allem weiß ich, wir leben nur in der Blüte der Jugend das Leben; sie ist die Verklärung der flammenden Seele. Mein Herz fühlt, wie du dieses Sehnen nie trüben, nie seinen Glanz entweihen kannst. Du kennst nicht meine Trauer um dich. Aber was kannst du verlieren? Du bist so selbstbestimmt. Allzufrüh mit Irrtum und Kummer bekannt, war mein Gedanke verhüllt, mein Gemüt verbittert. Da fand mein Genius deine Töne; sie sprachen meine Gedanken aus. Wie der Strom, wie das Feuer, so waren unsere Seelen eins! Ich liebte die Begeisterte und wäre immer dein, hätte ich – den Mut für diese Liebe. Nein, ruhig sei meine Seele, unabhängig von dieser Macht, die mich entzückt, aber auch – ängstigt.«

Sie sah ihn an mit einem Ausdruck ihrer schwarzen, flammensprühenden Augen, der es völlig rechtfertigte, daß Schiller später von dieser Frau sagte, ihre Leidenschaftlichkeit habe sie manchmal hart an die Grenzen des Wahnsinns geführt; ihr Atem flog, ihr Busen ging hoch, und mit ausgestrecktem Arm sagte sie schneidend:

»So geh denn, Feigling!«

Der Dichter richtete sich hoch auf. Seine Wangen brannten, und ein hartes Wort schwebte ihm auf der Zunge. Aber er schluckte es hinunter, und nachdem er sich bemeistert, sagte er sanft:

»Lolo, sollen wir so scheiden?«

Der Ton traf ihr Herz. Der Wahnsinn der Leidenschaft verflog. Der Freund wollte ihre Hand fassen, aber schon lag sie an seiner Brust, und ihre Augen lächelten ihn durch Tränen an.

So empfing und erwiderte sie seinen Abschiedskuß und hielt ihn noch lange umfaßt, ihr Antlitz an seinem Herzen verbergend, um das krampfhafte Schluchzen ihrer Brust vorübergehen zu lassen.

Dann richtete sie sich in seinen Armen auf, machte sich sanft los und sagte mild und fest:

»Wir scheiden, Friedrich, aber wir behalten uns doch. Hoffnung! Glaube! Wir fühlen beide: wer eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund, der scheidet nie!«

»Nie, du sagst es, Lolo! Wenn wir uns wiedersehen – und ich weiß, es wird geschehen – werden wir Freunde sein.«

»Sei es! Aber jetzt – du sollst mich nicht begleiten, mir nicht nachsehen – mein Herz erträgt nicht ein zweites solches Scheiden – jetzt nur noch das eine Wort: Erfülle deine hohe Mission, geliebter Freund! Welche Pfade sie dich auch führen mag, immer wird mein Gedanke dir zur Seite gehen und sprechen: Glück auf! Und so lebe wohl!«

Sie trat rasch zurück, winkte ihm mit der Hand, ging rasch am Bache hinauf und waldeinwärts, bis sie wie ein gleitender Schatten hinter den Fichtenstämmen verschwand.

Er mußte sich Gewalt antun, um ihr trotz ihres Verbotes nicht zu folgen und ihr noch ein liebes Wort zu sagen. Das Herz war ihm schwer, und er starrte ihr nach, bis der letzte Schimmer ihres Gewandes in dem dunkelnden Grün verschwunden war. Dann wandte er sich quer durch den Wald, um nach dem Sorgenlos seines philosophischen Freundes zu gelangen, dem er noch Lebewohl sagen wollte. Aber er hatte Mühe, den oft betretenen Pfad nicht zu verfehlen, denn die Augen standen ihm voll Tränen.


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