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Der Dichter schlief noch fest, als ihn sein mit der ersten Morgendämmerung erwachter Freund weckte.
Während sich jener reckte und dehnte und dann lässig seinen Anzug besorgte, öffnete Raleigh den Laden des fensterlosen Schlafkämmerchens, und mit der morgendlich kühlen und würzreichen Bergluft strömten zugleich die Klänge des Glöckleins der Bernharduskapelle herein.
»Unser Wirt ist schon auf,« sagte Raleigh, »und verrichtet, wie es scheint, seine Frühandacht. – Komm hinaus.«
Sie verließen die Hütte. Das Glöcklein in der Kapelle drüben war verstummt. Ein leises Wehen ging über die Berggipfel. Sonst heilige Morgenstille ringsum. Drunten in den Tälern brauten die Nebel.
Von einem Gefühle der Andacht angehaucht, gingen die Freunde auf die Kapelle zu und traten leise ein, gefolgt von dem zahmen Reh des Einsiedlers, welches sie mit seinen schwermütigen Augen verständig ansah.
Es war ein bescheidenes, aber freundliches Kirchlein. Durch das runde Fenster hinter dem nach Osten gerichteten Altar blickte das Morgenrot. Im Lichte desselben sahen sie den Bernharduspater, auf den Altarstufen knien, in stilles Gebet versunken.
Jetzt erhob er, ohne der Zeugen seiner frommen Übung gewahr geworden zu sein, das Haupt und stimmte mit seiner klangvollen Stimme den schönen Hymnus an:
»Magnificat anima mea dominum –«
In diesem Augenblicke brachen die ersten Strahlen des aufsteigenden Tagesgestirns durch das runde Fenster und umwoben den Silberscheitel des ehrwürdigen Greises mit einer leuchtenden Gloriole.
Still, wie sie eingetreten, traten die Freunde wieder hinaus, denn eine ehrfurchtsvolle Scheu hieß sie jede Störung des weihevollen Moments vermeiden.
Eine Stunde später stiegen die beiden nach dem Weiler in den Bergen hinab, wo sie ihre Pferde gelassen. Der Bernharduspater hatte sie noch eine Strecke Weges bergabwärts begleitet, und der Abschied von ihm war sehr herzlich gewesen.
»Daß sich doch,« sagte Schiller im Gehen, »sympathisch gestimmte Menschen im Leben meistens nur finden sollen, um sich wieder zu trennen. Wie kurz war unser Zusammensein mit diesem herrlichen Greis und doch, wie hat er uns angezogen! Mir ist, als müßte ich wieder umkehren, um ihm noch einmal meine Achtung und Liebe zu bezeugen. – Welch ein reiches und doch verlorenes Leben! Welche Erinnerungen, Entsagungen und Schmerzen! – Nie, ich gestehe es, ist mir die Religion ehrwürdiger erschienen als in dem Bilde des Einsiedlers, da er vorhin vor dem Altar kniete und, vom ersten Sonnenlicht umstrahlt, seinen Lobgesang erhob. Es war das innigste, dankvollste Aufatmen der Kreatur zum Himmel, von welchem ich je Zeuge gewesen.«
Raleigh stimmte bei, und durch den schönsten Maimorgen hin schritten sie talwärts. Die höher steigende Sonne drückte die Nebel zu Boden und machte sie in Gestalt von Millionen Tautropfen auf Gras und Kraut funkeln. In der Ferne schimmerten die Turmknäufe der Reichsstadt, prächtig blickte der Hohenstaufen herüber, auf dem Turme der Kirche des näher gelegenen Rechberg läutete es zur Messe, aus den Dörfern der weithin gedehnten Gemarkung antworteten die Glocken, die Wiesentäler dufteten herauf, badend in Tau und Blütenschnee, die Lerche stieg tirilierend, der Bergfink schlug auf dem Weißdornbusch, die Grasmücke sang im Ginster, der Bergbach rauschte unsern Wanderern zur Seite klingend in seinem felsigen Bett, und dort drüben trieb ein junger Schäfer seine Schafe aus dem Pferch und sang dazu, daß es hell von der tannenbekrönten Halde widertönte:
»Herziges Schätzle du,
Hast mer au all mei Ruh
G'stohla, du loser Dieb.
Hab' di doch lieb!
Wenn d'r ins dunkelblau,
Funkelhell Schelmaug' schau,
Mein'i, i säh in mei
Himmelreich 'nei.«
Und der in seinem Schatz Vergnügte ließ die schöne Weise in einen Jodler ausklingen und setzte als Trumpf einen prächtigen Juheischrei darauf.
Des Dichters Brust weitete sich.
»O, wie schön ist die Welt!« rief er aus.
»Ja,« sagte Raleigh zerstreut. – »Ein recht hübsches Liedchen, und was der Bursch für eine Stimme hat! – Aber ist das wohl der Turm der Klosterkirche von Gotteszell, welcher dort weit unten, rechts von der Stadt, hervorsieht?«
»Aha,« lachte Schiller, »da denkt in der Gegend außer dem Schäfer noch einer an ein dunkelblau, funkelhell Schelmaug'. Sieh! sieh! – Den Turm von Gotteszell jedoch kannst du von hier aus nicht sehen. Das Kloster liegt zu tief im Tale. Indessen tröste dich, wir können noch vor Mittag dort sein, wenn wir erst wieder zu Pferde sitzen.«
»Ich gestehe,« versetzte der Amerikaner, »das wäre mir lieb. Seit meinem Erwachen heute in der Frühe fühle ich bei dem Gedanken an Lauretta eine wunderliche Unruhe, eine unbestimmte Ahnung von Hindernissen und Widerwärtigkeiten. – Ich werde dir zweifelsohne recht albern vorkommen –«
»Ei was, lieber William! Du solltest mich, ich will nicht einmal sagen aus Freundschaft, sondern schon aus simpler Höflichkeit für ein hinlängliches Stück Poeten halten, um mir zuzutrauen, daß mir deine Herzensnöte keineswegs unter dem Gesichtspunkt der Albernheit erscheinen. – Wärest du nur vorgestern in der Krypte auf dem Salvator an meinem Platze gewesen! Ich habe ohnehin ein nicht sehr angenehmes Gefühl, als hätte ich dort eine recht klägliche Rolle gespielt. – Aber sag', nun du den Schlüssel in der Tasche hast, welcher uns das verwunschene Kloster öffnen soll, wohin geht eigentlich dein Anschlag? Habe zwar, wie männiglich bekannt, den Schuft, meinen Spiegelberg, in den ›Räubern‹ ein Nonnenkloster flott stürmen lassen, fürchte aber trotzdem, daß ich mich in praxi dabei sehr linkisch anstellen würde.«
»Lieber Freund, wir leben jetzt nicht in der phantastischen Sphäre deiner ›Räuber‹ sondern in der Wirklichkeit. Auf Stürme und dergleichen mehr ist es vorderhand gar nicht abgesehen. Unser Verhalten wird sehr einfach sein. Wir verlangen Gehör bei der Mutter Superiorin, das Empfehlungsschreiben des Bernharduspater wird uns dieses Gehör verschaffen und, wie ich hoffe, auch das Wohlwollen der frommen Dame. Dann–«
»Dann?«
»Setze ich der Superiorin den Fall auseinander, bitte sie, mir in ihrer Gegenwart eine Unterredung mit Lauretta zu gewähren, und biete, falls mir diese Zusammenkunft bewilligt wird, dem Mädchen meiner Wahl meine Hand an. Wird, was ich freilich kaum zu hoffen wage, mein Anerbieten angenommen, so bin ich von Gottes und Rechts wegen der legitime Beschützer Laurettas, und diesem seine Braut unter einem geschickten Vorwande auszuliefern, wird sich die Superiorin wohl bestimmen lassen. Wenigstens glaubte das auch unser einsiedlerischer Freund und hat daher, wie er mir mitteilte, in seinem Schreiben an die Mutter Monika darauf Rücksicht genommen. Hierauf nehme ich Postpferde, eile mit meiner Erwählten aus dem kürzesten Wege Paris zu, lasse unseren Bund durch unseren Gesandtschaftskaplan einsegnen und führe Lauretta zu Schiffe, damit meine Mutter unter meinem Dache am Ufer des Potomak sie als ihre Tochter in die Arme schließe.«
Schiller machte zu dieser Eröffnung große Augen, blinzelte dann nach seiner Gewohnheit stark damit, schüttelte den Kopf, blies die Backen auf und ließ einen Pfiff hören, welcher ziemlich bedenklich lautete.
»Ich sehe, mein Plan gefällt dir nicht,« sagte Raleigh.
»Er kommt dir ohne Zweifel viel zu prosaisch, zu gewöhnlich, zu philisterhaft vor?«
»Freilich, freilich. Aber wie er mir vorkomme, das hätte wenig zu sagen. Dagegen möcht' ich dir doch zu bedenken geben, daß Lauretta diesen Plan leicht allzu nüchtern finden könnte. Sie liebt das Überraschende, das Kühne, das Romantische–«
»Ich verstehe dich,« sagte Raleigh mit einem Seufzer, fuhr aber dann sogleich mit seiner gelassenen Ruhe fort: »Du weißt, ich könnte für Lauretta vieles tun, sehr vieles, ungewöhnlichstes, wenn du willst; aber was ich für kein Weib der Erde, auch für sie nicht tun kann, ist, meinem ganzen Wesen entgegen den Romanhelden zu spielen. Ich bin, wie ich dir schon früher sagte, kein Werther, ich bin auch kein Ritter, sondern ein schlichter amerikanischer Bürger, ein Landmann und, wenn du willst, auch ein bißchen Kaufmann. Daß mich meine Bürgerpflicht in das Kriegsleben geführt, daß ich dieser Pflicht mit jugendlichem Seelenschwunge zu genügen suchte, hat an meinen bürgerlichen Neigungen nichts verändert. Nein, ich bin nicht dazu gemacht, weder den seufzenden Seladon noch den hirntollen Orlando zu spielen. Die ernste Schule des Lebens, welche ich durchgemacht, ließ solche Willkür der Phantasie nicht in mir aufkommen, vorausgesetzt auch, ich hätte von Natur irgendwelche Anlage dazu gehabt. – Glaub' mir, ich habe mich im geheimen lange und schmerzlich gegen diese plötzlich erwachte Neigung zu einem Mädchen gesträubt, welches in so vielem einen schroffen Gegensatz zu meinem Wesen bildet. Das Sträuben half nichts, aber zu einem romantischen Narren soll mich meine Leidenschaft doch nicht machen. Ich hasse alle krummen Wege und gehe gern geradeaus. – Doch da sind wir ja bei dem Weiler angelangt. Laß uns eilen, in die Stadt zu kommen.«
Die guten Klosterfrauen von Gotteszell hatten sich an diesem Tage etwas später als gewöhnlich aus dem Refektorium zurückgezogen. Es hatte heute beim Imbiß viel Gezischel und Gemunkel unter den frommen Schwestern gegeben, und mehr als ein diplomatischer Versuch war gemacht worden, die verehrte Domina Monika über ein Ereignis Reden zu machen, welches seit gestern den ganzen Konvent lebhaft beschäftigte. Aber die leutselige Superiorin war heute ganz ungewöhnlich verschlossen gewesen, und nachdem das Dankgebet gesprochen und die Legende der Tagesheiligen gelesen worden, hatten sich die Schwestern in ihre Zellen zurückgezogen.
Die Pförtnerin saß in ihrem Lugaus zur Seite der Klosterpforte und war gerade im Begriff, ein wenig einzuschlafen, als der Klang der Torglocke sie aus ihrem behaglichen Lehnstuhl aufschreckte.
Grämlich, wie eine alte Pförtnerin unter solchen Umständen zu sein wohl berechtigt ist, ging die Schwester Regula hinaus, öffnete das Guckfensterchen am Torflügel und fragte nach dem Begehren der beiden draußen stehenden jungen Männer, unserer Freunde. Sie erbäten, lautete die Antwort, eine Audienz bei der hochwürdigen Domina Superiorin, welcher sie ein Schreiben vom Pater Aloisius auf dem Bernhardusberg zustellen wollten.
Daraufhin schloß Schwester Regula die Pforte auf und ließ die Besucher eintreten, sagend, sie möchten ihr in das Sprechzimmer folgen und dort warten, bis sie der hochwürdigen Mutter Meldung gemacht hätte.
Indem die beiden Folge leisteten und der Pförtnerin über den Klosterhof nachtraten, murmelte die Schwester Regula für sich hin: »Der eine hat rotes Haar und eine tüchtige, sozusagen vogelschnabelartige Hakennase. Tritt auch, scheint's, recht ordentlich stolz auf. Richtig, der muß es sein.«
Der Dichter und sein Freund hatten keine Zeit, über den seltsamen Umstand, sich plötzlich in dem Oratorium eines Nonnenklosters zu befinden, Betrachtungen anzustellen oder auszutauschen, denn sie hatten nur wenige Minuten gewartet, als die Domina Superiorin hinter dem eisernen Sprachgitter erschien, welches das Gemach vom Boden bis zur Decke in zwei Hälften schied.
Wenn aber die jungen Männer sich auf das Erscheinen einer altehrwürdigen, strengen und griesgrämigen Klosterbeherrscherin gefaßt gemacht hatten, so sahen sie sich angenehm enttäuscht. Die Mutter Monika stand zwar bereits in einem Alter, welches man ein für ihr Geschlecht kritisches zu nennen pflegt, aber sie war immerhin jetzt noch eine stattliche Superiorin, und ihre haselbraunen Augen blickten lebhaft und keineswegs mürrisch und streng, sondern vielmehr eher ein bißchen schalkhaft.
Die Domina erwiderte die ehrerbietige Begrüßung der jungen Männer mit gewinnender Freundlichkeit und nahm das Schreiben des Bernharduspater, welches ihr Raleigh durch das Gitter darreichte, huldvoll entgegen.
Nachdem sie es entsiegelt und gelesen, sagte sie:
»Welcher von Ihnen, meine Herren, ist der, dessen Angelegenheit mir der hochwürdige Herr Pater Aloisius so dringend empfiehlt?«
Raleigh trat vor und verbeugte sich.
»Ah,« sagte die Superiorin, nachdem sie ihn aufmerksam betrachtet hatte, mit einem Ausdruck wohlwollenden Bedauerns. »Ihr Aussehen ist wacker, mein Herr, und ich glaube gerne, daß etwas Besseres als jugendliche Laune und Leichtfertigkeit Sie hierher geführt habe. – Sie sind ein Amerikaner, wie mir der verehrungswürdige Pater schreibt. Also werden die jungen Leute jenseits des Weltmeers ebenfalls von Liebesnöten heimgesucht? Wunderlich! Ich glaubte bisher, besagte Nöten seien bloß in der alten Welt Mode.«
Raleigh lächelte, Schiller lächelte, und die Domina lächelte auch.
»Gott Amor herrscht eben überall mit Omnipotenz,« sagte der Dichter, dem die Sprechweise und das ganze Gebaren der Mutter Monika überaus gefielen.
»Was, mein Herr,« versetzte die Domina, wieder einen Blick in den Brief werfend, »was, Sie sprechen von heidnischen Göttern in einem Konvent von Ursulinerinnen? Gut, daß keine meiner frommen Schwestern Ihre Ketzerei hörte; ich müßte Ihnen sonst eine tüchtige Disziplin geben.
– Sie heißen Schiller, sind ein Doktor, ein Mediziner – ach, das sind mir saubere Christen, die Herren Doktoren! Aber ich will hoffen, Sie wissen vom Gott Amor nur vom Hörensagen. Sie sind ja noch blutjung. Oder–«
»Entschuldigen Sie, Verehrungswürdige, daß ich Ihnen widersprechen muß.«
»Wie? Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie wirklich schon das gewesen, was die Weltkinder verliebt sein nennen?«
»Doch, Verehrte, und jetzt heftiger als jemals!«
Domina Monika war über das dreiste Wesen des Dichters ein wenig verblüfft und rüstete sich, dem kecken jungen Mann ein strafendes Wort zu sagen. Aber das wollte sich nicht recht machen. Der Sünder, obgleich keineswegs ein Ausbund von Schönheit, hatte dennoch in seinem ganzen, Wesen etwas eigentümlich Edles, was ihm die Herzen der Menschen gewann.
Raleigh fand für geraten, sich ins Mittel zu legen. »Verzeihen Sie, verehrte Frau, meinem Freunde seine sonderbare Redeweise,« sagte er. »Sie müssen wissen, er ist ein Poet.«
»Ah so, ein Poet ist er?« sagte die Domina und zeigte dabei ein versöhnliches Lächeln. »Nun, den Poeten muß man vieles nachsehen. Sie reden gerne – in – ei, wie heißt man es doch? – in Hyperbeln, glaub' ich.«
»Verehrungswürdige –« begann Schiller wieder, aber die Domina, den schelmischen Zug um seinen Mund gewahrend, unterbrach ihn mit den Worten:
»Nein, nein, mein Herr Poet. Sie sehen mir gerade danach aus, als ob Sie auf Ihrem Pegasus säßen; aber so ein heidnisches Tier darf in einem Konvent ehrsamer Ursulinerinnen seine Kapriolen nicht machen.«
Sie sprach das voll Güte und sogar mit humoristischem Ausdruck, aber doch zugleich auch so, daß man unschwer merkte, diese Frau sei zwar entschieden keine bigotte und devote, allein dennoch wisse sie sehr wohl die Grenzlinie einzuhalten, wo der Humor aufhörte und ihre Würde als Nonne und Superiorin anfing.
»Mein Herr Amerikaner,« fuhr sie zu Raleigh gewandt fort, »obgleich Sie in so schlimmer Gesellschaft reisen, beklage ich es doch lebhaft, sehr lebhaft, daß ich in der Angelegenheit, welche Sie hierher geführt, nichts tun kann.«
»Wie, verehrte Frau?« fragte Raleigh erschrocken.
»Ja, ich wiederhole es mit Bedauern: ich kann nichts für Sie tun.«
»Aber der Pater Aloisius –«
»Empfahl Sie meinem Beistand unter Voraussetzungen, die nicht mehr vorhanden sind. – Sie kommen um einen ganzen Tag zu spät! Der schöne, wilde Vogel ist ausgeflogen.«
»Lauretta hat Gotteszell verlassen? – Sie ist entflohen?« riefen Raleigh und Schiller wie aus einem Munde.
»Sie sagen es, meine Herren.«
»Wie ging das zu?«
»Ich weiß es nicht. Es kam so überraschend. Vorgestern noch, nach unserer Zurückkunft von einem Bittgang nach dem Salvator, hatte das arme, liebenswürdige und doch, wie ich annehmen muß, so tief verwilderte Kind mir die Mitteilung gemacht, es wäre nicht abgeneigt, für immer bei uns zu bleiben. Lauretta war dabei sehr traurig. Ich dachte mir, die Wallfahrt habe ihr störriges Gemüt plötzlich besänftigt und dem Heile zugewandt. – Gestern morgen war sie fort, spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen waren vergeblich. – Ich kann mir nicht denken, wie sie ihre Flucht bewerkstelligte und wer ihr dabei geholfen. Ein Verdacht, den ich auf eine meiner Klosterschwestern warf, hat sich bis jetzt nicht bestätigt. Ich weiß nicht, wie ich mir die Sache vorstellen, und noch weniger, wie ich den schlimmen Fall bei Sr. Durchlaucht dem Herzog von Württemberg entschuldigen soll, der sich unserem Konvent mehrmals als ein gnädiger Gönner erwiesen hat.«
Und den tiefen Schmerz in Raleighs Mienen wahrnehmend, setzte die gutmütige Domina hinzu:
»Ich würde Sie meiner innigen Teilnahme versichern, mein Herr, wenn ich nicht fühlte, daß unter solchen Umständen jeder Trostversuch ein eitler sein muß.«
»Ich danke Ihnen dennoch, verehrte Frau,« entgegnete Raleigh tonlos und mühsam nach Fassung ringend. »Glauben Sie mir, ich bin Ihnen für Ihre gütige Aufnahme und Ihre edle Teilnahme von Herzen dankbar. – Aber – aber, lieber Schiller, wir haben hier nichts mehr zu tun und wollen der hochwürdigen Superiorin nicht länger lästig fallen.«
Damit war diese Audienz im Sprechzimmer von Gotteszell beschlossen.
Als die beiden Freunde das ihnen von der Pförtnerin geöffnete Hoftor hinter sich hatten, wurde das Guckfensterchen desselben aufgetan, und das Gesicht der Schwester Regula erschien in der Öffnung.
»Bst, bst!« machte sie, ließ einen Brief herausfallen und schloß dann schnell wieder den Laden.
Schiller hob das Papier vom Boden auf. Es war versiegelt und an ihn adressiert. Die graziösen Schriftzüge Laurettas erkennend, riß er hastig das Siegel ab und las die wenigen Zeilen:
»Ich fürchte, teuerer Freund, Ihre und des Herrn Ritters aus Atlantis Vorsicht ist so groß, daß ich auf die daraus resultierende Tapferkeit gar zu lange warten müßte. Das Warten ist nun aber nicht sehr nach meinem Geschmack. Ich gehe also in die weite Welt, nachdem ich unterwegs noch eine schreckliche Bestellung, die mir vorzeiten meine arme Mutter aufgetragen hat, ausgerichtet haben werde.
– Sorgen Sie sich nicht um mich und vergessen Sie die wilde Turbinella! Fühlen Sie sich wieder einmal in der Stimmung, Lauraoden zu dichten, so wird sich wohl unschwer eine andere und bessere Laura finden. – Leben Sie wohl, mein Freund, vielleicht für immer! Und doch – bah, es lebe der Wechsel, das Abenteuer, der Humor!
– Und – ja, das noch! Vergessen Sie nicht, an Ihren Freund meine gehorsamste Empfehlung zu bestellen und ihm gelegentlich zu sagen, wer den Ritter spielen wolle, tue gut, die Tapferkeit ins vordere und die Vorsicht ins hintere Treffen zu stellen. – Addio, caro mio!«
»Wie herzlos!« sagte Schiller voll Zorn. Raleigh sagte gar nichts, und so schritten die beiden sehr schweigsam der Stadt zu.
Auch ihr Abzug aus Gmünd am folgenden Tage war still. Raleigh trieb zum Aufbruch. Er hatte sich am Abend zuvor in der blauen Ente eiligst nach dem fremden Grafen erkundigt, und als man ihm gesagt, derselbe sei gestern morgen, kurz nachdem die beiden Freunde ihren Ritt in die Berge angetreten, mit Wagen und Dienerschaft abgereist, hatte er einen Fluch zwischen den Zähnen zerdrückt.
Mamsell Senzele war nach der Abreise der Freunde den ganzen Tag sehr übler Laune. Sie vermochte es sich nicht zu erklären, warum der Gespiele ihrer Jugend, als sie denselben beim Abschied durch den langen und dunkeln Hausgang begleitete, so gar nicht bemerkt hatte, daß ihm die günstigste Gelegenheit geboten sei, ihr noch eine Freundlichkeit zu erweisen.
Beim Hinabreiten durchs Remstal machte Schiller den Vorschlag, das Kloster Lorch zu besichtigen, aus welchem die Mönche schon zur Zeit des Bauernkrieges vertrieben worden und welches jetzt der Sitz eines herzoglich württembergischen Kastenamtes war. Er wollte dem wortkargen, in düstere Gedanken versunkenen Freund eine Zerstreuung bieten und zugleich die Spielplätze seiner Jugend wieder einmal besuchen, welche seiner Erinnerung stets so teuer geblieben waren.
Nachdem sie in der Herberge zur Sonne, in welcher die Schillersche Familie während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Lorch gewohnt hatte, ihre Pferde untergebracht, gingen sie hinaus und stiegen den Hügel am Flusse hinan, auf dessen Spitze die alten Klostergebäude stehen. Es ist ein schöner Punkt, das stille Waldtal der Rems zu überblicken, auf welches der Rechberg und der Staufen ernst niedersehen.
Sie ließen sich die Klosterkirche öffnen, wo so viele Männer und Frauen des hohenstaufischen Hauses unter den Steinplatten ruhen. Schiller, von seinen Erinnerungen aus der Frühlingszeit des Lebens lebhaft aufgeregt, machte den gesprächigen Cicerone, ohne den Freund aus seinem Schweigen aufrütteln zu können.
Indem sie aus dem Mittelschiffe der Kirche, wo der Sarkophag des Stifters vom Kloster Lorch steht, in das Seitenschiff rechter Hand traten, sagte der Dichter:
»Sieh, da unter diesem Steine schläft die Kaiserstochter aus Byzanz, die Königin Irene. Ihr Tod war ein Triumph der Frauentreue. Der Gram brach ihr Herz bei Empfang der Schreckenskunde, daß ihr Herr und Gemahl, König Philipp, von Otto dem Wittelsbacher ermordet worden sei.«
Raleigh antwortete nur mit einem Achselzucken und mit einem spöttisch-ungläubigen Lächeln, wie es ihm sonst ganz fremd war.
Den Dichter überkam ein unheimliches Gefühl, sich mit dem brütenden Freunde und den stillen Toten länger in die verwitternden Wände der alten Kirche eingeschlossen zu sehen.
Der Sonnenschein draußen, der Anblick der ihn anheimelnden Landschaft, der fröhlich aus dem nahen Walde herüberschallende Vogelgesang ermunterten ihn wieder. Er führte seinen Begleiter geschäftig umher, zeigte ihm alles und setzte sich zuletzt mit ihm unter die vielhundertjährige Klosterlinde. Dann sprang er wieder auf, umschritt den klafterdicken Stamm des ehrwürdigen Baumes und sagte:
»Wieviel hundertmal bin ich in Knabenjahren mit meiner geliebten Schwester Christophine und mit dem guten Konz hier gewesen! Was haben wir in dieser Linde Schatten alles gespielt, geschwatzt, geträumt! – Wie ist mir das ringsher alles so lieb und vertraut! – Konz war voriges Jahr im Frühling hier, und da hat der Gute eine gar herzige Ode an mich gedichtet. Sie hat mich damals tief ergriffen und drängt sich mir jetzt unwillkürlich auf die Lippen:
Sieh, hier auf den Auen der Heimat,
Jetzt unter dem Schirm der alten Linde,
Ach! – die Pflegerin meiner Kindheit –
Jetzt am rieselnden Quell,
Der patriarchalisch sein schwarzblaues Wasser
Geußt aus der hölzernen Urn'
In das Becken, gewölbt von der Künstlerhand der Natur –
Jetzt an den Krümmungen des Walds,
Der widertönt vom Gesang der Vögel,
An schattigen Tannen und Eichen,
Wo mir kläglich herabtönt der Holztaube Gegirr;
Dort vor mir der hochdrohende Rechberg
Und weiter hinten, wo unten die Flur,
Vom Weidenbach durchschlängelt,
Halb umkränzet den Wald,
Majestätisch emporhebend den Riesenrücken,
Dein Stolz, Suevia,
Der mächtige Staufenberg!
Ach, wie sie mir vorübergaukeln vorm Phantasieblick
Die Freuden der Kindheit!
Wie mir jeder Fußtritt, jede Statt'
Ist ein Blatt,
Worauf lebendig mich anspricht
Mein Knabengefühl!
Und o, wie du schon da
Manche kindische Freuden mit mir teiltest,
Da noch schlummernd in uns
Ruhte der Funke, der jetzt
Aufzulodern begann–«
Der Dichter war selber aufgelodert bei diesem Erguß einer der seinigen befreundeten Poetenseele. Aber da fiel sein Auge auf den teilnahmlos vor sich hinsehenden Freund, und er vergaß im Mitgefühl um diesen seine Erinnerungen. Er brach rasch ab, faßte Raleigh bei der Hand und sagte nur:
»Armer Freund!«
William schaute auf, schüttelte sich, als wollte er einen lästigen Alp entfernen, erwiderte den Druck der Freundeshand und sagte, indem er aufstand:
»Sei unbesorgt, teurer Friedrich, der Traum ist aus, der Zauber ist gebrochen. Es war nach dem Unglückstag bei Kamden, als die amerikanische Sache nahezu verzweifelt stand, da hört' ich den großen Washington den Kreis seiner bekümmerten Freunde mit einem Worte des römischen Dichters aufrichten. Rebus angustis animosus atque fortis adpare, so lautet, glaub' ich, der Spruch. Ich hab' mir den Sinn wohl gemerkt, und mag es unstatthaft sein, jenes in einer Stunde großer öffentlicher Not gesprochene und dadurch geweihte Wort auf kleines persönliches Unglück anzuwenden, eins ist gewiß: es gilt auch mir zu dieser Stunde und macht mich fühlen, daß es meines Vaters Sohn gezieme, ein Mann zu sein.«