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Die beiden Männer waren während ihres Gespräches fast an das Ende der Straße gelangt und im Begriffe, rechtshin in eine ins Innere der Stadt führende einzubiegen, als ihnen von dorther zwei Knaben entgegenkamen, mit ihren Schulbüchern unter den Armen. Sie waren von gleichem Alter, etwa dreizehnjährig, aber von sehr ungleichem Aussehen. Der eine war ziemlich klein für die angegebene Altersstufe, untersetzt, braun von Gesichtsfarbe und dunkel von Haaren, im ganzen ein hübsches Bürschchen, was von dem andern keineswegs gesagt werden konnte. Dieser war nämlich hochaufgeschossen, und seine ungewöhnlich langen Beine standen zu dem kurzen Oberkörper in einem sehr mißlichen Verhältnis. Sein langes, schmales, blasses Gesicht war mit Sommersprossen dicht besäet, die Ränder seiner blaugrauen Augen waren entzündet, und unter seiner Mütze hervor stachen Büschel hochroten Haares. Seinen Bücherpack nachlässig im linken Arm haltend und mit der Rechten lebhaft gestikulierend, redete er eifrig auf seinen Kameraden hinein, und was er sagte, mußte belustigend sein, denn der Kamerad lachte im Gehen hellauf.
»Sehen Sie, Herr Bechtold,« sagte Schubart, »der Rotkopf dort ist der junge Schiller; der andere, sein Leibkamerad, ebenfalls ein Offizierssohn, heißt Hoven. – Heda ihr beiden Fritzen!« fuhr er zu den Knaben gewandt fort »kommt mal her!«
Die Angerufenen kamen über die Straße herüber. Sie kannten den Magister und Stadtorganisten sehr gut, denn dieser war einer der öffentlichen Charaktere der Residenz und überdies ein guter Bekannter ihrer Familien. Sie grüßten höflich, aber es schien ihnen etwas ganz besonders Lustiges im Kopfe zu stecken, denn sie konnten das Kichern kaum verhalten.
»Was habt ihr denn, ihr Teufelsjungen?« fragte sie Schubart. »Habt ihr dem grimmigen Präzeptor einen Possen gespielt, oder hat euch der Spezial Zilling ein Donnerwetter vorgeorgelt, daß die Milch in den Töpfen gerann?«
Die Knaben blinzelten den fremden Herrn Bechtold forschend an, brachen dann aber gemeinsam in ein lautes Lachen aus.
Der rothaarige Fritz stieß den schwarzhaarigen mit dem Ellenbogen an und flüsterte:
»Sag' du's, Fritz!«
»Nein, Fritz, sag du's!« erwiderte der Schwarze dem Roten.
Dann lachten wieder beide.
»Nun, ihr Schlingel,« polterte Schubart, »wollt ihr mich zum Narren haben? Was verursacht euch denn ein so herzinnigliches Gaudium? Heraus damit!«
Fritz Schiller blinzelte heftig mit den Augen, wie es seine Gewohnheit war und sagte dann, sich zu möglichstem Ernst zwingend:
»Ei, Herr Schubart, Sie sind ja auch ein Gelehrter und haben Theologiam studiert. Bitte sagen Sie uns: Ist es wahr, hat die lutherische Kirche wirklich elfenbeinerne Zähne?«
»Ja, hat sie wirklich Zähne von Elfenbein?« fragte nun auch Fritz Hoven.
»Was, zum Teufel, soll das heißen, ihr Racker?« gab Schubart zurück.
»Ja, sehen Sie, Herr Schubart,« sagte der rote Fritz mit Gravität und Pathos, »es ist ein verwickelter Kasus.«
»Jawohl,« schaltete der schwarze Fritz ein. »Die Sache ist noch verwickelter und schwieriger als die Konjugation der Verba auf Mi.«
Und jetzt, da die Redseligkeit der Knaben einmal im Gange und sie schlau genug waren, zu wissen, daß ihr Histörchen dem Poeten baß gefallen würde, wetteiferten sie im Vortrag desselben.
»Sehen Sie, Herr Schubart, da hat uns Se. Ehrwürden der Herr Spezial Zilling heut' in der Religionsstunde das Hohelied Salomonis erklärt –«
»Und ausgelegt und exegetisch traktieret, wie er sagte.«
»Und da haben wir gelesen, daß die Braut Salomonis Zähne von Elfenbein hatte –«
»Und einen Hals wie der Turm auf Libanon, so gen Damaskus schaut –«
»Und da hat uns Se. Ehrwürden erklärt, das alles sei parabolisch zu verstehen –«
»Und Salomonis Braut, das sei die lutherische Kirche –«
»Und da tat einer von uns Se. Ehrwürden fragen, ob denn die Kirche wirklich elfenbeinerne Zähne habe –«
»Und da ging dann ein erschreckliches Donnerwetter los.«
Schubart lachte unbändig.
»O, das ist groß!« sagte er. »Ich hätte mögen das Gesicht des Kerls sehen – will sagen Sr. Ehrwürden. Gewiß hat er vor Wut gefaucht wie ein rabiater Relling. – Aber wer von euch beiden Fritzen hat denn die Frage von wegen der elfenbeinernen Zähne getan? Er soll einen Dreibätzner von mir haben, ja bei Bacchus und Venus, den soll er haben.«
Ein Dreibätzner war eine große Versuchung, der um so unbedenklicher nachgegeben werden konnte, als allem nach einer der beiden Fritze in der Tat die Frage gestellt hatte, welche den leichtblütigen Poeten und Musikus so sehr ergötzte. Dennoch wollten die Knaben mit der Antwort nicht herausrücken. Der schwarze Fritze begann zwar: »Da, mein Kamerad –« aber er stockte sogleich wieder und blickte wie sein Kamerad verlegen zu Boden. Das kam daher, daß der strenge Blick des fremden Herrn sie einschüchterte. Bechtolds durchaus solider Sinnesweise schien die Art, wie Schubart mit den Knaben verhandelte, durchaus unpassend, und als der Musikus seine Börse zog – ach, sie enthielt kaum viel mehr als ein Paar Dreibätzner – und seine Lockung wiederholte, mischte er sich ein, indem er zu dem jungen Schiller sagte:
»Lieber Fritz, was würden dein braver Vater und deine fromme Mutter sagen, wenn sie hörten, daß du über Sachen der Religion und über deinen Religionslehrer auf öffentlicher Straße in der Manier, wie du tatest, dich auslassest? Ich bin ein Bekannter deines Herrn Vaters, habe ihn gestern auf der Solitude besucht und soll dich von ihm und der Frau Mutter grüßen und dir sagen, daß sie heute nachmittag in die Stadt kommen werden.«
Der Knabe war über und über rot geworden, nicht so fast im Gefühl eines begangenen Fehlers, wie es schien, als vielmehr im Bewußtsein, daß der Fremde eine unrichtige Meinung von ihm hegte. Seine Schüchternheit, die sich auch in der merkwürdig unbehilflichen Körperhaltung ausdrückte, verwehrte ihm jedoch, eine Rechtfertigung zu versuchen, und er sagte endlich nur in abgebrochenen Worten:
»Ich bitte Sie, sagen Sie meiner Mutter nichts davon, Herr. Nicht um meinetwillen, nein, gewiß nicht, sondern um ihretwillen. Es würde ihr weh tun.«
»Wohl, um dieses Wortes willen soll deine Unbesonnenheit verschwiegen bleiben, und ich hoffe, du habest Verstand genug, keine ähnliche mehr zu begehen.«
Er gab dem Knaben die Hand, und zwar keine leere, denn als Fritz die seine zurückzog, fand er darin einen Mariatheresiataler.
Schubart hatte zu der Zurechtweisung, welche Herr Bechtold dem knabenhaften Übermut angedeihen ließ, eine Miene gemacht, als wollte er sagen: »Was für ein verhenkerter Pedant ist das!« Jetzt bemerkte er in seiner sorglosen Weise:
»Nu, nu, werter Freund und Gönner, man muß das Ding eben von der humoristischen Seite nehmen. Ich danke Gott, daß er so gnädig war, unter andern hübschen Sachen, über welche ich mich jetzt nicht spezialiter verbreiten will, auch den Humor zu schaffen. Der Mensch ist im allgemeinen eine so Prosaische, ernsthafte Bestie, daß er unausstehlich würde, wenn nicht auch dem Ernsthaftesten zuweilen der neckisch gaukelnde Götterknabe Humorus einen Nackenschlag versetzte. Wie vieles machte er wieder gut, was die ernsthafte Dummheit der Menschen bös gemacht hat! Sehen Sie, da wird mit dreizehnjährigen Jungen –«
Herr Bechtold gab dem Poeten einen Wink mit den Augen, auf die Anwesenheit der beiden Knaben Rücksicht zu nehmen, allein Schubart war nun einmal im Zug, und wenn er das war, pflegte er die Rücksichten mit souveräner Verachtung zu behandeln.
»Ja,« fuhr er fort, »da wird nun mit dreizehnjährigen Jungen in dummbester oder bestdummer Absicht der Schir Haschirim Salomonis gelesen, an und für sich schon eine pädagogische Monstrosität, kaum geringer, als wollte man den Jungen des Ovidius Buch von der Liebeskunst zum Exponieren geben. Da man nun aber einmal eine Dummheit gemacht hat, macht man gerade noch eine zweite, damit die erste nicht allein stehe. Was Wunders, wenn da zuweilen der Humor plötzlich seinen allerhöchsten Spaß treibt? Und wenn er es tut, warum soll man nicht darüber lachen dürfen? Es ist ein köstlich und gesundes Ding um das Lachen, wie schon Doktor Luther eindringlich gesagt hat. Nur ein Mensch, welcher die Gottesgabe, die in dem Reiz der Lachmuskeln liegt, entweder gar nicht besitzt oder wenigstens nicht zu schätzen weiß, kann heute noch mit hölzerner Ernsthaftigkeit in das glühende Hohelied der Hebräer eine abgeschmackte Allegorie hineindeuten. Müssen sich da nicht mit Notwendigkeit die allerlächerlichsten Konsequenzen ergeben? Die Sulamith des hebräischen Dichters soll die lutherische Kirche sein? Ei, in diesem Falle ist Se. Ehrwürden der Herr Spezial ein integrierender Teil der Sulamith. Nun aber denke man sich den Mann! Zwar, was seine Nase angeht, so dürfte dieselbe mit dem Turm auf Libanon, so gen Damaskus schaut, etwelche Ähnlichkeit haben. Was jedoch seine Zähne betrifft, o großer Gott, seine Zähne –«
»Wehe dem, der da wandelt im Rate der Gottlosen und tritt auf den Weg der Sünder und sitzet auf dem Stuhle der Spötter!« ließ sich plötzlich im Rücken des Poeten eine widerwärtig angespannte fette Stimme vernehmen.
Schubart fuhr erschrocken herum, und er hatte guten Grund zu erschrecken.
Der Mann, welcher vor ihm stand und vorhin das strafende Bibelwort gesprochen, war sein Vorgesetzter, der Spezial Zilling, von welchem seine Existenz zunächst abhing. Dieser Mann, der ihm, wie er wohl wußte, ohnehin durchaus nicht freundlich gesinnt war, hatte seine Rede mit angehört. Ein fataler, ein sehr fataler Zufall!
Allerdings konnte eine Vergleichung der salomonischen Sulamith mit Sr. Ehrwürden für den Spezial-Superintendenten von Ludwigsburg nicht sehr schmeichelhaft ausfallen. Weder der große dreieckige Hut, den er auf der dickgekleisterten Frisur sitzen hatte, noch das schwarze Mäntelchen, noch die großen weißen Bäffchen, noch das lange Rohr mit goldenem Knopf, welches er in der Hand trug, vermochten seiner Erscheinung etwas Würdiges zu verleihen. Die Natur hatte ihn gar zu stiefmütterlich bedacht. Eine schmale, gedrückte Stirne, kleine, rotumränderte Kakerlakaugen, eine lange, aber platte Nase, in Form einer gequetschten Feige, in eine Spitze oder vielmehr Knolle auslaufend, deren Röte, wie die bösen Zungen der Residenz behaupteten, keineswegs nur ein Widerschein innerer Andachtsglut war, eine schmutzig gelbe Gesichtsfarbe, endlich ein über alle Maßen großer Mund, aus welchem ein paar große gelbe Zähne einsiedlerisch hervorstanden – das alles formierte eine Physiognomie voll geistloser Häßlichkeit, welche durch einen starken Zug von Hochmut zwischen den kaum sichtbaren Brauen durchaus nicht liebenswürdiger gemacht wurde. Der Herr Spezial schleuderte dem Poeten einen Blick zu, welcher sagen zu wollen schien: »Hab' ich dich einmal?« Dann stieß er sein Rohr auf das Pflaster und ließ den beiden Knaben, die nicht wenig betreten ihre Mützen zogen, einen Seitenblick zuteil werden, dessen Bedeutung leicht zu verstehen war. Sie schlichen still davon und waren wahrscheinlich froh, als sie um die nächste Ecke waren.
Schubart, höchst verlegen, fühlte den Druck des peinlichen Moments in seiner ganzen Schwere. Vielleicht hätte er sich sogleich vor dem gefürchteten geistlichen Würdenträger gedemütigt, wenn ihn nicht die Anwesenheit Bechtolds verhindert hätte, seine Männlichkeit gar zu sehr bloßzustellen. Er wünschte lebhaft eine Intervention von seiten seines Begleiters, da aber dieser in der Verwirrung des Augenblicks nicht dazu geneigt schien, mußte er schon selbst den Versuch machen, sich aus der Klemme zu ziehen, so gut es eben gehen wollte.
»Herr Spezial,« begann er unterwürfig.
Allein Zilling unterbrach ihn sofort, indem er mit Härte sagte:
»Wenn Er mit mir reden will, so vergess' Er vor allen Dingen nicht, den gehörigen Respekt zu beobachten und mir den gebührenden titulum zu geben.«
»Ihr Ehrwürden –«
»Schweig' Er, bis man Ihn fragt! – In Ausführung eines allerdurchlauchtigsten, von seiten Serenissimi mir erteilten mandati komme ich meines Wegs daher, herzoglicher Geschäfte halber nichts denkend, und siehe da, was geschieht? Ja, was geschieht? Wie salva venia Lotterbube steht der Mußje an der Straßenecke und stiftet zwei boshaftige Schlingel von – von – nun, ist schon recht, optime, werden ihr wohlzugemessenes Deputat kriegen, die beiden Fürwitze – ja, item, mein Mußje Stadtorganist, statt gebührenden Respektes gegen eine hohe Obrigkeit und allzu nachsichtige Vorgesetzte eingedenk zu sein, quid facit? Stiftet knützeKnütz, zusammengezogen aus keinnütz, keinen Nutzen bringend, Provinzialismus für nichtsnutzig. Buben contra sanctam religionem fidemque auf und läßt seine spottgeile Lotterzunge im Eselstrab über besagte allzu nachsichtige Vorgesetzte hergehen. Wie will Er sich dessentwegen verexkusieren?«
»Herr Spezial –«
»Ihr Ehrwürden! Ihr Ehrwürden! Selbiger Titul gebühret mir!«
»Also, Ihr Ehrwürden –«
»Schweig' Er, bis man Ihn fragt, sag' ich Ihm.«
»Aber Sie haben mich ja gefragt –«
»Was, was? Meint Er, Er könne mich mit seinem gottlosen Lästermaul niedermaulen? Macht Er sich das phantasma vor, Er könne mit dem Spezial Zilling das Michele spielen? Ich werd' Ihn bespezialen, daß Er's gern besser hätt'. Hab' Ihm schon lange auf den Dienst gewartet.«
»Das weiß ich wohl.«
»So, das weiß Er?«
»Ja, und weil –«
»Favete linguis«, zu deutsch: halt' Er sein Maul, wenn Seine von Gott und Serenissimo Ihm gesetzte Obrigkeit vor Ihm steht, um Ihm einen wohlverdienten Rüffel zu applizieren, Er meint wohl, man kenne seine Tück' nicht? Aber man kennt sie, und der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht. Gott verzeihe mir die schwere Sünde, daß ich so einen Sünder, wie Er ist, so lange in einem officio geduldet habe, welchem nur ein gottseliger Mann vorstehen kann und soll. Meint Er, ich habe keine Ohren?«
In Schubarts beweglichem Gemüte begann der Schrecken und die Zerknirschung, in welche die Überrumpelung durch den gefürchteten geistlichen Würdenträger ihn versetzt hatte, einem anderen Gefühle Platz zu machen. Der Schalk in ihm fing sich zu regen an.
»Ihr Ehrwürden,« sagte er, »ich habe nie gemeint, daß Sie keine Ohren hätten. Im Gegenteil, ich bemerkte viel und oft, daß Ihre Ohren –«
Der Spezial schnitt jedoch den Witz ab, welcher dem Poeten auf der Zunge schwebte. Mit seinem Rohr aufstampfend sagte Zilling:
»Er hat wohl gemeint, meine Ohren hätten Seine lästerlichen Dudeleien, womit er die Orgel so oft entweihet, mit demselbigen sündhaften Wohlgefallen angehört, wie die eitlen Weltkinder taten, denen Er zur Schande Seines kirchlichen Amtes in aller Torheit nacheifert? Aber da hat Er Seinen calcul falsch gemacht, sag' ich Ihm. Es ist alles gehörig notieret und soll gehörigen Ortes vermeldet werden. Man wird schon mit Ihm fertig werden, Mußje, merk' Er sich das! Man wird abrechnen mit Ihm. Man wird Ihn zur Verantwortung ziehen von wegen einer gewissen blasphemischen scarteque, die Er neulich hat ausgehen lassen. Man wird Ihm zeigen, was es mit Seiner Versündigung in puncto adulterii auf sich und was Sein ärgerlicher Handel mit der Barbara Streicherin zu bedeuten hat. Sein Maß ist gerüttelt voll, sag' ich Ihm, und man wird Ihm das consilium abeundi geben, oder ich will nicht Zilling heißen.«
Die Miene des Spezials, womit er diese Worte begleitete, war so, daß Schubart leicht bemerken konnte, es handle sich hier um Ernsteres als um eine jener Abkanzelungen, wie er sie in seinem amtlichen Verkehr mit Zilling schon mehrfach erfahren. Hätte er nicht glauben müssen, es sei hier auf mehr als auf eine Demütigung abgesehen, so würde er sich den Schimpf wohl haben gefallen lassen. So aber, bemerkend, daß der Spezial die Sache weiter und zum äußersten treiben würde, gewann er in dem Maße, in welchem die brutale Heftigkeit seines Gegners zunahm, seine natürliche Überlegenheit über denselben wieder. Bechtold, welcher dem ganzen Auftritt mit äußerstem Befremden anwohnte, sah, weil ihn der rücksichtslose Zelotismus Zillings empörte, mit Befriedigung, wie sich die Gestalt Schubarts aus ihrer, wie man in Schwaben sagt, verdatterten Haltung aufrichtete und wie ein Lächeln sorglosen Humors um den Mund des Poeten zu spielen begann.
Es ist aber bekannt, daß ein Eiferer, wenn er einmal ins Predigen hineingeraten ist, nicht sobald davon abläßt. Der Herr Spezial fuhr daher fort, die Blase seiner Galle also zu entleeren:
»Was hat Er auf das alles zu antworten, Er leichtsinniger Patron, Er? Glaubt Er, es lasse sich jedwedes scandalum mit Gedudel und Geversel vertuschen? Da wird Er sich verrechnen, sag' ich Ihm. Und das unehrliche Komödiantenpack und die koketten Klavierschülerinnen und die musikalischen Quänkeleien und die gottlosen Poetenbücher, an denen Er sich das Hirn verbrannt hat, statt in der Biblia sacra zu studieren« –
»Bitt' um Entschuldigung, Ihr Ehrwürden. Ich kenne meine Bibel so gut wie einer. Namentlich hab' ich das Hohelied Salomonis immer mit großem Vergnügen gelesen.«
»Mit großem Vergnügen, so? Da höre einer den Lästerer! Mit Andacht, nicht mit Vergnügen, soll man das heilige Buch lesen.«
»Aber ich sehe nicht ein, warum mir ein Liebesgedicht gerade viel Andacht erregen soll.«
»Ein Liebesgedicht? Was versteht Er davon, Er miserabler Tastengreifer! Also poëmata und derlei Flausen sucht Er in der Heiligen Schrift?«
»Was ich auch immer darin suche, Ehrwürdigster, das habe ich nie darin gefunden, daß die lutherische Kirche elfenbeinerne Zähne habe.«
»Was, was? Ich glaube gar, Mußje, Er erfrecht sich, Seinen gottlosen Spott mit mir treiben zu wollen. Was steht Er da und glotzt mir so frech ins Gesicht? Ich will Ihm zeigen, wer ich bin.«
»Ist nicht nötig, gar nicht nötig. Ich habe bereits die Ehre, vollständig zu wissen, wer Sie sind.«
»Schön, schön. Das schlägt dem Faß vollends den Boden aus. Was, was? Statt seine vitia und crimina demütig zu bekennen und Reu' und Leid zu machen und um Pardon zu bitten, will Er den Großhanns spielen und mir den Widerpart halten? Das soll Ihm teuer zu stehen kommen!«
»Die Schrift sagt: Segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen und verfolgen.«
»Er kann ja Sein Sprüchlein prächtig aufsagen, aber man weiß, was Gottes Wort in Seinem Lästermaul bedeutet. – Schämt Er sich nicht in Seine Seele hinein,« fuhr der Erbosete fort, mit nicht sehr glücklicher Taktik den Krieg auf ein anderes Feld hinüberspielend, »schämt Er sich nicht, Er, ein Diener der Kirche gleichsam, wenn auch ein unwürdiger, so, wie Er tut, Sein Jagen nach den Eitelkeiten der Welt großprahlerisch zur Schau zu stellen? Was, was? Schon Sein An- und Aufzug stinkt nach Torheit und Liederlichkeit, pflichtvergessener Familienvater Er! Hat Er gar keine Scheu vor Gott und Seiner rechtmäßigen Obrigkeit, daß Er es wagt, mir so unter die Augen zu treten, sündhaften Maskentrödel auf Seinem vom Schlemmen aufgetriebenen Leibe?« In Schubart war jetzt der humoristische Übermut völlig zum Durchbruch gekommen. Er sah in dem Spezial nicht mehr den gefürchteten Vorgesetzten, sondern nur noch die Zielscheibe seiner Laune, und antwortete daher frischweg:
»Se. Durchlaucht unser Herzog und Herr hätte den Karneval nicht angeordnet, wenn er nicht wollte, daß die Leute sich dabei amüsieren sollten. Außerdem sagt die Schrift: Seid fröhlich mit den Fröhlichen!«
»Halt' Er Sein ungewaschenes Maul, sag' ich. Er ist gar nicht würdig, ein sanctum verbum in den Mund zu nehmen. Meint Er, man wisse nicht, wie Er in den Weinstuben das Wort Gottes zu parodieren sich erfrecht? Ich sag' Ihm, Er steckt voll knützer Poeterei und Ketzerei und Aufklärung und derlei gottloser Faxen bis an den Hals herauf, Er Spötter und Saufaus!«
»Ei, Ihr Ehrwürden, der Wein ist doch wohl da, um getrunken zu werden. Sagt doch der Psalmist: Der Wein erfreut des Menschen Herz und macht sein Angesicht glänzend wie von Öl.«
»Was, was? Derohalben liest also der saubere Mußje die Schrift, damit Er gotteslästerliche Verexkusierungen für Seine notorische Trunkenbolderei vorbringen könne?«
»Hm, Ihr Ehrwürden, ich meine, daß auch andere den Spruch des Psalmisten gelegentlich stark sich zu Gemüte führen; denn, sehen Sie, was das Trinken betrifft, so könnte sich, dächte ich, jeder an der eigenen Nase nehmen.«
Ein sehr demonstrativer Blick kommentierte diese Worte, wenn sie überhaupt eines Kommentars bedurften, und die Wirkung war höchst possierlich. Denn der Spezial fuhr unwillkürlich mit der Hand nach seiner Nase, und als er den Mißgriff gewahrte, war es schon zu spät.
Bechtold blickte zur Seite, weil er das Lachen nur mit Mühe verhalten konnte. Schubart aber wußte sich die Miene zu geben, als wüßte er gar nicht, was für einen tödlichen Pfeil er abgedrückt hatte. Übrigens verriet ihm der Wutblick, welchen ihm Zilling zuwarf, daß der Pfeil haftete. Der Spezial nahm sich gewaltsam zusammen.
»Wer einen rußigen Kessel anrührt,« sagte er, »der beschmutzt sich. Es war töricht von mir, mich auf offener Gasse mit Ihm in einen Streit einzulassen, Mußje. Das übrige wird nachfolgen, verlass' Er sich darauf. Seine Windbeutelei und all Sein sündhaftes Treiben wird ein Ende mit Schrecken nehmen. Wehe dem, der da sitzet, wo die Spötter sitzen! Ja und Amen.«
Sprach's, drückte den Dreimaster fest auf den Kopf, stampfte mit dem Rohr noch einmal bedeutsam auf den Boden und schritt mit aller Gravität, die er aufzuwenden hatte, über die Straße dahin.
Schubart brummte ihm noch einen Fluch nach; dann sagte er mit der Selbstgefälligkeit, in welcher er sich nicht selten gefiel:
»Hab' ich diesen Bruder Grobian nicht abgeführt und abgeschmiert, wie er es verdiente? War es nicht ein guter Einfall, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen? Und haben Sie, werter Freund und Gönner, nicht bemerkt, wie der dumme Mensch mit der Hand nach seiner Nase fuhr, aus welcher sich die Weinsteinquintessenz von einigen hundert Eimern Zehentwein abgelagert hat? Ich werde ein Gedicht darauf machen, ja, das werd' ich!«
Und im Vorgefühl der Befriedigung, die Leute auf Kosten seines zelotischen Feindes lachen zu machen, lachte der Poet jetzt selber laut auf.
Aber die Seele dieses Mannes war wie Kork, tanzend auf den Wogen der wechselnden Eindrücke.
Die nachdenkliche Miene Bechtolds, welcher schweigend neben ihm herschritt, während sie eine gegen die Stadtkirche zu hinaufführende Straße durchmaßen, machte ihn selber nachdenklich. Die Begegnung mit Zilling mußte schlimme Folgen für ihn haben, das konnte einem Zweifel nicht unterliegen. Das Wort consilium abeundi oder Laufpaß, welches der Herr Spezial so nachdrücklich gebraucht, stieg wie eine drohende Wolke vor Schubart auf. Er wußte, daß Zilling, welcher nach der Art der meisten lutherischen Kirchenlichter von damals die brutalste Orthodoxie nach unten mit der kriechendsten Servilität nach oben vereinigte, beim Herzog viel gälte und daß es daher dem beleidigten Würdenträger nicht schwer werden würde, eine Absetzung und Verweisung seines Verhöhners zuwege zu bringen. Die Vorstellung einer Verweisung war aber besonders schrecklich für ihn, gerade jetzt, wo er sich in dem mit den lockendsten Blumen überdeckten Sumpfe des Ludwigsburger Residenzlebens so wohlig umherbewegte. In das vorahnende Bedauern über die Einbuße so vieler Genüsse, in die er sich mit dem ganzen Feuer seines sinnlichen Naturells gestürzt, mischten sich jedoch auch edlere Gefühle. Das Bewußtsein, daß Zilling mit seinen Vorwürfen, wenn auch nicht in der Form, so doch in der Sache so ziemlich auf berechtigtem Boden stand, drückte einen scharfen Stachel in sein Herz. Er dachte an sein gutes und treues Weib, welches durch den leichtfertigen Wandel des Gatten von seiner Seite getrieben worden und die Kinder, welche Schubart so innig liebte, mit ins väterliche Haus nach Geißlingen genommen hatte. Er blickte im Geist nach dem idyllischen Bergstädtchen, wo er, wenn auch in beschränkten Verhältnissen, vordem das reine Glück seiner jungen Ehe genossen hatte. Für einige Augenblicke erfüllte ihn der Schmerz bitterster Reue so ganz, daß seine Lippen vor innerer Bewegung zitterten. Er zerknitterte mit der Hand die vor seiner Brust hängende Maske, riß sie los und schleuderte sie weit weg, als wollte er damit ein Stück Vergangenheit von sich werfen. Zugleich schoß ihm der Gedanke durch die Seele, auf der Stelle den Spezial aufzusuchen, um, vor dem harten Manne reuevoll sich demütigend, das Bedrohliche abzuwenden.
Ein neuer Eindruck verwischte diese Stimmung so rasch und noch rascher, als sie gekommen war.
Von rechts herüber klangen rauschende Töne kriegerischer Musik.
Schubart horchte, während sein Begleiter, noch immer mit dem vorhin stattgehabten Auftritt beschäftigt, zu ihm sagte:
»Die seltsame Szene mit Ihrem Vorgesetzten scheint Sie angegriffen zu haben, Herr Magister, und ich finde das sehr begreiflich.«
»Bah,« entgegnete Schubart leichthin, einem Gefühl falscher Scham nachgebend. »Es beißt nicht jeder Hund, welcher heftig knurrt und bellt.«
»Hm, das dürfte in diesem Falle doch nicht so ganz zutreffen.«
»Meinen Sie? – Aber hören Sie die Musik? Sie kommt von dem Platze vor der Orangerie. Sie fragten mich vorhin, wie doch unser Herzog die Gelder zu seinem Prachtleben aufzubringen vermöge, und ich versprach, Ihnen vielleicht noch heute einen seiner Prägestöcke zu zeigen. Das will ich jetzt. Sie werden sich wundern. Es ist ein rares Stück, und ich habe ein besonderes Interesse, es mit anzusehen, denn Sie müssen wissen, daß ich das poetische und musikalische Beiwerk dazu geliefert. Kommen Sie!«