Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel.

Der Leser macht die Bekanntschaft eines Herkules, eines Dalmaten und eines Virginiers. – Eine väterliche Schrulle. – La Turbinella. – Komische Epiphanie eines angehenden Tragikers. – Die »Räuber«. – Ein flatterndes Gürtelband.

An einem linden Märztage des Jahres 1782 war in Stuttgart die Wachtparade zur gewohnten Stunde aufgezogen, hatte aber verhältnismäßig nur wenige Zuschauer angezogen; denn sie bot lange nicht mehr den prächtigen Anblick von ehemals, wo der Herzog selbst nie verfehlt hatte, mit einem glänzenden militärischen Gefolge bei dem Schauspiel zu erscheinen. Die aufgezogene Mannschaft, ein paar Kompagnien vom Grenadierbataillon Auge mit ihren Trommlern und Pfeifern, kennzeichnete sich schon durch die Dürftigkeit, ihrer Uniformierung als ein beiseite gestelltes Spielzeug der fürstlichen Laune. Der Schloßplatz, früher zu dieser Stunde vom buntesten Gewühl erfüllt, sah jetzt ziemlich leer und öde aus. Von höheren Offizieren war nur erschienen, wer gerade mußte, und dem General Auge, welcher vor der Front die Rapporte der ab und zu gehenden Offiziere entgegennahm, konnte, man deutlich ansehen, daß er mit seinen Gedanken mehr bei dem gutbesetzten Mittagstisch verweilte, welcher ihn zu Hause erwartete, als bei den langweilig stereotypen Meldungen, die ihm gemacht wurden.

Die Ärmlichkeit der Szene schien einen Fremden von mittleren Jahren, welcher mit zwei jüngeren Begleitern am Ausgange des Kanzleibogens stand, nicht wenig zu frappieren. Seine dunkeln Augen voll Geist und voll Rastlosigkeit schweiften über die steifen Linien der Soldaten hinweg nach den Fenstern des alten Schlosses, als erwartete er von dorther irgend eine Unterbrechung des eintönigen Schauspiels. Er war ein Mann von hoher Statur, gebaut wie ein Herkules. Zu der Kühnheit seiner Züge, welche ein Paar Pockennarben keineswegs entstellten, stimmte sein südlicher, fast amerikanischer Teint ganz gut. Er trug den reichen Anzug eines Weltmanns von damals mit einer gewissen vornehmen Nachlässigkeit, die aber einem schärferen Beobachter leicht als nicht ganz ungekünstelt hätte erscheinen können. Seine Bewegungen waren rasch und zeugten davon, daß in diesem gewaltigen Körper heftige Leidenschaften hausten.

Der eine seiner Begleiter war ein blutjunger Leutnant in der Uniform des herzoglichen Jägerkorps. Der scharfe Schnitt seines Gesichts und die gelbliche Farbe desselben deuteten ebenfalls auf einen südlichen Ursprung. Dagegen war die dritte Person dieser Zuschauergruppe ein Germane jeder Zoll, eine schlanke, ebenmäßig gebaute Gestalt in der ersten Blüte des Mannesalters. Lichtbraune Haare kräuselten sich über der gediegen geformten Stirn des jungen Mannes, unter welcher blaue Augen mit dem Ausdrucke ruhigen Mutes hervorblickten. Damit harmonierte sein gebräuntes Gesicht, dessen linke Wange die vernarbte Spur einer nicht unbedeutenden Hiebwunde zeigte. Auch abgesehen davon, hätte man sagen mögen, der junge Mann müsse schon in Gefechten gestanden haben, so ungezwungen sicher, frei und frank war seine Haltung. Sein friedlicher Anzug schien dieser Annahme freilich zu widersprechen. Es war ein ganz einfacher, ziviler und doch ungewöhnlicher. Er bestand weder aus den bunten Stoffen der eleganten Männertoilette, noch ähnelte er der Genietracht jener Tage, wie sie Goethes Werther in Aufnahme gebracht hatte. Der junge Mann war von der Werthermode der hellblauen Frackröcke, Westen und Beinkleider von weißem Kanevas mit Stulpstiefeln offenbar gar nicht berührt. Seine Tracht verriet in seiner Einfachheit der Farben und des Schnittes jene puritanische Bürgerlichkeit, womit der große Franklin, als er an den französischen Hof gekommen, um für die junge Republik jenseits des Ozeans den Beistand Frankreichs zu erwirken, auf den Promenaden von Versailles zuerst Erstaunen und dann nachahmenden Beifall hervorgerufen hatte. Auch die Frisur war von demokratischer Simplizität. Von Puder unberührt, zeigte das Haar des jungen Mannes seine natürliche Farbe und war im Nacken in einen schlichten Zopf gebunden. Den Zopf hatte die Erklärung der Menschenrechte drüben in der neuen Welt noch nicht abgeschnitten. Erst die französische Revolution sollte dieses tatarische Anhängsel beseitigen, zur gleichen Zeit, als das Messer der Guillotine neben den Zöpfen auch Köpfe abschnitt und darunter schönste und beste.

Wie im Anzug, bildete der junge Mann in seiner ganzen Erscheinung einen großen Gegensatz zu dem blatternarbigen, herkulischen Stutzer, neben welchem er stand. Wie in diesem etwas ausgeprägt Abenteuerliches, so war in ihm etwas ausgeprägt Tüchtiges, Solides. Seine zurückhaltende, in sich gefaßte Miene verriet, daß der Ernst des Lebens frühzeitig ihm nahegetreten. Man hätte bei oberflächlichem Betrachten seiner Züge und seines Gebarens glauben mögen, die schwärmerische Strömung der Zeit, welche nicht allein die deutsche, sondern die europäische Jugend in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfaßt hatte, sei an diesem jungen Mann wirkungslos vorübergegangen. Und doch war da um seinen Mund ein weicher Zug, welcher einen Physiognomiker wie Lavater hätte zu der Behauptung verführen können, der junge Mann habe einer Zeitstimmung, welche der Goethesche Roman für alle Zeiten künstlerisch fixiert hat, entweder seinen Tribut schon entrichtet, oder aber er werde denselben künftig noch bezahlen.

Die Unterhaltung zwischen den drei Herren wurde in französischer Sprache geführt, welche aber keinem von ihnen so recht von der Zunge floß. Der Herkules und der junge Offizier ließen sehr merkbar den italienischen, ihr Gefährte ließ nicht weniger deutlich den englischen Akzent durchklingen.

»Mein lieber Graf,« sagte der Herkules, mit dem reichen Behänge seiner zwei Uhren spielend, »da traue noch einer dem Hörensagen! In Paris und am Rhein hörte ich die merkwürdigsten Geschichten von der Soldatenpracht des Herzogs von Württemberg, und nun habe ich seit meinem Hiersein gerade das Gegenteil davon bemerkt. Kann man etwas Ärmlicheres sehen als diese armen Teufel in ihren abgeschabten Uniformen, die ihnen überall zu kurz oder zu lang sind? Und dann – ich bedaure, das vor den Ohren eines herzoglichen Offiziers sagen zu müssen – scheinen diese Helden jeden Fremden ohne weiteres für einen Feind anzusehen, dem sie zwar nicht mit dem Bajonett, wohl aber mit Betteln zu Leibe gehen. Auf diese Art bin ich schon häufig in den Straßen der Stadt angefochten worden – ich bitte tausendmal um Entschuldigung.«

»Bemühen Sie sich nicht, Herr Chevalier,« entgegnete der junge Graf Zuccato, welcher, aus dem venezianischen Dalmatien stammend, vor wenigen Monaten mit dem Patent eines Jägerleutnants aus der herzoglichen Militärakademie entlassen worden war. »Die Armseligkeit unserer militärischen Zustände ist so offenkundig, daß da kein Vertuschen hilft. Aber was wollen Sie? Sie hätten müssen ein halbes oder lieber noch ein ganzes Dutzend Jahre früher nach Stuttgart kommen, wenn Ihnen daran lag, die militärische Herrlichkeit des Herzogs zu sehen. Jetzt ist es mit dieser Passion vorbei, gründlich vorbei. Serenissimus geruht jetzt, den Pädagogen und Gärtner zu machen, und wir Soldaten haben Ruhe.«

»Sie sprechen ziemlich leichthin von Ihrem Souverän und von Ihrem Stand, mein lieber Graf,« meinte der Herkules lachend.

»Ich? Bah! Es war der Wille meines Vaters, daß ich auf dieser verhenkerten Militärakademie erzogen werde, wie er sich ausdrückte, und es ist sein Wille, daß ich ein Paar Jahre in einer württembergischen Offiziersuniform herumlaufe. Die Herren Väter haben zuweilen wunderliche Schrullen im Kopf, wissen Sie? Ich, als gehorsamer Sohn, füge mich dieser Schrulle. Später soll ich reisen und die Welt sehen. Bis dahin ist es mir ganz recht, daß der Herzog die frühere Liebhaberei aufgegeben hat. Das macht uns den Dienst leicht und verschafft uns Zeit zu amüsanteren Beschäftigungen.«

So sprechend reckte sich das schmächtige Kerlchen, rückte sich den Halskragen zurecht, lächelte pfiffig und bemühte sich ungemein wie ein vollendeter oder wenigstens wie ein angehender Roué auszusehen.

Der Chevalier verbiß ein Lächeln und wandte sich an den einfach gekleideten Gentleman an seiner andern Seite mit den Worten:

»Mein Herr Virginier, empört es Ihre Ernsthaftigkeit nicht, unsern jungen Freund hier so leichtfertig sprechen zu hören?«

»Wie?« versetzte der Angeredete.

»Ah,« sagte der Herkules, »ich sehe, Sie waren beschäftigt, die Scheiben an den Fenstern des Schlosses zu zählen, und haben darob unser Gespräch überhört.«

Dann beugte er sich zu dem Ohre des jungen Amerikaners und flüsterte:

»Ist die Göttin erschienen?«

Der Virginier bemeisterte rasch eine leichte Verwirrung und entgegnete ruhigen Tones: »Welche Göttin?«

»La Turbinella.«

»Eine wunderliche Vermehrung der Namen des Olymps!«

»Freilich. Aber der Name paßt zu seinem Gegenstande. Das werden Sie zugeben.«

»Ich? Ich kenne die Dame sozusagen bloß vom Hörensagen.« »Doch wohl auch vom Gesicht, sollte ich meinen. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich bemerkt zu haben meine, daß Sie auf der letzten Redoute von Ihren Augen einen sehr angestrengten Gebrauch machten.«

»Und wenn? Man hat die Augen doch wohl zum Sehen?«

»Gewiß, aber die Zunge hat man, um damit zu reden.«

»Sie meinen –«

»Ich meine, daß mir ein gewisser Herr von jenseits des Meeres in Bälde eine gewisse Wette zu bezahlen haben werde.«

Der Virginier machte eine kurze heftige Bewegung, man wußte nicht recht des Unglaubens oder der Verachtung.

»Sie scheinen Ihrer Sache sehr gewiß zu sein, Herr Chevalier,« sagte er dann, nicht ohne eine gewisse Schärfe der Betonung.

»Ich verlasse mich auf die Kabbala, mein lieber Herr Raleigh. Mein Orakel betrügt mich selten, und Sie sollen sogleich in den Stand gesetzt werden, über die Verläßlichkeit desselben zu urteilen.«

»Wieso, mein Herr?«

»Es hat mir angekündigt, daß wir unsere Göttin zu Gesichte bekommen sollten, bevor das Ding da, was man eine Wachtparade zu nennen beliebt, zu Ende ginge.«

»Wirklich?«

»Ihr spottender Ton ist übel angebracht, corpo di Bacco! – Erheben Sie gefälligst die Augen – dorthin, zum letzten Fenster der zweiten Enfilade des Schlosses, links von dem großen runden Eckturm.«

Ein halbunterdrückter unartikulierter Laut kam von den Lippen des jungen Mannes, welchen der Herkules Herr Raleigh genannt hatte.

An dem bezeichneten Fenster, dessen einer Flügel halb geöffnet war, stand ein junges Mädchen, dessen Schönheit, soweit die Entfernung ein Urteil gestattete, eine ungewöhnliche sein mußte. Da die Schöne barhaupt ging, sah man ein üppiges Haar, dessen Rabenschwärze nicht von Puder befleckt war und ein großes strahlenwerfendes Augenpaar, welches eine Sekunde lang forschend über den Platz streifte. Dann senkte es sich fest auf einen Punkt desselben, welcher aber nicht der war, wo der Chevalier und Raleigh standen.

»Seht mal die Turbinella!« sagte der Graf Zuccato, welcher beiseite getreten, einen Bekannten zu begrüßen, und jetzt zurückkam. »Wie schön sie ist! Ich glaube, ich würde mich um einen zärtlichen Blick von ihr noch für ein ganzes Jahr in die verwünschte Akademie einsperren lassen.«

Raleigh stand mit untergeschlagenen Armen und bemühte sich, sehr gleichmütig auszusehen.

Der Herkules verfolgte mit den Augen die Richtung, welche die Blicke der Dame genommen, und seine Brauen zogen sich zuerst finster zusammen. Dann aber glättete sich seine Stirne rasch wieder, und er sagte mit Lachen zu seinen Begleitern:

»Sehen Sie doch, meine Herren, das ungeheuerliche Ding, nach welchem La Turbinella ausschaut. Sie scheint an Karikaturen Geschmack zu finden.«

Und er deutete auf die Gruppe von Offizieren, welche um den General Auge versammelt war.

Es gab dort wirklich etwas, was Heiterkeit erregen konnte, etwas, was wie eine Karikatur aussah.

Das war ein junger, ungewöhnlich langer »Regimentsfeldscher«, welcher in steifster, das heißt unbehilflichster Paradehaltung auf den General zuging oder vielmehr zustapfte, um einen Rapport abzugeben.

Er sah komisch aus, fürwahr, eingepreßt in die Uniform nach altem preußischem Schnitt, die namentlich bei den Herren Regimentsfeldscherern steif und abgeschmackt war. Der lange Hals des jungen Mannes war unbeweglich in eine roßhaarene Krawatte eingezwängt. An jeder Seite des Gesichtes hatte er drei starre vergipste Rollen, welche sogenannte Taubenflügel vorstellten. Sein kleiner Militärhut bedeckte kaum den Kopfwirbel, in dessen Nähe ein langer, dicker Zopf gepflanzt war. Sehr merkwürdig war auch das Fußwerk. Durch die dicke Filzunterlage der weißen Gamaschen waren seine Beine, zwei Zylindern gleich, von einem größeren Durchmesser als die in knappe Hosen gepreßten Schenkel. In diesen Gamaschen, die ohnehin mit Schuhwichse sehr befleckt waren, bewegte er sich, weil er die Knie nicht recht biegen konnte, wie ein Storch.

»Hilf Himmel,« sagte der Chevalier, »welch ein Adonis!«

»Wen meinen Sie?« fragte der junge Offizier.

»Nun, die Vogelscheuche dort. Ich habe selten etwas so Groteskes gesehen.«

»Pardon, mein lieber Landsmann. Ich muß Sie bitten, mit mehr Respekt von meinem Freunde, dem Doktor Schiller, zu reden. Allerdings sieht er verteufelt schnurrig aus in seiner dienstlichen Erscheinung, über die unter seinen Freunden schon die tollsten Witze losgelassen wurden. Aber, mein Herr, ich sage Ihnen, er hat unter seiner schauerlichen Frisur mehr, viel mehr Geist, als wir andern alle auf diesem Platze zusammen.«

»Der?«

»Allerdings. Haben Sie nicht von der neuen Tragödie gehört, welche dermalen das Publikum aller deutschen Länder in Aufruhr bringt?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Wie, Sie sollten nichts von den ›Räubern‹ gehört haben und kamen doch vom Rhein her?«

»Räuber? Räuber? – Warten Sie! Ja – ich meine mich zu erinnern, daß ich an den Wirtstafeln in Mainz und Mannheim davon reden hörte.«

»Ja, in Mannheim wurde das gigantische Stück zuerst aufgeführt, am dreizehnten Januar dieses Jahres. Die ganze Akademie wollte hin, denn Sie müssen wissen, daß Schiller die ›Räuber‹ noch als Zögling dieser Anstalt gedichtet hat, und daß in dem Werke mehr als einer seiner Akademiegenossen abkonterfeit ist. Aber keiner von uns erhielt Urlaub, und der Dichter selbst mußte heimlich nach Mannheim gehen, um sein Erstlingswerk in Szene gehen zu sehen. Ist das nicht schändlich? Die purste Tyrannei! Aber Schiller erhielt glänzende Satisfaktion, denn das Stück machte Furore. Der prächtige Mensch, als er es schrieb, sagte er zu uns: »Wir wollen ein Buch machen, das absolut durch den Henker verbrannt werden muß.« Das zwar ist bislang noch nicht geschehen, kann aber wohl noch kommen; denn unsere alten Perücken und die Schreibersknechte sind wütend darüber, während alle die anderen Leute darüber entzückt sind. Schade, daß Sie nicht deutsch verstehen! Sie müßten das Stück lesen, denn es ist auch gedruckt. Da ist alles Glut und Leben und Leidenschaft, Wahrheit, Empörung gegen unser infames, tintenklexendes Säkulum, Römermut, Feuer und Flamme! Der Schiller ist ein Prachtexemplar von Kerl, er ist ein Titan, ganz ein Titan!«

»Ihre freundschaftliche Begeisterung macht Ihnen Ehre, mein lieber Landsmann. Aber geht sie nicht zu weit? Der Mensch da ein Poet? Sehen Sie, gerade wäre er ums Haar über seine eigenen Elefantenfüße gestolpert.«

»Ach was, was tut das? Der Schiller ist der beste und genialste und liebenswürdigste Mensch unter der Sonne. Was kann er dafür, daß ihn der Herzog in diese verhenkerte Feldschereruniform gezwungen hat? Wenn Sie übrigens meinem Urteil über die ›Räuber‹ nicht trauen, so fragen Sie Herrn Raleigh, welcher der ersten Aufführung des Stückes in Mannheim angewohnt und bei dieser Gelegenheit Schillers Bekanntschaft gemacht hat.«

»Ist es so, Herr Raleigh?«

»Ja,« erwiderte der Gefragte in seiner ruhigen Weise. »Die ›Räuber‹ sind, soweit mir ein Urteil zusteht, ein wilder Erstling, der an die Erstlinge des großen Shakespeare erinnert –«

»Shakespeare?« fiel der Chevalier mit mitleidigem Achselzucken ein. »Ich erinnere mich noch mit Vergnügen der Stunde, wo ich die Ehre hatte, in Ferney den göttlichen Voltaire über diesen britischen Reimer sich lustig machen zu hören. Er nannte denselben einen betrunkenen Wilden.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr, wenn Voltaire dies tat, so bewies er damit, daß er den Shakespeare, entweder nicht kannte oder nicht verstand. Ich habe einen in solchen Dingen völlig kompetenten Mann sagen hören, selbst in dem unbedeutendsten Shakespeareschen Stücke sei immer noch mehr wahre Poesie als in sämtlichen Trauerspielen Corneilles, Racines und Voltaires zusammengenommen.«

»Gewiß, so ist es,« bekräftigte der junge Jägeroffizier mit dem vorlauten Wesen seines Alters. »Sie müssen wissen, Herr Chevalier, wir Poeten von der Akademie – Verzeihung, ich vergaß Ihnen zu sagen, daß auch ich mich erkühne, zuweilen einen Streifzug auf den Parnaß zu machen – ja, wir Poeten von der Akademie, wir sind samt und sonders eingefleischte Shakespeareaner. Zu Anfang, als uns der gute Professor Abel mit dem großen Briten bekannt machte, wollten uns seine Werke nicht recht munden. Das machte, wir verstanden sie nicht. Aber mit dem Verständnis kam auch die Bewunderung. Einige von uns machten sich auch ans Englische, um den Meister nicht bloß in der Wielandschen Übersetzung lesen zu können. Dabei leistete uns der gute Georg, unseres Freundes Raleigh Bruder, welcher viel zu früh zum Orkus hinab mußte, der arme Junge! seine liebenswürdigen Dienste. Ja, was wollte ich sagen? Richtig, nur das, daß der Genius Shakespeares den unseres Schiller geweckt hat, und, bei Fallstaffs Bauch! ich meine, der alte William müsse sich in Elysium nicht schlecht darüber freuen, daß ihm endlich ein Nachfolger erstanden.« Ein leises Lächeln des Spottes umspielte die Lippen des Chevaliers bei dieser jugendlichen Expektoration. Aber er war zu sehr Weltmann, um sich weiter in einen ernsthaften Streit einzulassen, und begnügte sich zu sagen:

»Mein lieber Graf, ich fürchte fast, Sie haben so lange in diesem deutschen Nebellande gelebt, daß Sie den Geschmack für die großen Meister unseres sonnigen Heimatlandes verloren. Was sind alle die ungeheuerlichen nordischen Versuche in der Poesie, verglichen mit den Werken unseres Petrarca, Ariosto, Tasso?«

»Hm,« entgegnete der Jüngling eifrig, »nach den langweiligen Tüfteleien Petrarcas sehne ich mich keineswegs zurück. Ariosto, ja, auf den bin ich stolz wie nur irgend ein Italiener. Aber Sie sollten nicht so wegwerfend von der nordischen Poesie sprechen. In Deutschland insbesondere ist ein ganz neuer Geist erwacht. Natur, Freiheit, Krieg der Unvernunft! ist sein Feldgeschrei. Sie sollten die Werke seiner Vorkämpfer kennen lernen, mein Herr. Klopstock, Wieland, Lessing, Bürger, Herder, Klinger, Goethe und unser Schiller –«

»Corpo di Bacco,« lachte der Chevalier, »ich habe schon an den Namen genug. Was für barbarische Laute! Wer wird in einem solchen Idiom dichten können? Wie sehr hatte Kaiser Karl der Fünfte recht, als er sagte, die deutsche Sprache sei nur eine Sprache für Pferde.«

»Kaiser Karl hatte unrecht,« sagte Raleigh mit gemessenem Ernst, »und ich muß Sie bitten, mein Herr, zu beachten, daß ich ein halber Deutscher bin. Die deutsche Sprache ist die meiner Mutter.«

»Pardon,« erwiderte der Chevalier artig; »wäre mir dieser Umstand bekannt gewesen, so hätte ich es sicherlich unterlassen, den alten Kaiser Karl zu zitieren. Aber wir sind von unserem Gesprächsgegenstande ganz abgekommen. Wir sprachen von dem Trauerspiel des merkwürdig aussehenden Herrn dort – wie heißt er doch? Sie haben das Stück gesehen, Herr Raleigh?«

»Ja, und einen höchst bedeutenden Eindruck habe ich davon empfangen.«

»Bitte, sagen Sie mir davon etwas mehr. Ich bilde mir zeitweise ein, ebenfalls ein Stück von einem Poeten zu sein, und daher interessiert mich alles Derartige.«

»Sie werden mich, ohne das Stück selbst zu kennen, kaum verstehen. Man muß die Blitze selber flammen, die Donner selber rollen gehört haben, um die Wirkung eines Gewitters nachempfinden zu können. Ich hatte auf meiner Reise von Paris hierher in Mannheim einen Rasttag gemacht. Durch die Straßen der freundlichen Stadt schlendernd, sah ich an den Gassenecken und Brunnenröhren einen Theaterzettel angeklebt, welcher ankündigte, daß am Abend aufgeführt werden sollten ›Die Räuber‹, ein Trauerspiel von Schiller. Stück und Verfasser waren mir ganz unbekannt, aber auf meiner Fahrt rheinaufwärts hatte ich da und dort von dem Mannheimer Theater als einem vortrefflichen reden gehört. Es stände, hieß es, unter der ausgezeichneten Leitung des Freiherrn von Dalberg und bedeutende Künstler, ein Iffland, Boeck, Beil und Beck, widmeten dieser Bühne ihr Talent. Da gerade diese Schauspieler auf dem Theaterzettel als die Inhaber der Hauptrollen bezeichnet waren, beschloß ich das Stück zu sehen. Es war aber nichts Leichtes, einen erträglichen Platz zu bekommen. Die Ankündigung der Aufführung hatte in der ganzen Gegend Sensation gemacht. Aus Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Worms, Mainz und Speyer waren die Leute zu Roß und Wagen herbeigeströmt, um die Dichtung in Szene gehen zu sehen, welche, wie mir ein gefälliger Nachbar mitteilte, im vorigen Sommer zu Stuttgart im Druck erschienen war. Die drei ersten Akte machten keine große Wirkung auf das gedrängt volle Haus. Man mußte sich erst an diese titanenhaften Gedanken, diese gigantischen Empfindungen, ausgedrückt in einer Sprache, die wie ein entfesselter Bergstrom einherbrauste, gewöhnen, um diese elektrischen Schläge einer kraftgenialischen, über alle konventionellen Schranken kühn hinwegspringenden Unbändigkeit so recht auf sich wirken zu lassen. Was mich betrifft, so fing ich an zu begreifen, was mit den Ausdrücken Kraftgenie und Sturm und Drang, welche ich kürzlich am Rhein so oft vernommen, gemeint sei. Das Stück riß in seinem Fortgang die Zuschauermenge mit sich fort, ein tosender Wirbelwind, dem nicht zu widerstehen war. Alles lauschte mit einer atemlosen Spannung, die nur zuweilen von wildem Beifallsruf unterbrochen wurde. Das Stück kam mir vor wie ein Löwe, der mit majestätischem Gebrülle gegen das Gitter seines Käfigs anspringt. Mein Nachbar, in welchem ich nachher den Buchhändler Schwan kennen lernte, machte mich leise auf den Dichter aufmerksam, der unerkannt unter der Menge stand und von dessen Anwesenheit nur wenige wußten. Ich sah, als der Beifall immer stürmischer, der Eindruck immer gewaltiger wurde, daß ein Blitz stolzer Befriedigung über die mächtige Stirne des jungen Mannes hinfuhr; ich sah ihn tief erschüttert, wie wir andern alle es waren, in jener furchtbaren Szene, wo Iffland in der Rolle des Franz Moor die Höhe seiner Darstellungskunst erreichte, in jener Szene, wo er seinen Traum vom Jüngsten Gericht erzählte, um, die Lampe in der Hand, welche sein geisterhaft bleiches Gesicht beleuchtet, am Ende wie zermalmt von der entsetzlichen Vision in sich zusammenzubrechen. Nach beendigter Vorstellung speiste der Dichter mit den Schauspielern und mehreren Verehrern seiner Muse zusammen. Durch Herrn Schwans Gefälligkeit erhielt ich Zutritt zu der Gesellschaft und hatte die Ehre, die Bekanntschaft des Dichters und seines Freundes Petersen zu machen, welcher ihn nach Mannheim begleitet hatte. Es war ein herrliches Symposion. Folgenden Tages machte ich mit Schiller und Petersen die Reise hierher, und seitdem bin ich so glücklich, den Dichter der ›Räuber‹ meinen Freund nennen zu dürfen. Ihm steht, wenn nicht alle Anzeichen täuschen, sicherlich eine große Zukunft bevor.«

»O ganz gewiß!« rief der junge Offizier mit schöner Teilnahme aus. »Der Schiller ist ein Prachtkerl, der alle andern niederdonnern wird. Aber sagen Sie doch, Herr Raleigh,« fügte er weniger geräuschvoll hinzu, »war es bei jenem Symposion, daß sich Schiller in die Margarete Schwanin verliebte? Der Petersen hat von so was gemunkelt, will aber nicht mit der Sprache heraus, und Schiller selbst spricht gar nicht davon. Uns Akademiker interessiert das Ding ungeheuer. Schiller war in die Turbinella verschossen, wie wir andern alle. O, was haben wir für Oden auf sie gemacht, Schiller freilich die pompösesten. Die Klatschbasen meinten, die Gedichte gingen auf Schillers Hauswirtin, die Hauptmännin Vischer. Aber das ist dummes Zeug. Die Vischerin ist ein ganz gutes Frauchen, aber wenn sie es auch versteht, den unübertrefflichsten, einen wahrhaft kraftgenialen Punsch und Kardinal zu brauen, so ist sie doch kein Odenstoff. Also, wie ist es mit der Schwanin?«

»Da bin ich überfragt. Ich hatte damals in Mannheim nur Augen und Sinn für Schiller selbst und sein Werk. Aber sehen Sie, die Parade ist zu Ende und da kommt der Dichter auf uns zu. Fragen Sie ihn selbst.«

Der Chevalier hatte des Gespräches der beiden nicht mehr geachtet, sondern seine Aufmerksamkeit wieder dem Eckfenster am großen runden Turme des Schlosses zugewendet. Die Schöne war noch dort, blickte jetzt, wie in Gedanken verloren, in die blaue Luft und ließ die Enden des langen roten Bandes, womit sie ihr Hauskleid gegürtet hatte, spielend aus dem Fenster flattern.

»Sehen Sie das Band, Herr Raleigh?« fragte der Chevalier flüsternd.

»Ja.«

»Was halten Sie davon?«

»Nichts.«

»Mit Unrecht. Das Flattern dieses Bandes ist ein Zeichen, daß ich unsere Wette zu zwei Dritteilen gewonnen habe. Binnen heute und drei oder vier Tagen werde ich imstande sein, Ihnen mehr zu sagen. Um es aber zu können, muß ich jetzt meinen Geschäften nachgehen. Auf Wiedersehen, meine Herren.«

Er ging rasch über den Platz, und Raleigh wollte es scheinen, der Mann grüße im Gehen mit einem eigentümlichen Hutschwenken zu dem Schloßfenster empor. Von dort entschwand im nämlichen Augenblick Band und Dame.

Der Regimentsarzt Schiller trat grüßend zu seinen beiden Freunden heran.


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