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Wien. –
Die Kräfte der Seele verhalten sich wie die Kräfte des Körpers. Die mannichfaltige, freye und angestrengte Uebungen, das Schwimmen, Fechten, Ringen, Tanzen, Laufen u. dgl. m. geben dem Leibe Ründung, Vestigkeit und Stärke. In der trägen Ruhe, wenn er an einförmige, erzwungene Bewegungen gebunden ist, wird er schwach, schief und kränkelnd. Wenn sich die Seelenkräfte eines Volks entwickeln sollen, muß man dem Geist auch seine gymnischen Spiele gestatten. Die Freyheit der Bewegung hat für den Körper die Wirkung, welche die Freyheit zu denken für die Seele hat, und ein unnatürlicher Zwang macht den Körper und die Seele gleich schief und steif.
Unter allen Völkern, welche die Geschichte kennt, sind die Griechen und Römer diejenigen, bey welchen die Philosophie am wenigsten mit der Religion in Verbindung stand. Vielleicht ist die Hauptursache, daß ihr Geist einen Schwung gewann, den die Aegytier, Babylonier und Kaldäer nicht kannten, weil die Philosophie und alles, was Wissenschaft heißt, bey diesen Völkern ein ausschließliches Eigenthum der Pfaffen war, deren Interesse erfoderte, daß das gedankenlose Volk sich von ihnen führen ließ, und ihr Wissen unter Hieroglyphen versteckt blieb. Alles, was einige Griechen auf ihren gelehrten Reisen am Nil und Euphrat gestoppelt haben, waren keine Produkte eines sehr fruchtbaren Genies, sondern nur mühsame Erforschungen, die das Schwerfällige des Mönchstudiums in einer progreßiven Anstrengung auf einen bestimmten Gegenstand verriethen. Ihre sogenannte Philosophie konnte nicht für das Volk wohlthätig werden, nicht das Gefühl und den Geschmack verfeinern, noch über das bürgerliche Leben und die Gesetzgebung Licht und Wärme verbreiten; denn das Volk selbst nahm keinen Theil daran, als in so fern ihm das Resultat des Klosterstudiums als ein trocknes Gesetz vorgeschrieben wurde, dessen Sinn es nicht einsah.
Als man in dem neuern Rom den schönen Traum entwarf, sich zum Herrn der Erde zu machen, indem man sich in Besitz der Meinungen der Menschen setzte, mußte man natürlich das ganze Reich der Wissenschaften dem Zepter der Religion zu unterwerfen suchen. Die Ründung der Erde, die Sonnenfleken, und noch bis zu unsern Zeiten auch das kopernikanische Systemkopernikanisches System – 1992 nahm die Catholica in Gestalt einer Rede des Papstes erstmalig Kenntnis vom realen Weltbild, er rehabilitierte Galileo Galilei und entschuldigte sich für diese Ungeheuerlichkeit (Verbot der Forschung und Hausarrest, Androhung der Folter). Interessant für die Zukunft wird sein, ob die katholische Kirche auch die Ermordung Giordano Brunos eines Tages zur Liste ihren vielen Irrtümern und Verbrechen hinzufügen wird. Gelobt sei Gott der Herr! mußten von Mönchen nach der Schrift, nach den Kirchenvätern, Konzilien und päbstlichen Bullen beurtheilt werden. Alles bezog sich auf die Religion, und hätte man nicht mit aller Gewalt auch die Kassen der Fürsten dahin beziehen wollen, so lägen wir vermuthlich noch in der fühllosen Dummheit des eilften Jahrhunderts.
Nach der Reformation blieb der Gebrauch, alles durch die Brille der Religion zu betrachten, noch ziemlich lange. Die Pfaffen der Protestanten konnten die alte Gewohnheit, Herren aller Moralität zu seyn, lange nicht ablegen. Sie untergruben zwar durch die Trennung ihre eigne Macht; aber nur nach und nach, und ohne ihr Bewußseyn. Wenn gleich LutherLuther – Martin Luther, der deutsche Reformator, er schuf das evangelische Glaubensbekenntnis und die Bibel in deutscher Sprache, † 1546 die Güter der Geistlichkeit den Regenten Preiß gab, so sieht man doch deutlich genug aus seinen Schriften, daß er sich in seinen Gedanken als Reformator der Kirche, weit über alle weltliche Macht und über alle Ansprüche der Fakultäten hinaussetzte. KalvinsKalvin – Johannes Calvin, schweiz. Reformator, Begründer des Calvinismus, befürwortete wie Luther die Hexenverfolgung, † 1564 Uebermuth und Unterdrückungsgeist, was Meinungen betrift, ist bekannt. Ihre Nachfolger behaupteten noch lange ihre eingebildete Herrschaft über die weltliche Macht und das Gebiethe der Wissenschaften. In verschiedenen Gegenden sind noch wirklich im Besitz derselben – Wir müssen unserm Jahrhundert Gerechtigkeit wiederfahren lassen, und gestehn, daß die Freyheit zu denken, und die wahre, menschenfreundliche Philosophie seit den Zeiten der Römer und Griechen erst in demselben sich merklich ausgebreitet haben.
Ohne Wiederrede haben die Engländer viele Vorzüge in diesem Betracht vor den andern europäischen Völkern dieses Jahrhunderts. Die Regierungsform trägt viel dazu bey; aber vielleicht noch mehr die konstitutionsmäßige Duldung der Epikopalen,Epikopale – der anglikanischen Kirche nahestehende Sekte Presbiterianer,Presbyter – in einigen evangelischen Kirchen die Mitglieder des Gemeindekirchenrates IndependentenIndepedenten – Freikirchen ? und so vieler Sekten, die wegen ihrer Trennung und Verschiedenheit keinen gemeinschaftlichen Plan machen konnten, über die Meinungen des Volks zu tyrannisiren. Es wart sehr natürlich,daß die Britten sich wegen der Mannichfaltigkeit ihrer Religionssekten, die fast gleiche Rechte im Staat zu geniessen haben, nach und nach gewöhnen mußten, das Reich der Wissenschaften, die Gesetzgebende Macht und das bürgerliche Leben unabhängig von der Religion zu betrachten, während daß sich die Geistlichkeit in Schweden, Dänemark, verschiedenen deutschen Fürstenthümern, und sogar auch in einigen protestantischen Republicken immer mehr noch gewisse Bedrückungen des Gewissens und des Denkens herausnehmen durfte, weil sie eine allein herrschende Kirche bildete. Der Geist der Engländer, der von nichts gefesselt war, nahm also den Adlerflug, womit er sich über die Nationen seines Jahrhunderts geschwungen hat. Ihre Philosophen verzeihten sich ihre oft sehr widersprechenden Spekulationen. Sie hatten ihre Kyniker,Kyniker – philosophische Schule, die völlige Bedürfnislosigkeit anstrebte. Bekanntester Vertreter war Diogenes, † v.C. 323 ihre Pythagoräer,Pythagoräer – von Pythagoras († v.C. 497) begründeter asketischer Geheimbund Platoniker,Platoniker – von Plato († v.C. 348)begründete Universaltheorie (Metaphysik) EpikuräerEpikuräer – auf Epikur († v.C. 271) zurückgehende Lehre, die sich mit der Ethik befaßt u. dgl. m. aber alle waren, wie die alten über die wesentlichen Pflichten des Menschen und des Bürgers einig, und die Verschiedenheit ihrer Spekulationen setzte die Gegenstände nur in ein hellers Licht. Auch in den bloß kalkulierenden Wissenschaften äusserten sie die Energie ihres Geistes, die er sich durch die freye Uebung in den mannichfaltigen Feldern der Wissenschaften eigen gemacht hat. Es kam wohl auch zu Radoterien, zu lächerlichen Hypothesen und zu den seltsamsten Schwärmereyen; aber diese Ausschweifungen sind von der Freyheit zu denken so unzertrennlich wie gewisse Mängel von der bürgerlichen Freyheit, und alle Mißbräuche können nicht gehoben werden, ohne den guten Gebrauch einer Sache selbst zu hindern.
Von unserer Nation brauch' ich dir mehr nicht zu sagen, als daß die Freyheit zu denken bey uns von der Regierung viel weniger eingeschränkt wird, als in sehr vielen Staaten, die sich frey nennen, und auch viel weniger durch die Religion, als in manchen protestantischen Ländern. Ich muß nun zu meinen Wienern zurück, zu welchen ich einen ziemlich weiten Umweg genommen habe.
Vom Rhein an bis hieher hörte ich so viel von den vortreflichen Schulanstalten in Oestreich, von dem grossen Aufwand der Kaiserin für die Erziehung ihrer Unterthanen und für die Wissenschaften und Künste, daß ich mir auf der ganzen Reise Wien als das deutsche Athen dachte. Aber vielleicht war meine übertriebne Erwartung größtentheils Schuld, daß ich bey weitem das nicht fand, was ich erwartete. Die Schulen für die kleine Jugend sind von allen öffentlichen Instituten noch das Beßte, ob man gleich den Kindern viele Dinge mitunter einbläut, die sie in ihrem Leben nicht gebrauchen können, und die zu nichts dienen, als sie zu jungen Pedanten oder Charlatans zu machen; ob man ihnen gleich noch die christliche Lehre und Moral als einen Unsinn vorträgt, der weder ihren Kopf erleuchtet noch ihr Herz erwärmen kann, und ob man gleich noch nicht genug Sorge für ihre Sitten trägt. Diese Mängel werden durch die mannichfaltigen Begriffe, die man ihnen von der bürgerlichen Industrie, vom Handlungswesen, Ackerbau, u. dgl. m. nach und nach beyzubringen sucht, in etwas wieder ersetzt, und die hiesigen Schulen sind unter allen katholischen, die ich bisher in Deutschland gesehen, die einzigen, worinn man die Kinder mehr zu guten Bürgern als zu Mönchen zu bilden sucht. Unterdessen herrschen schon in diesen Kinderschulen die zwo mächtigen Triebfedern des hiesigen Staats: Blinde Subordination und Mönchsglauben. Da sie dem ungeachtet viel Gutes haben, warum erlaubt man noch so vielen Familien die Privaterziehung durch Französinnen, die gemeiniglich verlaufene Huren, oder stolze Kammermädchen sind, welche hier lieber Gouvernantinnen heissen, als in Frankreich die Stuben kehren und die Betten machen wollen? Warum duldet man noch den Schwarm der französischen und italiänischen Abbes bey den jungen Herren, die oft viel schlimmer sind, als Huren? – Ueberhaupt merkt man auch diesen Anstalten noch an, daß sie ganz neu und nach keinem vesten, durchgedachten System angeordnet sind. Der Eigensinn und die Eitelkeit der Projekteurs, welchen sie zu sehr ausgesetzt sind,geben oft zu widersinnigen Veränderungen Anlaß. Auf das Publikum im Ganzen haben sie auch noch keinen Einfluß gehabt. Erst die künftige Generation wird, wenn sie etwas Gutes haben, die Wirkung davon empfinden.
Ich besuche die öffentlichen akademischen Vorlesungen: Es ist wahr, der Aufwand der Kaiserin muß ungeheuer seyn. Die gewöhnlichen Universitätskollegien sind nicht nur ganz frey, sondern es wird auch hier über Dinge öffentlich und ganz frey gelesen, die man bey uns nur in Privatstunden und zwar nur um einen sehr hohen Preis hören kann. Z. B. verschiedene lebende Sprachen, die politischen Wissenschaften u. dgl. m. Aber es herrscht fast durchaus noch eine Barbarey, die jeden Menschenfreund den grossen Aufwand der Monarchin bedauern macht. Der Verfasser der Voyages en differens pays de l'Europe (von 1774 bis 76)Verfasser ... – Pilati, s. 16. Brief sagt, er habe auf einer östreichischen Universität öffentlich den Satz vertheidigen hören: Alles Hab und Gut der Unterthanen sey das wirkliche Eigenthum des Landesherrn. Ich weiß nicht, ob es wahr ist; aber das weiß ich, daß sich kein Lehrer des NaturrechtsNaturrecht – Wilhelm von Ockham definierte die »natürlichen Rechte« mit Leben, Freiheit, Eigentum hier getraut, zu behaupten: Der Landesherr habe seine Verbindlichkeiten gegen seine Unterthanen, so wie diese die ihrigen gegen ihn. Man sagte mir, das jus naturae eines salzburgischen Benediktiners, worinn dieser Satz stand, wäre einigen hiesigen Zensoren sehr anstößig gewesen, und man habe einem gewissen Herrn, der es mit sich hieher gebracht, freundschaftlich gerathen, es ausser Lands zu schaffen. Das römische RechtRömisches Recht – seit dem 15. Jahrhundert ergänzend zu den jeweiligen Landesrechten angewandt mit allen seinen von unserer Verfassung und unsern Gebräuchen so weit entfernten Begriffen erhält sich noch auf dieser so berühmten Universität, und muß immer noch die Kandidaten der Richterstüle zu Pedanten und falschen RäsonneursRäsoneur – Schwätzer, Nörgler machen. Wer das jus publicum von Deutschland zu Straßburg gehört hat, und einen hiesigen Professor darüber lesen hört, der wird nicht glauben können, daß von einem und dem nämlichen Staat die Rede seye. Dort wird das deutsche Reich als eine Republik vorgestellt, worinn der Kaiser ohngefähr das Ansehn eines Konsuls oder Diktators hat, und hier macht man es zur uneingeschränktesten Monarchie. Unsere Theologie ist von Natur barbarisch; aber glaubst du wohl, daß ich hier eine ganze Stunde de immaculata Conceptione Mariaede immaculata ... – von der unbefleckten Empfängnis Mariens habe lesen gehört? Ein andermal hörte ich einen solchen subtilen Doktor gar ernstlich untersuchen, ob die Leute, die es allenfalls vor Adam gegeben hat, mit der ErbsündeErbsünde – eine Erfindung Paulus': jeder Mensch kommt mit Sünde beladen zur Welt befleckt gewesen. Die theologische Moral giebt man noch nach dem Busenbaum, VoitVoit – Edmund Voit, Jesuit, Moraltheologe, schrieb «Theologia moralis ...«, † 1780 und ihren Konsorten. Ich hörte Beschreibungen von Unzüchtigkeiten in der öffentlichen Schule, die ein profanes Buch nothwendig in den Index librorum prohibitorum bringen müßten. Aber es ist wahr, Busenbaum sagt in seiner Bordelmoral,Bordelmoral – Bordellmoral (?) es wäre erlaubt über die Moral öffentlich zu lesen, wenn auch gleich die Schüler gewisse sündliche Regungen empfänden, und wenn auch sogar gewisse sündliche Ergiessungen darauf erfolgen sollten. Es wäre nun das mehrere Gute zu thun, meint er, das die Schüler in den Beichtstülen stiften würden. In dem metaphysischen Hörsal fand ich die QuintessenzQuintessenz – Endergebnis, Hauptgedanke, Wesen einer Sache der Pedanterie und Charlatanerie. Es fiel mir eben nicht sehr auf, daß der Herr Professor sehr umständlich bewies, zwey einfache Wesen könnten sich nicht küssen und umarmen, und es wäre nicht unmöglich, daß ein und das nämliche Ming in einem und dem nämlichen Augenblick einige Tausendmal an verschiednen Ortenan verschiedenen Orten ... – welch ein phantastischer Vorgriff auf die Quantentheorie! existire. Nun konnt' ich nicht gleich begreifen, warum man die letztere Untersuchung, die ich mich in einem metaphysischen Werke noch nie erinnere gelesen zu haben, hier auf die Bahne bringt. Endlich fiel mir ein, daß es dem Herrn Professor, der ein geistlicher war, darum zu thun seyn mochte, die Koexistenz Kristi im Sakrament auf den vielen Altären von Kanton bis nach LisboaLisboa – Lissabon seinen Zuhörern faßlich zu machen; denn alles wird hier auf die Religion bezogen, und bey den Kinderschulen gab es einen sehr ernstlichen Streit, ob man die Kinder nicht mit dem Vater Unser und Ave Mariä müsse anfangen lassen zu buchstabiren; als wenn das ABC eine nothwendige und wesentliche Verbindung mit diesen Gebeten hätte. Was ich an meinem Metaphysiker am meisten bewundern mußte, war seine dem Anschein nach unerschöpfliche Erudition.Erudition – Gelehrsamkeit Ihm scheint kein Metaphysiker, von den äthiopischen TragloditenTroglodyt – Höhlenbewohner an bis auf den Hans Jakob von GenfHans Jakob von Genf – Rousseau entgangen zu seyn. Er zitirte griechisch, lateinisch, italiänisch, englisch, französisch und was weiß ich in noch wie viel andern Sprachen, und widerlegte in einer halben Stunde wenigstens 6 alte und neue Metaphysiker. Der Mann interessirte mich zu sehr, als daß ich ihn nicht öfters besuchte, und mir nicht seine erstaunliche Gelehrtheit so viel als möglich zu nutzen machen sollte. Ich lehnteehnen – entlehnen, ausborgen von einem Studenten, der in meinem Hause wohnt, auf einige Tage das metaphysische Vorlesebuch, wovon ein gewisser Jesuit StorchenanStorchenan – Sigmund von Storchenau, Jesuit, Theologe u. Philosoph, † 1797 der Verfasser ist. Beym ersten Anblick sollte man glauben, der Verfasser habe das Geheimniß gefunden, die Metaphysik zur Niederlage von allem möglichen menschlichen Wissen zu machen. Da findest du nicht nur alle Sekten der Alten, die Pythagoräer, Platoniker, Epikuräer u. a. m. sondern auch die Kirchenväter der Reihe nach angezogen. Du findest dann aus der mittlern und neuern Zeit alles, was nur geschrieben ist. Machiavel, Hobbes,Hobbes – Thomas Hobbes, † 1679, engl. Philosoph, begründete eine Staatslehre Spinoza, Kartes,Kartes – Rene Descartes, † 1650, franz.Philosoph und Naturwissenschaftler Mallebranche,Mallebranche – Nicolas Mallebranche, franz. Mathematiker, †1715 Bayle, Leibnitz,Leibnitz – Gottfried Wilhelm Leibniz, † 1716, Mathematiker und Philosoph. Auf ihn und Newton geht die Infinitesimalrechnung zurück. Loke,Loke – John Locke, engl. Philosoph der Aufklärung, † 1704 Voltäre, Rousseau,Rousseau – Jean Jaques Rousseau, franz. Philosoph, † 1778, Enzyklopädist, Verfasser einer Staatslehre »Der Gesellschaftsvertrag«, die Parole »Zurück zur Natur« stammt von ihm Bolingbroke, HumesHumes – David Hume, schott. Philosoph, † 1776, Versuche über den menschlichen Verstand, HelvetiusHelvetius – Claude Adrien Helvetius, franz. Philosoph, † 1771, wandte sich gegen die Privilegien des Adels, vertrat einen strikten Atheismus. Sein Buch »Vom Geist« wurde verboten und öffentlich verbrannt. über den Geist, das Sistem der Natur, das Werk über die Natur, die Religion eines ehrlichen Mannes und unzählige Schriften, deren Verfasser sich gewiß nie träumen liessen, daß sie einst auf der Universität zu Wien von einem Jesuiten würden angezogen werden. Der Student, von dem ich das unvergleichliche Buch gelehnt, glaubte auch wirklich den Kern aller dieser Schriften in demselben zu besitzen, und im Stand zu seyn, auch die feinste SophistereySophisterei – Spitzfindigkeit, Spiegelfechterei eines Bayle, Spinoza und Hume mit 2 Zeilen seines Buches aller Bücher widerlegen zu können. Ich suchte die Bekanntschaft mit einem Mann, dessen Lektüre so ungeheuer seyn mußte; aber wie erstaunte ich, als mich einer seiner Bekannten versicherte, er habe weder den Machiavel, noch den Bayle, noch den Voltäre, noch eine Menge andere Schriftsteller gelesen, die er anzöge und widerlegte. Er habe ihm einst ein gewisses Werk von 3 Quartbänden auf eine Nacht geliehn, und es einige Tage darauf in einer seiner Dissertationen widerlegt gefunden.
Die Medizinischen Kollegien sind ohne Vergleich noch die besten. Van Swietenvan Swieten – Gottfried van Swieten, Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia, Beamter in hohen Stellungen in Wien, Aufklärer, † 1803 hat hier das Seinige gethan. Die Herren Professoren von diesem Fach affektirenaffektieren – hier: sich einbilden EkklektikerEkklektiker – einer, der aus verschiedenen philosophischen Systemen das ihm jeweils Passende entnimmt zu seyn. Ich sagte affektiren, denn es geschieht nicht um bloß der Wahrheit anzuhängen, sondern nur um alles, was andre grosse Leuthe neben ihnen sagen, und grosse Leuthe vor ihnen gesagt haben, verachten, und ihr eignes Selbst geltend machen zu können. Sie gewöhnen ihre Studenten, dem Hippokrates,Hippokrat – Begründer der medizinischen Wissenschaft, † v.C. 370 Galenus,Galenus – Galenus von Pergamon, † 216, geachteter Arzt im Rom der Kaiserzeit Boerhave,Boerhave – Hermann Boerhaave, niederl. Arzt und Gelehrter, † 1738 Haller,Haller – Albrecht von Haller, † 1777, schweiz. Arzt und Naturforscher TissotTissot – Auguste André David Tissot, † 1797, schweiz. Arzt, der vor allem durch seine Schriften gegen die Selbstbefriedigung berühmt wurde und allen Männern, welche in dieser Kunst Epochen gemacht haben, Schneller unter die Nasen zu schlagen, und nur an sie [selbst] zu glauben; denn ein Student wird selten überzeugt; er glaubt gemeinlich nur. Die Eitelkeit dieser Herren und ihrer Schüler ist platterdings unbeschreiblich. Und doch soll die Anzahl der Aerzte von Verdienst seit einiger Zeit hier sehr abnehmen. Ausser dem Herrn von Störk,Herr von Störk – Anton Freiherr von Störk, Mediziner und Hochschullehrer, † 1803 kaiserl. Leibarzt, weiß man nur sehr wenige zu nennen, die des Namens, Arztes, vorzüglich würdig sind. Die Art, wie die ältern Kandidaten zur Praxis geführt werden, ist sehr gut, und wird strenge beobachtet. Man weist ihnen in einem Spital einige Kranke an, die sie zu gewissen Stunden besuchen müssen. Sie schreiben den Zustand der Krankheit mit allen Symptomen und Veränderungen nieder, und verordnen die Arzneyen zur Probe, wobey sie ihre Gründe umständlich angeben müssen. Der Professor besucht dann die Kranken, vergleicht die Relation des Studenten mit seinem Befinden, und und korrigirt sie ebenfalls mit Beyfügung der Gegengründe. Man empfiehlt den Studenten, diese Prüfungen aufzubehalten, und läßt sie sehr sorgfältig die Unterscheidungsmerkmale der analogen Krankheiten bemerken, welches meines Erachtens für einen angehenden Praktikus eine Hauptsache ist.
Ich sehe, ich kann mit den hiesigen Gelehrten in diesem Briefe unmöglich fertig werden, und spare dir also einen Theil derselben auf die nächste Post auf.