Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Zweites Kapitel.

Von einem verschollenen Schloß und einer verschollenen Prinzessin darin. – Baronesse Lolo, die Titanide. – »Gehen Sie an seinen Hof!« – Von Memoiren. – Berührung einer unheilbaren Wunde. – Eine fürstliche Mutter des achtzehnten Jahrhunderts. – Mann und Weib. – »Du solltest nicht da sein!« – Die Welt in einer Silbe.

Über mannigfaltig gestaltete Anhöhen und durch kleine Taleinschnitte, über eisbedeckte Bäche hinweg und durch verworrenes Steingeschiebe hin führte unsern Wanderer nach fast zweistündigem Gange sein Weg an den Fuß einer Einbuchtung der Berghalde, von welcher herab ein altertümliches schloßartiges Gebäude über den Hochwald hinblickte.

Vordem, aber es war schon lange her, hatten die Mauern dieses abgelegenen Bergwaldschlosses zur fröhlichen Herbstzeit die Hornfanfaren fürstlicher Jagden widergehallt. Damals hatte droben in den Erkerzimmern lustiger Becherklang gelärmt und hatten drunten in den Lauben des Gartens, der seine Verwilderung jetzt mit einer dicken Schneedecke verhüllte, Küsse geflüstert und verliebte Scherze gekichert.

Jetzt war es hier so öde und still, als hätte der Winter da seinen Lieblingssitz aufgeschlagen, oder vielmehr, als bedürfte es nicht einmal des Winters, um dem Schloß den Charakter gänzlicher Weltverlorenheit zu verleihen.

Der Dichter hatte es ein verschollenes genannt, und das war es. Es sah, obgleich erst zur Zeit der Renaissance erbaut, unbeschreiblich verwahrlost, traurig, fast gespenstig aus. Nur das Mittelgebäude, und auch dieses nur teilweise, schien noch in wohnlichem Zustande sich zu befinden. Die beiden Seitenflügel waren kläglich verwittert, und die Ecktürme, in welche sie ausliefen, hatten der Zeit und dem Wetter so sehr ihren Tribut bezahlt, daß ihre Kuppeln geborsten, ihre Ballone zerbröckelt, ihre Ornamente abgefallen waren. Es hatte den Anschein, als müßte der nächste Winternachtsturm, welcher gegen diese fensterlosen Türme anbrauste, dieselben mit leichter Mühe zu Boden werfen. Früher hatten aus den Erdgeschossen der Seitenflügel leichtgeschwungene Freitreppen in den Garten herabgeführt, aber sie lagen jetzt in Trümmern. Trotzig aufrecht hielt sich nur noch das hohe Eisengitter, welches, mit einer Einfahrt in der Mitte, den vor dem Mittelflügel liegenden Hof umschloß. Das Einfahrtstor stand aber weit offen, als wollte sich niemand mehr die überflüssige Mühe geben, seine Flügel auf den rostzerfressenen Angeln zu drehen. Stand man unter dem Einfahrtstor, so konnte man, rückwärts blickend, hinten im verschneiten Talgrund eine Kirchturmspitze aufragen sehen. Allein dieser Beweis von der Nähe eines bewohnten Ortes schwächte kaum merkbar den Eindruck der Verlassenheit, der Verschollenheit des einsamen Jagdschlosses, welches schon lange kein solches mehr war, sondern nur der ruinenhafte Wohnsitz einer verschollenen Unglücklichen.

Der Dichter ging den notdürftig gebahnten Weg hinauf, welcher von dem Schlosse ins Tal hinabführte, durchschritt den Hof, ließ die große Pforte, von deren vier Säulen nur noch die Hälfte aufrecht stand, zur Rechten liegen und wandte sich linkshin zu einer kleinen Seitentüre. Er hatte aber nicht nötig, die Glocke zu ziehen, denn die Türe wurde ihm von einem alten Diener geöffnet, welcher sein Kommen bemerkt haben mochte und der ihn mit Freundlichkeit und mit der ausgesuchten, etwas zeremoniösen Höflichkeit eines greisen Domestiken begrüßte.

»Kann ich die Ehre haben, der durchlauchtigen Prinzeß aufzuwarten?« fragte Schiller.

»O gewiß,« entgegnete der Alte, der eine altfränkische, verschossene Livree trug, aber eine tadellose Taubenflügelfrisur mit einem weit den Rücken hinabreichenden Zopf, »o gewiß, mein Herr Doktor. Ihro Durchlaucht, meine gnädigste Gebieterin, wird eine große Freude haben. Ich eile, Sie zu melden, und werde mir dann die Ehre geben, meinem geehrten Herrn Doktor mit seiner Erlaubnis eine Tasse heißen Tee zu präsentieren, welche sich gefallen zu lassen nach einem weiten Gang in so kalter Luft nicht unratsam sein dürfte.«

Der Dichter folgte dem redseligen Alten eine Hintertreppe hinauf und legte Überwurf, Hut und Stock in einer Art von Vorsaal ab, während der Diener den Besuch bei seiner Gebieterin meldete. Er trat dann in den weiten Korridor hinaus, der sich eirund um das große Treppenhaus herzog und auf welchen die Türen der Gemächer des Mittelflügels mündeten. Da war viel verblichene Pracht zu sehen; aber das Marmorgeländer der Treppe war schadhaft, in den Wandnischen standen statt der Statuetten lauter Torsos, und von dem großen Deckengemälde, welches vorzeiten den Raub der Sabinerinnen dargestellt, hatten Schimmel und Moder nur noch einige wildblickende Römerköpfe und zerstreute Beine, Arme und Busen von sabinischen Mädchen übriggelassen. Man fröstelte ordentlich beim Anblick all dieser Vernachlässigung und Zerstörung.

Schiller hatte aber jetzt keinen Sinn für diese traurige Umgebung. Seine Augen und Ohren waren auf eine Türe gerichtet, hinter welcher eine kunstfertige Hand die altersschwache Verstimmung eines Spinetts zu bewältigen suchte. Nicht ganz mit Erfolg. Aber der Lauscher überhörte völlig die Mißklänge des verwahrlosten Instruments, als jetzt eine sonore Frauenstimme drinnen ein Lied dazu sang – das Lied Amalias in den »Räubern«:

»Willst dich, Hektor, ewig mir entreißen,
Wo des Äakiden mordend Eisen
Dem Patroklus schrecklich Opfer bringt?
Wer wird künftig deine Kleinen lehren
Speere werfen und die Götter ehren,
Wenn hinunter dich der Xanthus schlingt?«

Inzwischen kam der alte Diener mit der Meldung, daß seine Gebieterin den Gast willkommen heiße und erwarte, und so mußte der Dichter widerwillig der Türe den Rücken kehren, die sein Interesse so lebhaft erregt hatte. Während er den Korridor hinaufging, verklang hinter ihm die von der unsichtbaren Sängerin mit ganz eigentümlich energischem Ausdruck vorgetragene Halbstrophe seines Liedes:

»All mein Sehnen, all mein Denken
Soll der schwarze Lethefluß ertränken,
Aber meine Liebe nicht!«

Wir finden ihn wieder in einem Gemache voll verlebter Eleganz, neben einer Dame von hohem Alter auf einem Kanapee sitzend, das, wie das ganze Mobiliar, so aussah, als hätte es vor vierzig oder fünfzig Jahren gegründeten Anspruch gehabt, für modisch zu gelten.

Die alte Dame, in ihrer grauseidenen Robe von einem Schnitt, wie er zur Zeit Kaiser Karls VI. und Friedrich Wilhelms I. bräuchlich gewesen, paßte vollkommen zu ihrem Wohnsitz. Sie war eine Ruine unter Ruinen, aber eine Ruine, die keinen mißfälligen Anblick bot. Welche Stürme auch über diese gebeugte Gestalt hingegangen – und daß es heftige gewesen sein mußten, das sagte der tiefe Schmerzenszug um den blassen Mund – sie hatten auf der Stirne der Greisin nicht den Ausdruck der Verbitterung, sondern den einer stillheitern Resignation zurückgelassen, welche zugleich mit der Hoffnung schon lange auch die Furcht verlernt hatte. Das weiße Antlitz war fast mumienhaft vertrocknet, aber die unter schneeigen Brauen mit unendlicher Sanftmut, Güte und Milde hervorblickenden blauen Augen, deren Iris ihren Glanz bewahrt hatte, ließen erraten, daß sie vorzeiten die Züge einer Schönheit erleuchtet und belebt hatten.

Schiller benahm sich gegen diese Frau mit einer Ehrfurcht, wie er sie keinem König oder Kaiser in der Fülle ihrer Macht gezollt hatte, und nur das freundliche Drängen seiner Wirtin hatte ihn vermocht, an ihrer Seite Platz zu nehmen.

»Wie gut es von Ihnen ist, lieber Freund,« sagte die Greisin, »daß Sie dem Frost und den Waldsteigen trotzten, um zu der verschollenen Einsiedlerin zu kommen. Doch,« fuhr sie mit einem gütigen Lächeln fort, »ich bin trotz meines Alters nicht egoistisch genug, zu glauben, daß ich der ziehende Magnet gewesen. Sie brauchen nicht zu erröten, brauchen mir Ihre Ungeduld nicht verbergen zu wollen. Aber beruhigen Sie sich, Lolo wird sogleich erscheinen«

»Durchlaucht –« versetzte der Dichter, verlegen darüber, daß die alte Dame die Blicke bemerkt hatte, welche er erwartungsvoll nach der Türe richtete.

Er konnte aber seinen Satz nicht vollenden, denn in diesem Augenblick ging die Türe auf und ließ eine junge Dame eintreten, welche mit Lebhaftigkeit den Gruß des ihr entgegengehenden Gastes erwiderte. Er küßte ihr die Hand, geleitete sie zu dem Kanapee und nahm auf einen Wink der Schloßherrin auf einem Stuhl mit unendlich hoher Rücklehne den Damen gegenüber Platz.

Baronesse Lolo, wie wir die jüngere Dame nennen wollen, war eine eigentümliche Erscheinung. Noch in der schönsten Blüte des Lebens – sie stand in den ersten Zwanzigern – hatte sie etwas wunderbar Erregtes, Begeistertes, wir möchten sagen, etwas Elektrisches in ihrem ganzen Wesen. Vielleicht aber auch etwas Krankhaftes, denn die fieberhafte Unruhe ihrer Seele gab den Bewegungen ihres Körpers etwas Unstetes, Hastiges. Aus ihren großen schwarzen Augen blickte ein feuriger Geist, und die Pracht und Macht dieser Augen wurde noch erhöht durch den seltsamen Kontrast, den ihre Farbe zu der des Haares bildete. Dieses Haar, in unzählige natürliche Locken und Löckchen sich rollend, hatte nämlich einen blaßroten Goldglanz. Die mittelgroße Figur der Dame war schlank, aber die Büste voll, fast üppig, und auf schlankem Hals wiegte sich ein charaktervoller Kopf, auf dessen Stirne Nachdenken und Leid Spuren zurückgelassen hatten, während auf den vollen, hochroten Lippen stets Worte der Leidenschaft zu schweben schienen.

So war die Frau, welche noch zwölf Jahre später Jean Paul Friedrich Richter eine Titanide nannte, und von der er schrieb: »Sie hat zwei große Dinge: große Augen, wie ich noch keine sah, und eine große Seele. Sie ist ein Weib wie keins, mit einem allmächtigen Herzen, mit einen Felsen-Ich –«

Man trank Tee, man plauderte vertraut und gemütlich. Der Dichter empfand diesen beiden Frauen gegenüber wieder einmal so recht das Bildende und Wohltätige des Umgangs mit edlen weiblichen Wesen. Er hat das sein Lebenlang viel und oft erfahren, und wenn die unsterblichen Huldigungen, die er den Frauen dargebracht, an Hochsinn und Zartheit nicht ihresgleichen haben, so ist nur billig, zu sagen, daß er wie wenige wußte, wie sehr diese Huldigungen verdient waren.

Die Damen sprachen vom »Fiesko«, welchen der Dichter seinen Freundinnen gedruckt, von »Kabale und Liebe«, welches Stück er ihnen handschriftlich mitgeteilt hatte.

»O, mein werter Freund,« sagte im Verlaufe des Gesprächs die Prinzessin, »ich gestehe, wenn ich nicht längst gewohnt wäre, Welt und Leben als etwas von mir Fernabliegendes anzusehen, so hätten mich Ihre glühenden Dichtungen gewaltsam aufregen, ja erschrecken müssen. Wie muß es draußen in der Welt aussehen, wenn die Jugend sich gedrungen fühlte, solche flammende Predigten ihren Zeitgenossen ins Angesicht zu schleudern. Ich leugne es nicht, ich vermag mich in diese Poesie nicht recht zu finden, ich kann sie bloß anstaunen. Zu meiner Zeit war man gewohnt, die Dichtkunst nur als einen artigen Zeitvertreib zu betrachten, als einen spielerischen Luxusartikel mehr. Jetzt aber, wie Ihre Stücke mir zeigen, führt die Muse die Stimme des Donners, des Gerichts. Mir war, als mir Lolo diese Trauerspiele vorlas, als vernähme ich ein prophetisches Brausen in der Luft, welches eine ungeheure Naturkatastrophe ankündige.«

»Sagen Sie eine gesellschaftliche, eine geschichtliche Katastrophe, verehrte Freundin,« bemerkte die Baronesse. Und in ihrer aphoristischen, vulkanisch stoßweisen Art zu reden fuhr sie fort: »Der Gedankenlosigkeit mag es gestattet sein, nicht zu bemerken, daß in diesem gealterten Europa alles aus Rand und Band gehen will. Aber klaffen nicht überall die Spalten und Risse? Zerbröckelt nicht alles? Wo noch tritt unser Fuß auf festen Boden? O, über die Toren, oder sag' ich lieber, o, über die Glücklichen, deren Nervenfühlfäden grob genug sind, daß sie das Kommen des Sturmes nicht vorausempfinden. Wäre er nur erst da! Warum sollte diese Welt voll Jammer nicht in Trümmer gehen? In einem Traum der letzten Nächte sah ich den Donnergott unserer germanischen Altvordern, wie er seinen zermalmenden Miöllnir erhob, um dieses Gebäude zu zertrümmern, dessen Fundament die Lüge, dessen Dach die Heuchelei. Er schlage zu!«

»Um's Himmels willen, liebe Lolo,« sagte die Greisin begütigend, »welch finstere Phantasien! Ich bedaure fast, Ihr freundliches Anerbieten, den Winter in meinem alten Eulenneste mit mir zu verleben, angenommen zu haben; denn ich sehe, die Einsamkeit macht Sie melancholisch.«

»Nicht doch, Verehrteste. Diese Einsamkeit tut mir wohl. Es ist eine ganz andere als jene auf Kalbsried bei meinem Schwiegervater, der mich alle die Stunden, wo ihn die Gicht nicht plagt, mit dem Wiederkäuen unserer ewigen Familienprozesse peinigt. Doch lassen wir das. Ich wollte Ihnen sagen, lieber Schiller, daß Sie ungerecht gegen sich waren, wenn Sie fürchteten, man würde Ihrer neuen Tragödie anmerken, daß Sie die Menschen und insbesondere die Menschen der Höfe nur durch das Fernrohr kennten. Oder das Fernrohr, durch das Sie schauten, ist ein vortreffliches. Jene Toren und Sünder, welche Sie in Ihrer Luise Millerin geschildert, sie sind wirklich. Glauben Sie mir das; aber mein Freund, gehen Sie, ich bitte, an keinen Hof und dergleichen. Halten Sie sich hoch und vermeiden Sie alle diese Gelegenheit. Es kommt nichts Gutes dabei heraus. Man ist gedrückt dort, empfindet Leere, endlich Reue. Die Leute dort achten nur den, der sie entbehren kann. Aber ich bin auch gar nicht dafür, daß man über Höfe Satiren macht. Warum? Es ist nicht möglich, daß es dort anders ist, als es ist. Ihre Luise Millerin – ich liebe sie – ist keine Satire. Es ist das geschmolzene, rotglühende Metall der Wahrheit, auf Schurkenseelen geträufelt. Ob es sie zu Asche brenne? Schwerlich, aber was tut das? Sie haben Ihre Pflicht getan. Und nun, wie stehen Sie mit Ihrem Infanten von Spanien?«

»Auf ziemlich gutem Fuß, hoffe ich.«

»Prächtig! Aber beharren Sie darauf, auch dieses Werk in Prosa zu schreiben?«

»Bis jetzt halte ich in der Tat diese Form für die Passendste, meine Gnädige.«

»Bitte, tun Sie es nicht. Wahrhaft idealischer Gehalt verlangt auch eine idealische Form. Götter und Selige haben stets nur in Versen gesprochen. Und auch die Dämonen.«

Vielleicht gedachte Schiller dieser Worte der Titanide, als er später den in Prosa angelegten »Don Karlos« in die metrische Form umgoß. Für jetzt jedoch antwortete er ausweichend, denn sein angeborener Takt sagte ihm, daß die Erörterung so einer ästhetischen Spezialität die greise Prinzessin jedenfalls nicht interessieren könnte. Er lenkte daher, indem er flüchtig von den Vorstudien zu seinem neuen Trauerspiel sprach, die Unterhaltung auf die Memoirenliteratur, für welche er bei der alten Dame einige Teilnahme voraussetzen konnte. Er hatte sich nicht geirrt. Wenigstens sagte die Greisin:

»Ich habe vorzeiten, das heißt, als ich noch nicht in die Periode der Versteinerung eingetreten war, diese Art von Büchern sehr geliebt. Ich weiß freilich nur von französischen, erinnere mich aber, einen gelehrten Mann sagen gehört zu haben, daß eigentlich nur die Franzosen imstande seien, Memoiren zu schreiben.«

»O freilich,« bemerkte Lolo. »Und das kommt daher, weil nur die Franzosen eitel genug sind, auch dem lumpigsten Schlafrock den Anschein eines historischen Mantels geben zu wollen. Sie verstehen die Kunst der Drapierung: sie sind geborene Kammerdiener, Friseure, Komödianten. Eine Menge von jämmerlichen oder verworfenen Leuten unter ihnen schreibt ihre sogenannten Denkwürdigkeiten und versteht es, diesen Klatsch in den Tempel Klios einzuschmuggeln. Ich für meine Person, ich mag die Memoiren nicht. Mir scheint, diese ganze Literatur macht nur den Versuch, die große Welttragödie der Geschichte in eine sinnverwirrende Menge elender und schmutziger Vorzimmer- und Budoirhistörchen aufzulösen.«

»Ihr Widerwille macht Sie doch wohl etwas ungerecht, verehrte Freundin,« warf Schiller ein. »Geschichtliche Denkwürdigkeiten, welche diesen Namen wirklich verdienen, sind zur genauen Kenntnis der Historie geradezu unerläßlich. Sie geben nicht die großen, aber die kleinen Züge der Geschichte wieder, und gerade die letzteren dienen in sehr vielen Fällen zur Erklärung der ersteren. Das geistige und materielle Kulturleben, die Sitten, Bräuche, Gewohnheiten, kurz, die eigentliche Lebensführung und Weltanschauung einer geschichtlichen Periode, das alles wird uns weniger durch die Lapidarschrift Klios als vielmehr eben durch die persönlichen Denkwürdigkeiten klar. Ich gebe es zu, die Memoirenschreiber bezwecken zunächst, oft sogar ausschließlich, ihre eigene liebwerte Person zu illustrieren; aber indem sie dieses tun, illustrieren sie mit oder wider Willen auch ihre Zeit. Ich gestehe offen, daß ich nicht imstande wäre, einen Don Karlos zu schreiben, wenn mich nicht die reiche Memoirenliteratur, womit mein trefflicher Freund, der Bibliothekar Reinwald, aus der nahen Stadt mich zu versorgen die Güte hatte, mit den Einzelnheiten des Lebens und Treibens an König Philipps Hof und überhaupt mit den Ansichten und Stimmungen jener Zeit bekannt gemacht hätte.«

»Wunderlich!« sagte Lolo. »Und Sie empfinden keinen deprimierenden Eindruck von den Kleinlichkeiten dieser Lektüre?«

»Zuweilen doch. Man muß sich da allerdings geduldig durch viel wertlosen Quark hindurcharbeiten; aber dann eröffnen sich auch wieder weite Aussichten, und wir halten unsere Schritte gerne an, um rührende oder erschütternde Szenen und hochkomische oder tieftragische Episoden zu betrachten. Von letzterer Art ist mir erst gestern eine aufgestoßen, die mich mit Grauen erfüllte.«

»Bitte, erzählen Sie!«

»Es ist eine südländische Geschichte voll wilder Leidenschaftlichkeit.«

»Desto besser. Ist es doch doppelt reizend, in unserm kalten nordischen Nebelland, wo den Menschen die Gefühle in der Brust und die Gedanken im Gehirne gefrieren, von Glut und Leidenschaft zu hören. O, was wäre das Leben ohne die Kontraste!«

»Meine Geschichte handelt von einer Mutter und einer Tochter am spanischen Hof. Die Mutter setzte Himmel und Erde in Bewegung, um ihre arme schuldlose Tochter zu verderben –«

Lolo warf einen sonderbar fragenden Blick auf den Dichter, welchen dieser nicht verstand, und sah dann die greise Prinzessin an.

Diese hatte den Kopf erhoben und streckte die Rechte wie bittend abwehrend gegen den Dichter aus. Ihr Gesicht war noch bleicher als sonst, und ihre blutlosen Lippen bebten.

»Was ist das?« fragte sich Schiller. Aber bevor er eine Antwort finden konnte, sagte die Greisin tonlos vor sich hin:

»Es gibt solche Mütter.«

Dann stand sie auf, winkte dem Dichter gütig mit der Hand und verließ, auf Lolos Arm gestützt, das Gemach.

»Was bedeutet das?« fragte Schiller bestürzt, als die Baronesse allein zurückkam.

»Was das bedeutet, mein Freund? Daß Sie eine alte Wunde berührt haben, welche nie geheilt ist.«

»Ich verstehe Sie nicht, teure Lolo.«

»Sie kennen also die Geschichte der Prinzessin nicht?«

»Wie sollte ich? Auf einem Waldgang von einem Schneesturm überfallen, verirrte ich mich und gelangte zufällig in dieses Schloß und zu der Ehre, die Bekanntschaft der erlauchten Greisin zu machen. Bei meinem zweiten Besuch hatte ich das Glück, Sie hier zu finden, und dieser Umstand ließ mich weiter nicht daran denken, um das Rätsel der verschollenen Existenz unserer Wirtin mich zu kümmern.«

»Sie sagen, es war ein Glück für Sie, mich hier zu finden, Friedrich?«

»Wie können Sie so fragen, Lolo? Wüßten Sie nur, was ich empfand, als ich vorhin das Lied meiner Amalia von den Seelenlauten Ihrer Stimme getragen hörte!«

»Das Lied Ihrer Amalia? Ja, ich liebe es. Ach, wir armen Frauen erfahren ja alle das Leid Andromaches, daß der geliebte Hektor hinauszieht, um nicht wiederzukehren.«

»Aber, teure Lolo, hätte Andromache Hektor lieben können, wenn er nicht Glück und Leben für Ilium eingesetzt?«

»Sophisterei des Ehrgeizes! Und doch, Friedrich, haben Sie recht und Klopstock hat recht. Wissen Sie? ›Reizvoll klingt des Ruhms lockender Silberton.‹ O, mein Freund, den schönsten Kranz, den je eines Menschen Stirne getragen, möchte ich um die Ihrige legen. Und ich weiß, sie wird einen tragen, dessen Blätter nimmer verwelken. Wie glücklich seid ihr Männer! Ihr dürft, ihr könnt wenigstens kämpfen. Wir Frauen können nur dulden, leiden, schweigen, zuletzt versteinern wie unsere arme Freundin.«

»Ich habe ihr wehgetan und beklage es tief, aber es geschah –«

»Unwissentlich? Gewiß. Die Gute nahm es auch so. Sie trug mir einen Gruß an Sie auf und bittet Sie, bald wiederzukommen. Daß sie erschüttert werden mußte, werden Sie begreifen. Hören Sie nur. Vor langen, langen Jahren war die Prinzeß als junges Mädchen am Hofe ihres Vaters, des Markgrafen, die gefeierte Schönheit, geliebt von allen, nur nicht von ihrer leiblichen Mutter. Diese sehr galante Dame war eifersüchtig auf die Schönheit der Tochter und verfolgte dieselbe mit dem ganzen Haß der Eifersucht. Und um so schwerer wuchtete dieser Haß, da einesteils die Prinzeß in ihrer Sanftmut keine Waffen dagegen fand, andernteils die Markgräfin ihren schwachen, fast blödsinnigen Gemahl vollständig beherrschte. Die Tochter fand bei dem Vater keinen Schutz gegen den Grimm der Mutter. Diese hatte schon mehrere passende Gelegenheiten zu einer Heirat der Prinzessin vereitelt. Endlich fand sich ein hartnäckiger Freier ein, der sich durch die gewöhnlichen Künste der Markgräfin nicht von seinem Vorhaben abwendig machen ließ. Die Prinzeß war ihm gewogen. Da beschloß die Furie Ungeheures, Unerhörtes. Sie versprach einem elenden Wichte von Kammerherrn die Summe von viertausend Dukaten, wenn es ihm gelänge, ihre Tochter zu entehren.«

»Abscheulich!«

»Ja, aber es kommt noch besser. Der Schändliche und seine Helfershelferin hatten umsonst alle Ränke erschöpft. Da mußte Gewalt das Werk der Hölle vollenden. Die Mutter verbarg ihren Spießgesellen in dem Schlafzimmer der Tochter. Die Nacht kam. Die Domestiken der Prinzessin waren entfernt, die Türen zu ihren Zimmern von außen verschlossen worden. Die verzweiflungsvollen Hilferufe der Jungfrau verhallten unbeachtet. Das Opfer erlag der Brutalität–«

»Unmöglich!«

»Und doch! Mehr als möglich, gewiß, unzweifelhaft. Die Folgen kamen mit der Zeit. In einem Zustande halben Wahnsinns gebar die Prinzessin Zwillinge. Die Markgräfin trug die Kinder im Schlosse umher und zeigte sie triumphierend jedermann als lebendige Beweise der Schande ihrer Tochter. Glücklicherweise starben die armen Geschöpfe bald nach ihrer Geburt. Sobald die Prinzessin ihrer Sinne und ihrer Glieder wieder mächtig war, entfloh sie, um am Hofe der Kaiserin Maria Theresia Schutz zu suchen. Dort lebte sie, beklagt und geachtet, bis die Teufelin von Mutter nach einer langen Laufbahn des Lasters gestorben war. Dann zog sie, um ihr Leben so schändlich betrogen, hierher in dieses einsame Schloß, um in und mit demselben langsam zu verwittern.«

»Aber das ist ja gräßlich, haarsträubend! Wird das kommende Jahrhundert es glauben können, daß in dem unserigen, in dem Jahrhundert der Aufklärung ein solcher Greuel geschehen konnte?«

»Mein Freund, das kommende Jahrhundert wird es glauben müssen, um so mehr, als es selber der Greuel genug sehen wird. Solange es Menschen gibt, wird die Macht des Bösen in ihnen stärker sein als die des Guten.«

»Das ist ein schrecklicher Glaube, Lolo. Warum wollen Sie sich nicht zu dem tröstlicheren bekehren, daß der Sieg der Vernunft, der Wahrheit, des Rechtes zuletzt doch kommen müsse?«

»Weil die Weltgeschichte ein höhnisches Nein sagt. Was ist sie mehr als ein schrecklicher Knäuel von Irrtum und Gewalt? Und dann –«

»Dann?«

»Weil ich nur eine Frau bin. Wir Frauen besitzen nicht die Fähigkeit, wie ihr Männer, uns leicht in die Ätherhöhen der Abstraktion zu erheben. Wir denken mit dem Herzen. Das Herz verlangt nach Wirklichkeiten. Selbst die rauhesten Dornen derselben vermögt ihr Dichter mit dem Blätterschmuck und den Rosen des Ideals lindernd und verhüllend zu umkleiden. Wir nicht. Wir müssen hoffen dürfen, lieben können, geliebt werden, um zu leben. Und, ach, es gibt Enttäuschungen, die wir nie wieder verwinden. Ihr Männer verwindet sie, und das ist euer Glück und Vorzug. Ihr könnt in der Zukunft, wir müssen in der Gegenwart leben. – Ich habe zu frühe, viel zu frühe zu leiden angefangen, mein Freund.«

Er faßte teilnehmend ihre Hand. Sie fuhr fort:

»Als ich geboren wurde – so hat man mir erzählt – rief mir die Großmutter die Worte entgegen: ›Du solltest nicht da sein!‹ Das war und blieb die verhängnisvolle Signatur meines Lebens. Ich war überflüssig, unwillkommen von vornherein. Man hatte statt meiner einen Knaben erwartet, von dessen Geburt der Bestand der Besitzverhältnisse meiner Familie anhing. Nun war ich aber einmal da, und allmählich lernten mich Vater und Mutter doch lieben. Aber sie starben mir weg, bevor ich acht Jahre alt geworden. Jetzt warfen mich Oheime und Tanten wechselweise von einer Hand in die andere, als ein Spielzeug, bis sie desselben wieder satt waren. Sie nannten das mich erziehen. So lebt' ich, heranwachsend, in protestantischen und katholischen, in devoten und frivolen Kreisen, im Grunde immer mir selbst überlassen. Nirgends Plan, Regelung, liebevolle Leitung. Die ungeheure Masse wechselnder Eindrücke schichtete in meinem Innern ein Chaos von Gefühlen und Ansichten auf. Schon vor meiner Konfirmation durfte ich lesen und las Racine, Voltaire, Rousseau, Shakespeare, den Koran, Klopstock, Gerstenberg, Wieland, alles bunt durcheinander. Was Wunder, daß ich zwischen überschwenglichster Schwärmerei und bitterster Skeptik hin und her gezogen ward? Kommt es mir doch oft wunderbar vor, daß ich nicht verrückt wurde. – Und während es so in mir gärte, wogte, stürmte, folgten sich draußen Familienmißgeschicke Schlag auf Schlag. Ich mußte erleben, daß mein geliebter einziger Bruder in einem Duell getötet wurde, dessen Ursache eine unglückliche Liebe war. Ich mußte es mit ansehen, daß Wilhelmine, meine ältere Schwester, aus jenen meist unsäglich jämmerlichen Motiven, welche man Familienrücksichten nennt, an einen ungeliebten Mann verkuppelt, ohnmächtig am Brautaltar niedersank und besinnungslos in den Wagen getragen wurde, der sie in die Flitterwochen führen sollte. In die Flitterwochen, gerechter Gott! Sie starb in ihrem ersten Wochenbette, die Arme, glücklicher wenigstens als Leonore, meine jüngere Schwester, die, ebenfalls aus Familienrücksichten, an einen Niederträchtigen geschmiedet ward, der, falls es eine Gerechtigkeit auf Erden gäbe, längst Galgen und Rad verdient hätte. Und ich selbst? Nun, der Tag sollte kommen, wo auch ich auf dem Altar des Familienmoloch geopfert wurde. Die Herren Vettern, die Frau Basen kamen überein, mir von fernher einen Mann zu verschreiben, wie man sich ein Möbelstück verschreibt, einen Mann, der mich eigentlich gar nichts anginge, wenn er eben nicht zufällig mein Mann wäre. – Warum ich mich zwingen ließ, ihn zu nehmen? lese ich in Ihren Augen, mein Freund. Doch nein, Sie sind nicht so grausam, diese Frage zu tun. – Ich tat, wie man wollte – aus Apathie, aus Schwäche, wenn Sie wollen. Nach allen den herben Verlusten und bitteren Erfahrungen, einsam und allein, wie ich war, der Gleichgültigkeit gegen das Leben voll, ohne Mut und Hoffnung für die Zukunft, in dumpfer Ermattung – so wurde ich mit dem Major verbunden.«

Der Dichter saß tiefbewegt. Es klangen aus dieser hastig hervorgesprudelten Beichte seelenvolle Klagelaute, die ihm ins Herz griffen. Er konnte nur die weiche, feine, feuchte Hand drücken, die noch immer in der seinigen lag, und dazu sagen:

»Arme Lolo!«

Sie neigte sich sanft gegen ihn, streifte mit ihren Lippen seine Stirn und sagte:

»O, seien Sie mein Freund, teurer Friedrich! Sie wissen nicht, welchen Frühling Ihre Erscheinung in diesem, in meinem Winter mir aufgehen ließ. – Da drinnen in meiner Brust war alles so starr, so eisig. Ihre Poesie, Ihr Blick, Ihr Wort schmolzen das Eis. Mir ist, als hört' ich es Stück für Stück klingend zerbrechen. Ach, wenn ich glauben dürfte, daß aus dem Boden, den ich schon als für immer durchfroren und verödet ansah, noch Blumen sprossen könnten!«

Es dunkelte in dem Gemache, denn der Abend war hereingebrochen. Die Baronesse stand auf und zog den Freund ans Fenster, von welchem aus man die Sterne hell über den von Abendreif angeflogenen Wäldern funkeln sah.

»Wie sie da oben leuchten, die ewigen Lichter,« sagte sie. »Ewig klar, ewig schön, ewig unberührt von all dem Jammer und Wirrwarr hier unten. Wer da wüßte, ob es ein Leben über den Sternen gibt!«

»Ja, wer das wüßte, Teuerste! Damit wären alle Rätsel unseres Daseins gelöst. Aber hätte dann dieses Dasein auch noch einen Wert? Nicht die Gewißheit, sondern das Streben und Ringen nach ihr bildet und baut die Welt.«

»Aber warum dieser rastlose Trieb unserer Seele nach Glückseligkeit, wenn uns nie die Erfüllung werden soll?«

»Frage die Sterne!«

»Sie geben keine Anwort.«

»Wer gibt sie?«

»Unser Herz – vielleicht –«

»Vielleicht, ja. Aber ob auch die richtige?«

»O, mein Freund, muß denn die Menschenseele verdammt sein, immer in der Wüste des Zweifels zu wandern?«

»Es scheint mir so. Aber gibt's denn in dieser Wüste nicht köstliche Oasen, wo Palmen schatten und silberne Bronnen rauschen?«

»O doch, und mir ist, als sei auch dieses verschollene Steingetrümmer zur Oase geworden.«

»Siehst du? Was also quälst du dich? Ruhe dich aus im Schatten der Palmen und trinke Labung aus dem reinen Quell.«

Sie lehnte sich an ihn, sah ihn groß an und sagte tief erregt:

»Du sagen Sie, teurer Freund? Du sage ich – die Wahrhaftigkeit kennt kein Sie. O, eine Welt liegt in dieser Silbe. Das du ist einer ewigen Verbindung Siegel!«

Einer ewigen? – Arme Lolo!


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