Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Drittes Kapitel.

Der verirrte Dichter und der Hund Epikur. – Das Sanssouci des Waldphilosophen. – »Beim Sankt Lukretius!« – Die Geschichte eines Freidenkers.

Die Freundin hatte beim Abschiede den Dichter ängstlich und dringend gewarnt, auf den nächtlichen Waldwegen sich nicht zu verirren.

»Seien Sie unbesorgt, teure Lolo,« hatte er erwidert. »Ihre guten Wünsche begleiten mich ja, geleitende Genien. Wie sollte ich da fehlgehen können?«

Das war nun gesprochen, wie ein Poet zu sprechen pflegt, vielleicht wie ein liebender. Aber der Idealismus zog auch hier wieder gegen die Realität den Kürzeren. Mochten immerhin den Dichter die guten Wünsche der Titanide als schützende Genien geleiten, er ging doch fehl.

Und das hätte auch einem begegnen können, der aufmerksamer auf die mancherlei Verschlingungen der verschneiten Steige geachtet hätte als Schiller, denn das vereinte Licht des Mondes und der Sterne war nicht kräftig genug, das Dunkel der schweren Fichtenschatten genugsam zu erhellen.

Es war jedoch heute nicht zum erstenmal, daß der Dichter um diese Zeit von dem verschollenen Schlosse heimwärts ging, und seines Weges sicher, wie er glaubte, überließ er sich sorglos seinen Gedanken.

Womit diese sich beschäftigten, brauchen wir kaum erst zu sagen.

Lolo hatte sich ihm heute mehr geoffenbart als bei früheren Begegnungen mit ihr, und der Eindruck ihrer genialischen Persönlichkeit auf den Dichter war ein dieser Offenheit entsprechender.

»Sie ist eine große, sonderbare weibliche Seele,« sprach er bei sich, »ein wirkliches Studium für mich. Sie könnte einem größeren Geiste, als der meinige ist, zu schaffen geben. Mit jedem Fortschritt unseres Umgangs entdecke ich neue Erscheinungen an ihr, die mich entzücken wie schöne Partien in einer Landschaft.«

Uns will scheinen, in diesem kurzen, aber charakteristischen Selbstgespräche wehte nicht so fast der heiße Odem der Leidenschaft als vielmehr der kühle Zugwind der Reflexion. Vielleicht täuschte sich der Dichter selbst, indem er die Sprache des Kopfes oder höchstens die der Phantasie für die Sprache des Herzens nahm. Wir meinen sagen zu dürfen, die Baronesse sei für Schiller mehr ein psychologisches Problem als ein Gegenstand leidenschaftlicher Neigung gewesen.

Er mußte jetzt aber lange über eine Stunde gegangen sein, und noch immer wollte der Wald kein Ende nehmen. Er fühlte sich ermüden; in dem bitterkalten Nachthauch hing sich schwerer Reif an seine Kleider und Haare, und mit nicht geringem Schrecken fand er sich zuletzt in einem Gewirre von Schnee, Baumstämmen und Gestrüppe, welches ihm verriet, daß er von seinem Weg abgekommen sein müsse. Er suchte sich zurechtzufinden, aber um so vergeblicher, als der inzwischen untergegangene Mond den Wald in schwärzeren Schatten zurückgelassen hatte. Er drang vorwärts auf dem hartgefrorenen Schnee, kam aber nur tiefer in krausverschlungenes Brombeergeranke hinein. Er blickte zu den Sternen auf, wie um sich bei ihnen Rats zu erholen. Aber sie schimmerten nur kalt und kümmerlich durch die dunkeln Wipfel und gaben, wie Lolo heute abend gesagt hatte, keine Antwort. Das Gefühl der Gefahr drang sich dem Dichter unwiderstehlich auf, und wer jemals in seiner Lage sich befunden, wer jemals in einer bitterkalten Winternacht im wilden Forste sich verirrt hat, wird begreifen, daß dieses Gefühl ein lähmendes sein mußte.

Zum Glücke währte die peinliche Situation nicht lange.

Seitab in geringer Entfernung schlug ein Hund an.

Der Dichter, im Glauben, dieser ermunternde Ton komme aus seinem Dorfe, machte sich mit neuem Mut daran, aus der Schlucht, in welche er hineingeraten war, hinauszukommen. Mühselig klomm er eine jähe Wand hinan und hatte eben die Höhe erreicht, als er in dem Gestrüpp vor sich etwas rascheln hörte. Im Augenblicke darauf sah er sich von einem großen Hund angesprungen, aber nicht in feindlicher Absicht, und voll Freude rief er aus:

»Ah, Epikur, du bist's! Willkommen, hochwillkommen, mein gutes Tier!«

Der Hund mit dem philosophischen Namen umsprang wedelnd und die Freudenlaute seiner Hundesprache ausstoßend den Verirrten, der sich liebkosend zu ihm niederbeugte. Dann zottelte er mit der Klugheit seiner Rasse dem Dichter voraus, welcher seinem Führer ungesäumt folgte.

Nachdem er so ein paar hundert Schritte gegangen, schimmerte ihm beim Umbiegen um eine Felsengruppe zwischen den Baumstämmen hindurch Licht entgegen.

»Richtig, da ist ja die Siedelei meines Waldphilosophen,« sagte Schiller. »Heute mag sie auch mir mit Recht ein Sorgenlos heißen. Brr, ein häßliches Gefühl, das Verirrtsein! Hätte ich doch ahnen können, daß ich mich einer befreundeten Stätte so nahe befände!«

Er ging über einen Steg, der ob dem unter seiner Eisdecke erstarrten Bache hing, und sah sich dann einem Holzhause gegenüber, welches, mit dem Rücken an die Halde gelehnt, recht gemächlich zwischen zwei Felsblöcke sich eingebettet hatte.

Unter der offenen Türe stand, mit einer Lampe in der Hand, ein alter Mann, über dessen Schulter das Gesicht einer alten Frau neugierig blickte. Der Greis hielt die eine Hand schützend vor die Flamme der Lampe, und so fiel das Licht derselben voll auf seine jovialen Züge, auf seine hohe, in eine Glatze sich verlierende Stirne, auf schneeweiße, buschige Brauen und den stattlichen Silberbart, welcher auf ein braunes Lodenwams herabfiel.

»Was, Sie sind's, Herr Doktor?« rief er dem Kommenden freundlich entgegen. »Bei so später, nachtschlafender Stunde? Beim Sankt Lukretius, das hätte ich mir nicht träumen lassen, als mein alter Hund vorhin merken ließ, daß jemand um den Weg sein müßte.«

»Ich verdanke Ihrem guten Tiere vielleicht das Leben, mein alter Freund,« entgegnete der Dichter, die dargebotene Hand des Greises drückend. »Ich hatte mich völlig verirrt, als mich Epikur fand und hierher leitete.«

»Ja,« sagte der Alte, »es ist Philosophie in dem alten Geschöpf. Nicht umsonst trägt es den Namen des weisesten aller Weisen. Aber willkommen in meinem Sanssouci, herzlich willkommen. Nur schnell herein! Sie werden Wärme und Stärkung nötig haben, werter Freund.«

Und zu der alten Magd hinter ihm gewendet, welche das Alter taub gemacht, erhob er seine Stimme und befahl: »Heda, Anne Kathrine, Feuer angeschürt und sorge dafür, daß unser Gast bald die flüssigen Flammen, gemeiniglich Punsch genannt, zu kosten kriege.«

Anne Kathrine sputete sich, und bald saß der Gast mit seinem Wirt in der holzgetäfelten Stube der Siedelei bei dem erwärmenden Getränke. Sie saßen so bis spät in die Nacht hinein unter lebhaften Gesprächen. Die alte Magd war, nachdem sie dem Dichter sein Lager bereitet, zur Ruhe gegangen. Aber der Hund Epikur saß auf seinen Hinterbeinen gravitätisch den Männern gegenüber, als verfolgte er ihre Reden mit großem Interesse.

Die Stube unterschied sich im allgemeinen nicht von den Bauerwohnungen der Gegend, wohl aber im besonderen. Denn sie war, wie überhaupt die ganze Siedelei, welcher ihr Eigentümer und Bewohner den Namen Sorgenlos gegeben hatte, mit einem über bäuerliche Ansprüche jener Zeit weit hinausgehenden Behagen eingerichtet. Es fehlte da nicht an einem plüschüberzogenen Kanapee, und im Winkel des großen Kachelofens stand ein sehr bequemer, ledergepolsterter Sorgenstuhl. An der Wand neben der Kuckucksuhr ragte ein schmaler Bücherkasten auf, der nicht leer war. Hart vor einem der drei kleinen Fenster aber war eine Drechselbank angebracht und neben dieser ein mit allerlei Instrumenten bedeckter Werktisch. Diese Abteilung der Stube bildete die Werkstätte des alten Mannes. Hier verfertigte er die zierlichen Beinschnitzereien und schliff er die kunstreichen optischen Gläser, welche mitsammen ihm sein reichliches Auskommen verschafften.

»Aber Sie müssen doch gestehen, lieber Herr Eberhard, daß die quietistische Weltanschauung, zu welcher Sie sich bekennen, am Ende wenig Tröstliches hat. Sie läuft, bei Licht betrachtet, auf nichts anderes hinaus als auf die Vorstellung, der höchste Endzweck des Menschen sei, ein Pflanzenleben zu führen.«

»Und wenn, lieber Doktor?« entgegnete auf diese Bemerkung seines Gastes der Alte. »Das sollte untröstlich sein? Beim Sankt Lukretius, meinem Schutzpatron, ich leugne es. Gibt es eine ruhigere, schmerzlosere, frommere, friedlichere Existenz als die der Pflanzen? Mitnichten. Wie spricht Epikur, der Weise? ›Freisein vom Schmerz ist das höchste Gut.‹ Wie erreicht man es? Dadurch, daß man sich, wie seiner Leidenschaften und Begierden, so auch seiner Einbildungen entäußert. Glücklich der, welchem diese Entäußerung gelingt. Er weiß, daß dieser störende Traum in der seligen Ruhe des Nichts, genannt Menschenleben, eben weiter nichts ist als ein Traum, bestimmt, zuletzt einem ewigen Schlafe zu weichen.«

»Das gerade nenne ich untröstlich. Ihr Lebenstraum wäre ja gar nicht der Mühe wert, geträumt zu werden.«

»So ist es in der Tat. Er ist nicht der Mühe wert. Glücklich daher die Pflanzen, welche dieses Traumes gar nicht bewußt werden; aber auch glücklich der Mensch, welcher sich über die tausend Widersprüche seines Bewußtseins mittels des Humors hinwegzuhelfen weiß. Lassen Sie uns anstoßen, werter Freund. Es lebe der Humor, der den weisen Sokrates inspirierte, zu sagen, er wisse nur, daß er nichts wisse.«

»Und Sie fühlen sich also wohl und glücklich bei Ihrer Philosophie des Nichts?«

»Ei freilich. Sehen Sie mich doch einmal an! Bin ich nicht gesund, rüstig und heiter, meinen fünfundsiebzig Jahren zum Trotz?«

Das lachende, von Gesundheit strotzende Gesicht des alten Mannes bezeugte die Wahrheit seiner Worte.

»In der Tat,« sagte Schiller, »Sie sehen glücklich und zufrieden aus. Aber dennoch, ich kann mir nicht vorstellen, wie der Mensch leben kann, ohne zu streben und zu ringen.«

»Das begreife ich,« versetzte der Alte. »Sie sind jung, voll Feuer, Geist, Phantasie. Sie sind ein Poet. Ich kenne das, wenn ich auch nie Verse gemacht habe. Da wird einem in der eigenen Haut zu enge. Man klagt wie Hiob, man empört sich wie Prometheus. Aber was hilft es? – Wir sind Dickhäuter, wir können nicht hinaus. Ist es daher nicht das Klügste, sich in seiner eigenen Haut möglichst bequem einzurichten, bis die Stunde kommt, wo man schlafen geht – für immer?«

Der Dichter sah eine Weile nachdenklich in sein Glas. Dann sagte er:

»Sie müssen viel erlebt haben, werter Freund. Man kommt, scheint mir, nicht auf den gewöhnlichen Lebenswegen zu Überzeugungen, wie Sie haben. Wenn es nicht unbescheiden wäre, möchte ich Sie wohl bitten, mir Ihre Geschichte zu erzählen. Ich habe Grund, zu vermuten, daß Ihre Lebenserfahrungen ein gutes Stück der Geistesgeschichte des Jahrhunderts enthalten.«

»Meine Geschichte wollen Sie hören, Doktor? Hm, es ist lange Jahre her, seit ich mit irgend einem Menschen darüber gesprochen. Ich möchte auch nicht mit dem nächsten besten davon reden. Aber Sie haben mir ein lebhaftes Interesse eingeflößt, schon gleich, als Sie zum erstenmal mein Sorgenlos betraten. Wohl, Sie sollen meine Geschichte haben; aber Sie dürfen nicht erwarten, einen spannenden Roman zu hören. Es ist nur die einfache, wenn auch nicht ganz gewöhnliche Geschichte eines Theologen, der aus einem Fanatiker ein Freidenker wurde.«

»Aus einem Fanatiker?«

»Ja, so sagt' ich. Ich war freilich kein Fanatiker im Stil der spanischen Inquisition, aber ich war fanatisiert für die Bibel, für das Luthertum, für die Augsburger Konfession.«

Schiller blickte neugierig fragend den Alten an. Dieser füllte die Gläser aufs neue mit dem dampfenden Naß und begann also zu erzählen:

»Vor fünfzig Jahren und zwei war ich Prediger einer der Gemeinden, welche in den Alpentälern eines süddeutschen Erzstiftes dem Luthertum zugewandt waren. Orthodox bis zum Zelotismus, war ich rastlos in der Erfüllung dessen, was ich für meine Pflicht ansah, und es gelang mir, meine Gemeinde mit dem nämlichen Feuereifer, welchen ich selber hegte, für den Bibelbuchstabendienst zu erfüllen. Wir waren echte Lutheraner, das heißt, gerade so hochmütig und gegen Andersdenkende unduldsam wie der Mönch von Wittenberg, welcher ja in seiner theologischen Unfehlbarkeit die Reformation, Deutschland, Europa um einer Silbe willen, um eines ,Hoc est' willen unbedenklich aufs Spiel gesetzt haben würde. Wir sollten indessen bald erfahren, wie Unduldsamkeit tut. Doch ließ ich für meine Person wenig davon mich anfechten; im Gegenteil, ich hieß die Verfolgung willkommen, ich würde mich in meinem bornierten Fanatismus für glücklich gehalten haben, wenn mir die Blut- oder Feuertaufe des Martyriums zuteil geworden wäre. So weit kam es indessen nicht, obgleich ich es an Veranlassungen von meiner Seite nicht fehlen ließ. Man scheint aber die Ausbrüche meines Eifers für Anwandlungen von Verrücktheit genommen zu haben, und da hatte man wahrlich nicht unrecht.

Ein neuer Erzbischof hatte den Thron des Erzstiftes bestiegen, der Freiherr Leopold Anton von Firmian. Er war seinem Glauben eifrig zugetan und meinte unbedenklich alles tun zu müssen, was ihm zur Verherrlichung seiner Kirche zu gereichen schien. Ich spreche, indem ich dieses erzähle, ohne alle Bitterkeit von dem Prälaten. Er war ohne Zweifel von seinem guten Recht vollständig überzeugt. Tun sich doch, so glaube ich, die Menschen überhaupt weit mehr aus Irrtum und Unverstand, als aus bösem Willen all das tausendfache Leid an, worunter die Kreatur seufzt. Der Erzbischof hatte in einer Stunde der Aufregung den Schwur getan, er wolle die Ketzer aus dem Lande haben und sollten auch auf den Feldern nur noch Dornen und Disteln wachsen. Dieser Schwur wurde redlich gehalten, denn es fehlte nicht an Leuten, welche den Fürsten an die Heiligkeit seines Gelübdes erinnerten. Nachdem eine Reihe von Bekehrungsmitteln, uns in den Schoß der Mutterkirche zurückzuführen, erfolglos geblieben, begann eine Reihe von Bedrückungen, die zuerst einzelne über die Grenze trieben, dann, in gesteigertem und umfassenderem Maße angewandt, der gesamten protestantischen Bevölkerung nur die Wahl ließen zwischen Abfall und Auswanderung. Sie wählte die letztere.

Wenn dreißigtausend Menschen plötzlich Haus, Hof und Heim verlassen und aufs Ungewisse in die Fremde hinausziehen müssen, so kann das nicht ohne viel Jammer und Elend abgehen, vollends gar, wenn ein solcher erzwungener Auszug zur Winterszeit statthat. Ich mag von jenen Leiden nicht im einzelnen reden, obwohl ich zu Klagen berechtigt wäre, da ich persönlich meinen redlichen Anteil daran hatte. Mein junges Weib, das ich so sehr geliebt hatte, als nur immer ein Zelot außer seiner fixen Idee etwas lieben kann, starb auf der Flucht, nachdem sie in einer elenden Sennhütte mit einem toten Kind niedergekommen. Not, Kummer und Angst hatten die Katastrophe veranlaßt. Als ich die Gute, Liebevolle, in deren Gemüt nie der Schatten eines unreinen Gedankens Eingang gefunden und die jetzt so kläglich hatte enden müssen, starr und stumm vor mir liegen sah, als ich ihr in der Öde ein Grab grub, da fiel der erste Blitz des Zweifels in meine wahnumnachtete Seele. Warum sollen wir sein, wenn wir nur sind, um zu leiden? Diese Frage wurde der erste Ring einer Gedankenkette, die mich nicht fesseln, sondern befreien sollte. Der Prozeß meiner Emanzipation fing mit dem verzweiflungsvollen Schmerz eines Hiob an und endigte mit der heiteren Ruhe des Weisen von Gargettos. Aber er vollzog sich nur sehr allmählich.

Sobald wir Emigranten die Grenzen des Erzstiftes hinter uns hatten, wurde unsere Lage erträglicher. Unsere Glaubensbrüder im Reiche nahmen uns mit herzlicher Gastlichkeit auf. Protestantische Städte und Fürsten, voran der König von Preußen, wiesen den um ihres Glaubens willen Vertriebenen Stätten an, wo sie eine neue Heimat sich bereiten konnten. Die Abenteuer unseres Zuges, der sich nach und nach zerteilte, wie eben größere oder kleinere Genossenschaften da und dort Gelegenheit zur Niederlassung fanden, waren mannigfaltige. Selbst am Reiz des Wunderbaren fehlte es nicht. Wenigstens waren wir, die wir unsern Auszug mit dem des Volkes Israel aus Ägyptenland zu vergleichen liebten, leicht geneigt, manche überraschend günstige Wendung unserer Geschicke für ein Wunder zu nehmen. Später konnte ich nur mit einem Lächeln auf diese Wundersucht zurückblicken. Dagegen ist mir eine anmutige Episode unserer Wanderschaft in freundlicher Erinnerung geblieben. Ein schönes und braves Mädchen, eine Waise, war in unserem Zuge. Diese sah, als wir durch das Öttingische zogen, eines reichen Bürgers Sohn aus Altmühl und faßte eine lebhafte Zuneigung zu ihr. Er trat sie an und fragte sie, wie es ihr da zu Lande gefalle, und als sie zur Antwort gab: ,Gar wohl', fragte er weiter, ob sie bei seinem Vater in Dienst treten wollte. Sie bejahte und versprach, treu und fleißig zu dienen Der Bürger von Altmühl war aber schon lange in seinen Sohn, der sein einziger war, gedrungen, daß er sich verheiraten sollte. Jetzt sagte der Sohn dem Vater, er habe sich eine Braut gewählt, eine Emigrantin. Gefiel jedoch diese Wahl dem reichen Manne schlecht und suchte er daher mit Beihilfe des Ortspredigers dem Sohn die Grille, wie er es nannte, auszureden. Der Sohn aber beharrte und bat, daß der Vater das Mädchen wenigstens sehen möchte. Und er holte die Fremdlingin herbei, die aber von der wahren Absicht des jungen Mannes noch nichts wußte, sondern glaubte, man verlange sie nur zur Magd. Der Vater hinwieder war des Glaubens, sein Sohn hätte ihr schon sein Herz eröffnet, und da ihm die Schönheit ihres Antlitzes und die Sittsamkeit und Bescheidenheit ihres Betragens wohlgefielen, so tat er an sie die Frage, ob ihr denn sein Sohn so anstünde, daß sie ihn zum Manne haben wollte. Der Jungfrau klang das wie Scherz und Spott. Sie sagte, es sei unfreundlich, sie zu foppen. Man hätte sie zur Magd verlangt, und als solche wollte sie redlich ihre Pflicht tun; aber zum Gefopptwerden glaube sie sich zu gut. Und sie wollte ihr Bündelchen wieder aufnehmen und weggehen. Doch der Alte, dem dies Bezeigen baß gefiel, blieb dabei, es sei seine Frage ganz ernst gemeint gewesen, und nun sagte ihr auch der Sohn daß er sie in sein elterlich Haus gebracht, weil er ein herzliches Verlangen trage, sie zum Weibe zu haben. Das Mädchen stand eine Weile nachdenklich, blickte mit Erröten auf den wackeren Jüngling und sagte endlich, falls es wirklich sein Ernst wäre, so sei sie hochzufrieden, und sie wolle ihn halten wie ihren Augapfel. Darauf gab es eine fröhliche Verlobungsfeier, und ich war auch dabei. Die Geschichte ist, wie ich später erfuhr, aufgeschrieben und weitum bekannt geworden.«

Der Erzähler hielt inne, um seine Lippen anzufeuchten. Dem Dichter aber ging diese in ihrer Einfachheit so rührende Episode aus der Salzburger Emigrantengeschichte zu Herzen. Jahre nachher, als sein großer Freund Goethe diesen idyllischen Stoff mit Verlegung desselben in die Revolutionszeit, zu dem unübertrefflichen epischen Gedichte von Hermann und Dorothea gestaltete, kam ihm diese Winternachtsstunde in dem einsamen Waldhause Sorgenlos lebhaft wieder zu Sinne.

Der Alte nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf:

»Da am Ende jeder von uns Emigranten sehen mußte, wie er unterkam, so zersplittete sich natürlich unser Zug immer mehr. Ich wurde von meinen Wandergenossen getrennt, und nach mancherlei Versuchen, mir irgendwo eine feste Existenz zu gründen, ins Sachsenland verschlagen. Ich führte das Leben eines wandernden Predigtamtskandidaten und Informators, mitunter auch das eines Handwerkers, denn ich hatte Gelegenheit gehabt, mir in meinen Jugendjahren eine nicht gemeine Geschicklichkeit in den Arbeiten der Drechselbank und im Schleifen optischer Gläser anzueignen. Endlich machte ich die Bekanntschaft des berühmten Protektors der Herrnhuter, des frommen Grafen Ludwig von Zinzendorf. Ich ging mit Eifer auf seine Ansichten ein, denn meine starre Orthodoxie war allmählich sehr brüchig geworden. Das verknöcherte Dogma des Luthertums erschien mir jetzt in einem ganz anderen Lichte als damals, wo ich es für die höchste Ehre gehalten hatte, dafür zu leiden. Ich hatte inzwischen die Lehre Speners kennen gelernt und war dadurch zum Pietismus bekehrt worden. Stand derselbe doch damals so recht in seiner Blüte und gegenüber dem hölzernen Joche des lutherischen Buchstabendienstes war diese Bewegung gewiß vollauf berechtigt; daß sie in unklarste Gefühlsamkeit verlaufen und den ganzen Wirrwarr separatistischer Schwärmerei hinter sich herziehen mußte, lag freilich von Anfang an in ihrem Wesen.

Hat man erst seinen gesunden Menschenverstand auf dem Altar der Sektierer geopfert, so kann es nicht ausbleiben, daß man mit Begierde an die konfusesten Strebungen sich anschließt. Zinzendorf zeigte mir das Ideal des Urchristentums in seiner Stiftung zu Herrnhut, und gänzlich verblendet über den Unverstand, inmitten unserer staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse ein urchristliches Leben aufrichten zu wollen, ward ich ein enthusiastisches Mitglied der Brüdergemeinde. Ja, eine Zeitlang ließ ich mich als ein rechtes Närrlein mit anderen Närrlein vom Bruder Ludwig am herrnhutischen Strick herumleiten. Zinzendorf besaß ganz unzweifelhaft eine lebhafte Überzeugung von seiner Mission und vollführte sie mit einer merkwürdigen Beharrlichkeit, mit einer außerordentlichen Energie. Aber ich machte die Bemerkung, daß diese Überzeugung eine fatale Unterlage hatte, nämlich eine grenzenlose Eitelkeit, wie sie eben bei Schwärmern viel weniger selten ist, als man gemeiniglich glaubt. Zinzendorfs Sucht nach Auszeichnung war unbändig und den Grafen konnte er vollends gar nie vergessen. Das ward mir ganz klar bei einer Szene, an die ich nie ohne Heiterkeit mich erinnern kann. Ich hatte den frommen Grafen schon auf mehreren seiner Missionsreisen als demütiger Gehilfe begleitet, als ich mit ihm nach Tübingen kam, wo er sich, in Hoffnung auf eine protestantische Prälatur in Württemberg, in die Reihe der Predigtamtskandidatcn aufnehmen ließ. Bei seiner ersten Predigt vergaß er nun der apostolischen Einfachheit so sehr, daß er im schwarzen Sammetkleide mit langer Mantelschleppe, mit Ordensband und Stern auf der Kanzel erschien und sich durch einen Heiducken die Bibel nachtragen ließ. Ach, wie war das komisch! Damals schlug mich der Humor zum erstenmal in den Nacken, aber der Schlag war noch nicht kräftig genug um mir alle Schuppen von den Augen fallen zu machen.

Die Missiönlerei in Sachen des Herrnhutertums jedoch hatte ich gründlich satt. Es war mir unter diesem ewigen Gesüßel der Lämmleinbrüderlichkeit doch gar so elend zumute geworden. Was noch Gesundes in mir war, empörte sich gegen diese anempfundene Kränklichkeit. Ich trennte mich von Zinzendorf, begann wieder auf eigene Hand zu wandern und erhielt zunächst eine Informatorstelle in einem berühmten holsteinischen Grafenhause, welches mit dem frommen Adel in Norddeutschland, in der Wetterau, in Sachsen und Schlesien vielfach verbunden war. Beim Sankt Lukretius, wenn ich jetzt daran denke, wie sauer es sich alle diese Leute mit der Scheinheiligkeit werden ließen, könnte mir noch jetzt angst und bange werden. Das Leben dieser Menschen war um so mehr eine peinliche Selbstquälerei, als das gemütliche Element, welches der Pietismus in seiner Ursprünglichkeit kultiviert hatte, bereits auch seinerseits in leeres Gepränge und totes Formelwesen ausgeartet war. Wäre es nach diesen Leuten gegangen, so müßte die ganze Welt ein Kartäuser- oder Trappistenkloster geworden sein. Alle Fröhlichkeit, selbst die harmloseste, rechneten die strengen Pietisten unter die sündlichen Adiaphora, und sie zählten zu diesen ›Mitteldingen‹ besonders Gesang, Spiel und Tanz, Schauspiele, Gastgebote, Scherzreden, das Lesen von weltlichen Gedichten, ja sogar von Zeitungen. So ein echter und gerechter Pietist mußte bei jedem Schritt, den er machte, sich ängstigen, ob er auch nicht unversehens in ein ›Mittelding‹ hineinträte. Eine fromme Fürstlichkeit hörte ich in jener Zeit sagen, das Leben sei nur dazu, da, um die Sterbekunst zu studieren. In meinem Grafenhause verband sich das kopfsteifste Adelsbewußtsein mit der frömmelnden Heuchelei zu einer recht wunderlichen Mischung. Die zynischen Sonderbarkeiten der Gräfin machten das Ding noch ärger. Es war unverbrüchliche Hausordnung, daß uns der Graf, bevor man zu Tische ging, eine unendliche geistliche Ermahnung vortrug; aber dabei galt es oft, auf die Zähne zu beißen, wenn man unterdessen die zwei Eichhörnchen, welche die Dame vom Hause stets bei sich trug und in ihrem Busen wohnen ließ, beständig aus dem Mieder hervor und wieder in dasselbe zurückschlüpfen sah. Auch hatte der Schoßhund der Dame, ein garstiger Mops, das Recht, während des Essens auf der Tafel umherzugehen und die Speisen zu beschnuppern und zu kosten.«

Schiller lachte laut auf über diese Mops- und Eichhörnchengeschichte.

»Beim Sankt Lukretius!« fuhr der Alte fort, »Sie haben recht, zu lachen. Aber man mußte das steifzeremonielle und zugleich ängstlich andächtige Leben in jenem Hause selber mitgemacht haben, um die ganze Lächerlichkeit dieser und ähnlicher Vorkommnisse zu fühlen. Ich hielt es nicht lange dort aus und folgte, schon wankend in allen meinen bisherigen Überzeugungen, aber doch noch zu mutlos, frischweg mit denselben zu brechen, gerne der Einladung des Oberhauptes der Separatisten in Frankfurt am Main, Andreas Groß, und seines Freundes, Friedrich Hang, an dem großen Bibelübersetzungswerk teilzunehmen, welches damals zu Berleburg in der Wetterau, dieser Hochschule separatistischer Grübelei und Schwärmerei, im Gange war. Auf meiner Reise dahin war ich in Frankfurt Augenzeuge mancher sonderbarlichen separatistischen Ausschreitung. So badeten auf einer Mainfahrt der Sekte Männer und Frauen gemeinsam, sangen aber dazu ein geistliches Lied, welches Bruder Groß anstimmte. Im übrigen muß ich den Sektierern jener Zeit, der Wahrheit gemäß, das Zeugnis geben, daß sie sich von geschlechtlichen Verirrungen frei hielten. Wenigstens sah ich nichts dergleichen. Auch in Berleburg nicht, wo es doch sonst an Unsinn aller Art nicht fehlte. Da wimmelte es von wunderlichen Heiligen und Inspirierten. Alle die Sekten, die sich allmählich aus der protestantischen Kirche herausgebildet hatten, wären an diesem Ort und in der Umgegend zu finden. Die Besitzungen des wetterauischen Adels, besonders das gräflich Wittgensteinsche Gebiet, waren ein Asyl für alle Schwärmer im weiten Deutschen Reiche. Was gab es da für Erweckte! Einer toller als der andere. Aber am widerlichsten war mir der gleich einem Propheten verehrte Friedrich Rock aus Württemberg, der, wenn die Inspiration ihn packte, unter krampfhaften Zuckungen und pythischer Verdrehung des Kopfes seine apokalyptischen Orakelsprüche von sich gab.

Damals lebte auch ein Johann Christian Edelmann, der nachmals als Erzketzer vielverrufene eifrige Wahrheitssucher, in Berleburg. Er war ebenfalls Mitarbeiter am Bibelwerk, aber gleich mir geriet auch er bald in verdrießliche Händel mit dem schlauen Hang, welcher für möglichst viele Arbeit möglichst wenig bezahlen wollte. Wir waren rasch Freunde geworden und zogen uns, nachdem wir mit Hang gebrochen, mitsammen in ein einsam stehendes Häuschen zurück, wo wir eine sehr idyllische, aber auch sehr arme Wirtschaft führten. Wir schliefen auf Laubpfühlen, genossen die einfachste Kost und tauschten auf einsamen Waldgängen unsere Gedanken aus. Edelmann arbeitete damals an seiner Hauptschrift: ›Moses mit aufgedecktem Antlitz‹, an welcher Juden und Christen ein so gewaltiges Ärgernis nehmen sollten. Ich meinesteils griff wieder zum Drechseln, Beinschnitzen und Gläserschleifen und ließ der inneren Umwandlung Zeit, sich zu bewerkstelligen. Edelmanns Freunde von nah und fern versahen ihn mit einem reichlichen Büchervorrat, und so fehlte es auch mir nicht an geistiger Nahrung. Indessen merkte ich bald, daß ich in Sachen des Glaubens zu viele Enttäuschungen erlebt hätte, um überhaupt noch im Glauben Beruhigung finden zu können. Ich las die englischen Freidenker, aber ihr Deismus war im Grunde doch nur eine religiöse Wassersuppe, ungesalzen, ungeschmalzen. Sie gingen mit kritischem Geknurre um den heißen Brei des Vorurteils herum; denselben auszuschütten wagte keiner. Auch Freund Edelmann wagte das nicht. Er konnte nur dies und das kritisieren, höchstens verspotten; aber der Hauptfrage ging er scheu aus dem Wege.

Nun sucht' ich Lösung meiner Zweifel an einem ganz andern Orte, bei den mittelalterlichen Mystikern. Ich las, was mir von den Schriften eines Tauler, eines Suso, eines Heinrich von Nördlingen, eines Nikolaus von Basel nur immer zu erlangen möglich war, und diese Gottesfreunde, wie sie zu ihrer Zeit genannt wurden, leiteten mich auf den rechten Weg. Sie, die tieffrommen, edelgesinnten Männer, hatten in ihrem erhabenen Abscheu vor den Kämpfen der Eigenliebe und Parteisucht, in ihrer rastlosen Sehnsucht als das Höchste und allein Erstrebenswerte die selige Ruhe in dem ewig sich selbst Gleichen gesetzt, in Gott.

Die ungestörte selige Ruhe – das war das Gesuchte! Ich warf forschende Blicke um mich her und erkannte leicht, daß die Menschen weiter denn je von diesem Ideal entfernt wären. Diese Welt von Gier, Neid und Haß nahm den Traum vom Leben so ernsthaft, als ob er, statt eine Spanne lang zu sein, ewig währte. Ein unbeschreibliches Gefühl der Verachtung wandelte mich an, wenn ich bedachte, um welcher Torheiten und Nichtigkeiten willen die Menschen sich zerfleischten wie wilde Tiere. Aber bald gewöhnte ich mich, diesen wütenden, nie von einem Waffenstillstand unterbrochenen Krieg aller gegen alle nur noch vom Standpunkte des Humors aus anzusehen. Glauben Sie mir, mein Freund, für jeden, der sich auf diesen Standpunkt zu erheben vermag, ist das Leben, die Gesellschaft, die Weltgeschichte weiter nichts als ein unterhaltendes Gaukelspiel. Man kann aber müde werden, vor der Bühne zu sitzen, denn unter anderen Namen wiederholt sich immer die alte Fabel des Stückes. Auch ich wurde des Schauens und Lachens müde. Ich wollte des täglichen Anblickes sinnloser Szenen überhaupt enthoben sein, und da mir die Gegend hier bei einer früheren Durchreise um ihrer Abgeschiedenheit vom Weltgetümmel willen sehr gefallen hatte, zog ich hierher in den Wald, erkaufte mir ein Stück desselben und erbaute mir darauf mein Sorgenlos. Seither habe ich die Grenzen des Forstes niemals wieder überschritten, denn die alte Anne Kathrine reicht vollkommen aus, meinen wenigen Verkehr mit der Welt zu vermitteln.«

Da der Alte schwieg, fragte Schiller:

»Also Ihre religiösen Kämpfe hörten auf mit der Aneignung des beschaulichen Quietismus der mittelalterlichen Mystiker?«

»Meine Kämpfe, ja. Denn die völlige Beruhigung vollbrachte sich ohne Leidenschaft. Nachdem ich einmal Gott als die Allruhe begriffen, hatten die Wahngebilde aller Sekten keine Bedeutung mehr für mich. Aber noch faßte ich die Gottheit als ein Außerweltliches, Jenseitiges. Zwei fromme Männer des vorigen Jahrhunderts, Jakob Böhme und Angelus Silesius, brachten mich weiter. Der tiefsinnige Görlitzer Schuster hatte als Resultat seines theosophischen Ringens, alle Gegensätze in Gott zu vereinigen, bekanntlich den Satz gewonnen, das Weltall sei ein göttliches Leben, ein Offenbaren Gottes in allen Dingen. Angelus Silesius führte in seinem ›Cherubinischen Wandersmann‹ diesen Pantheismus weiter aus oder faßte ihn wenigstens klarer.

Seine Anschauung wurde für mich die Brücke zur völligen Befreiung. Ich fand sie im Lukrez, dem genialsten Denker Roms, dem beredsamen Dolmetscher der Lehre des großen Weisen von Gargettos, von dem er so einzig schön gesagt:

Als darnieder er sah das Dasein liegen der Menschheit
Jammervoll auf der Erd', erdrückt von der lastenden Gottfurcht,
Die vom Himmelsgewölb' ihr Antlitz offenbarend,
Schauerlich anzusehen, hinab auf die Sterblichen drohte,
Wagt' es ein griechischer Mann zuerst, das sterbliche Auge
Ihr entgegenzuheben, zuerst ihr entgegenzutreten.
Und die mutige Macht des Gedankens siegte; gewaltig
Trat hinaus er über die flammenden Schranken des Weltalls
Und der verständige Geist durchschritt das unendliche Ganze.«

»Die Verse sind schön,« bemerkte der Dichter, »aber ich kann nicht absehen, wie sie zur Beruhigung des Gemütes beitragen sollten. Sie scheinen mir mehr ein Ausfluß titanischer Empörung als beschaulicher Indifferenz zu sein.«

»Sie vergessen, lieber Freund,« entgegnete der Alte, »daß man die Weltanschauung des Epikuros, wie sie Lukretius darlegt, im Zusammenhange fassen muß. Was sagt der große Poet von den Göttern?

– Sie müssen durch sich und ihrer Natur nach
In der seligsten Ruh' unsterbliches Leben genießen.
Weit von unserem Tun und unseren Sorgen entfernet.

Denn, von jeglichem Schmerze befreit und befreit, von Gefahren
Selbst sich in Fülle genug, nicht dürftig unseres Beistands,
Rührt sich nicht unser Verdienst, noch reizet sie unser Vergehen.«

»Das ist,« meinte Schillers »nur eine leichte Verhüllung des nackten Atheismus, eine Aufhebung aller Religion. Denn Religion ist die Beziehung des Menschen zu Gott und umgekehrt. Diese Wechselbeziehung leugnen, heißt sagen: Alle Frömmigkeit ist nur ein Wahn.«

»Und ist denn die Frömmigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Menschen etwas anderes? Dreht sie sich nicht um den gemeinen Angelpunkt des Nutzens und Schadens? Ist nicht das liebe egoistische Ich ihr unverrückbarer Mittelpunkt? Wie erleuchtet dagegen ist die Frömmigkeit, welche Lukretius predigt! Wie sagt er?

Frömmigkeit ist das nicht, mit verhülltem Haupte sich oftmals
Rund um den Stein zu drehn und jeden Altar zu bestürmen;
Hin sich zur Erde zu werfen, mit ausgebreiteten Händen,
Vor den Bildern der Götter; mit Opferblute der Tiere
Ihren Altar zu besprengen: Gelübd' an Gelübde zu reihen;
Sondern: beruhigt im Geist hinschauen zu können auf alles

»Aber,« warf Schiller lebhaft ein, »was sollte bei diesem absoluten Gleichmut, nein, bei dieser trägen Gleichgültigkeit herauskommen? Die völlige Versumpfung der Menschheit ohne Zweifel. Dazu aber, kann sie doch wohl nicht da sein. Die Existenz, der Gesellschaft ist vielmehr ein unaufhörlicher Entwicklungsprozeß. Sie entwickelt sich, im guten und im schlimmen, weil sie muß, das heißt, weil sie einem unlösbar mit dem Dasein des Menschen verknüpften Gesetz der Tätigkeit gehorcht. Sie muß ihre Bahn wandeln, wie die Erde, wie die Gestirne die ihrigen rastlos gehen. Stillstand wäre Erstarrung, Versteinerung, Tod.«

»Sagen Sie vielmehr Ruhe, Schmerzlosigkeit, Seligkeit.

O, unseliger Geist, o blinde Herzen der Menschen!
In welch finsterer Nacht und unter welchen Gefahren
Wird dies Leben verbracht, der Moment! Es liegt ja vor Augen,
Daß die Natur für sich so heiß nichts fordert, als daß wir,
Ist der Körper von Schmerzen befreit, des Geistes genießen,
Frohen Gefühls, entfernt von Furcht und jeglicher Sorge.«

Nachdem der alte Freidenker dieses Zitat im Tone ruhiger Überzeugung vorgebracht, stand er auf und sagte mit gutmütigem Lachen:

»Kommen Sie, junger Freund, wir wollen schlafen gehen, denn eine weitere Fortsetzung unseres Gespräches könnte mich am Ende gar in den Verdacht der Proselytenmacherei bringen. Nichts kann mir jedoch ferner liegen, denn ich lasse, wie der große Fritz, gerne jeden nach seiner eigenen Fasson selig werden.«

Der Dichter, obgleich gastlich gebettet, schlief diese Nacht wenig. Die Erlebnisse des Tages, die Gespräche mit Lolo und mit dem Alten hatten ihn aufgeregt. Auch der Bernharduspater fiel ihm ein, und er mußte ihn unwillkürlich mit seinem heutigen Wirte vergleichen. Dieser suchte die Ruhe im Nichts, jener in Gott; aber beide Greise waren gleich menschen- und weltmüde und gebrauchten am Ende wohl nur verschiedene Namen für eine und dieselbe Sache. Unser Freund jedoch war weder von dem Gläubigen noch von dem Ungläubigen zum Quietismus bekehrt worden, und sein Herz schlug voll und tapfer den Kämpfen des Lebens entgegen.


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