Johann Kaspar Riesbeck
Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder - Band 1
Johann Kaspar Riesbeck

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Achter Brief.

Augsburg –

Mit meiner Reisegesellschaft von Augsburg hieher war ich sehr wohl zufrieden. Der Postwagen war mit einigen TheatinermönchenTheatinerorden – 1524 im Zuge der Gegenreformation gegründeter Orden, widmet sich der Seelsorge und der Heidenbekehrung, die ihrem Institut gemäß von der Vorsehung Gottes leben, aber auf alle Fälle den Beutel immer wohl gespikt haben, und einigen Kaufleuten angefüllt. Alle waren wakre Zecher und lustige Pursche, und die Mönche äusserten durch ihr Betragen, daß ihnen der bayrische Himmel ganz vorzüglich günstig sey. Sobald man über der Lechbrücke ist, muß man dem Wein gute Nacht sagen, und sich an dem vortrefflichen bayrischen Bier halten, wovon die Maaß nur 3 Kreuzer kostet. Die Theatiner wußten immer vorher, auf welcher Station das bessere Getränke anzutreffen sey. Nach einigen tüchtigen Schmäusen fuhren wir, gleich einem Kor BachantenBachanten – Trinkbrüder unter Singen und lautem Gelächter in das schöne München ein.

Als ich vom Posthaus ins Wirthshaus kam, trat eine schöne Wirthin vor mich, sah mir sehr bedenklich ins Gesicht, und tat verschiedene Querfragen, die ich wegen Mangel an Kenntnis der hießigen Provinzialaussprache nur halb beantworten konnte. Da mir das viele Quästionirenquästionieren – fragen, aushorchen an Wirthen unausstehlich ist, so sagte ich ihr etwas rauh; sie sollte mir geradezu sagen, ob ich auf einige Tage bey ihr Bett und Tisch haben könnte? Mit einiger Schüchternheit gab sie mir endlich zu verstehen, sie habe mich so halb für einen Juden angesehen und ich weiß nicht zu welchem Heiligen ein Gelübde gethan, keinen Juden zu beherbergen. Bald hätte ich wieder die Thüre in die Hand genommen; söhnte mich aber des andern Tages, als mein etwas zu grosser Bart abgeschoren war, mit der hübschen Judenhässerin förmlich und feyerlich aus, und befinde mich jezt recht wohl bey ihr.

Ungeachtet des starken Schmaussens unterwegs hieher hatte ich doch Zeit genug, die Bemerkung zu machen, daß der Ackerbau in diesem Theil von Bayern lange nicht so gut bestellt zu seyn scheint, als in Schwaben. Ich habe sehr viele schwäbischen Dörfer gesehn, die viel eher Städte zu nennen wären, als die elenden Dinge, die ich seit meinem kurzen Aufenthalt in Bayern unter diesem Namen zu Gesicht bekommen, und darunter waren Dörfer, wovon manches die 6 ersten um München her, sehr weit voneinander zerstreuten Oerter zusammengenommen, an Mannschaft übertraf.

Ich bin mit dem Hof und dem Land noch zu wenig bekannt, um dir etwas Zuverläßiges davon sagen zu können. Ich gedenke mich eine ziemliche Zeit hier aufzuhalten, und werde dir in gehöriger Ordnung meine Erkundigungen mittheilen. – Unterdessen besuche ich fleissig das hiesige Deutsche Theater, und bin nun eben aufgelegt, dich mit dem Zustand des dramatischen Theils der deutschen Litteratur, in so weit ich ihn bisher habe kennen gelernt, zu unterhalten.

Schon zu Straßburg erfährt man, wenn man die deutsche Sprache versteht, daß Deutschland seit einigen Jahren mit einer Art von Theaterwut befallen ist. Da werden die Buchläden von Zeit zu Zeit mit einem ungeheuern Schwall von neuen Schauspielen, Dramaturgien, Theateralmanachen, Theaterkroniken und Journalen überschwemmt, und in den Katalogen neuer Bücher nehmen die Theaterschriften allezeit richtig den dritten Theil ein. Ich halte selbst das Dramatisiren für die höchste Stufe der Dichtkunst, so wie das Geschichtemalen für den edelsten Theil der Malerei. Es soll uns den edelsten Theil der Schöpfung, den Menschen in seinen mannichfaltigen Verhältnissen am anschaulichsten und mit der grösten Wahrheit darstellen. Aber die Art Menschen, welche jezt in den meisten deutschen Schauspielen herrscht, findet man unter dem Mond höchst selten, und wenn hie und da einer von dieser Art von ohngefähr erscheint, so nimmt die Polizey des Orts, wenn eine da ist, gewiß die Versorgung desselben über sich, und thut ihn ins Toll= oder Zuchthaus.

Stelle dir vor, lieber Bruder, die jezigen Lieblingskaraktere des dramaturgischen deutschen Publikums sind rasende Liebhaber, Vatermörder, Strassenräuber, Minister, Mätressen und große Herren, die immer alle Taschen der Ober- und Unterkleider voll Dolche und Giftpulver haben, melancholische und wütende Narren von allen Arten, Mordbrenner und Todtengräber. Du glaubst es vielleicht nicht, aber es ist die Wahrheit, daß ich dir über 20 Stücke nennen kann, worinn verrückte Personen Hauptrollen spielen, und der Dichter seine Stärke in der Schilderung der Narrheit gesucht hat. Und was sagst du, wenn ich dich auf meine Ehre versichere, daß das deutsche Publikum, welches ich bisher zu kennen die Ehre habe, gerade die Stellen am stärksten bewundert und beklatscht, wo am tollsten geraset wird? – Man hat Stücke, worinn die Hauptperson alle 12 bis 15 mitspielende Personen der Reihe nach umbringt und sich dann zur Vollendung des löblichen Werkes den Dolch selbst in die Brust stößt. – Es ist ausgemacht, daß die Stücke den meisten Beifall haben, worinn am häufigsten geraset und gemordet wird, und verschiedene Schauspieler und Schauspielerinnen konnten mir nicht genug beschreiben, was sie für Noth hätten, um auf verschiedene neue Arten sterben zu lernen. Es kommen Stellen vor, wo Leute unter abgebrochenen Reden und anhaltenden Konvulsionen eine halbe Stunde lang in den letzten Zügen liegen müssen: und das ist doch wahrlich kein geringes Stück Arbeit, einen solchen Tod gehörig zu soutenirensoutenieren – behaupten. Du solltest nur manchmal eine deutsche Schaubühne sehn, wo 4 bis 5 Personen auf einmal auf dem Boden liegen, und der eine mit den Füssen, der andre mit den Armen, der mit dem Bauch und jener mit dem Kopf seinen Todeskampf ringt und das Parterre unterdessen jede Zuckung der Glieder beklatscht.

Nach den Rasenden und Mördern behaupten die Besoffenen, die Soldaten und Nachtwächter den zweyten Rang auf der deutschen Bühne. Diese Personnagen entsprechen dem Nationalkarakter zu sehr, als daß sie einem deutschen Zuschauer auf der Bühne nicht willkommen seyn sollten. Aber warum der phlegmatische Deutsche, der zu stürmischen Leidenschaften, zu rasenden Unternehmungen, zu starken tragischen Zügen so wenig Anlage hat, so verliebt in die Dolche, Giftmischereien und hitzige Fieber auf dem Theater ist, das konnte ich mir anfangs so leicht nicht erklären.

Auf der Seite des Publikums mag wohl der Mangel an mannichfaltigern Kenntnissen des bürgerlichen Lebens und am geselligen Umgang eine Ursache davon seyn. Die verschiedenen Volksklassen kreutzen sich in den deutschen Städten nicht auf so verschiedene Art wie in den Französischen. Alles, was Adel heißt, und wenn auch der Adel nur auf dem Namen beruhen sollte, und alles, was sich zum Hof rechnet, ist für den deutschen Bürger verschlossen. Seine Kenntnisse, seine Empfindungen von gesellschaftlichen Situationen sind also viel eingeschränkter, als jene unserer Bürger. Er hat kein Gefühl für unzälige Verhältnisse des gemeinengemein – das Wort wird im gesamten Text im Sinn von »normal, alltäglich« gebraucht Lebens, die der Bewohner einer mittelmäßigen französischen Stadt gehörig zu schätzen und zu empfinden weiß. Bey dieser Gefühllosigkeit für bürgerliche Tugenden und Laster, bey dieser Stumpfheit für die Verkettungen und Intriguen des gewöhnlichen gesellschaftlichen Lebens hat nun der deutsche Bürger natürlich zu seiner Unterhaltung im Theater Karrikkaturen und starke Erschütterungen nöthig, da sich der Franzose mit einem viel feinern Spiel der Maschinen eines Theaterstückes begnügt, und seine eigne Welt gerne auf der Bühne vorgestellt sieht, weil er sie kennt. Die Theaterstücke, welche man aus Sachsen bekömmt, sind nicht so abentheuerlich und ungeheuer als die, welche in dem westlichen und südlichen Theil von Deutschland gemacht werden, weil ohne Zweifel mehr Aufklärung, Sittlichkeit und Geselligkeit unter den Bürgerständen daselbst herrscht, und man also auch die Schattirungen der Auftritte des gemeinen Lebens besser fühlt, als hier. Ueberhaupt ist hierzulande der große Haufen mehr Pöbel als in Frankreich, und bekanntlich läuft der Pöbel gerne zum Richtplatz und zu Leichen.

Auf der Seite des Dichters hat diese tragische Wut verschiedene Ursachen. Die meisten der jeztlebenden deutschen Schauspielschreiber haben das mit dem übrigen Pöbel gemein, daß sie die Fugen und das Spiel des bürgerlichen Lebens gar nicht kennen. Viele derselben sind Studenten, die noch auf der Schule sitzen oder soeben davon zurückgekommen sind, und das Schauspielmachen zu ihrem Metier erwählt haben. Da schmauchen sie ohne alle Weltkenntniß hinter ihrem Ofen, phantasieren sich in den Tobakswolken eine Riesenwelt, worinn sie als Schöpfer handeln können, wie es ihnen beliebt, und ihren Kreaturen keine Schonung, keine Ausbildung, keine Polizey und keine Gerechtigkeit schuldig sind. Da ist es nun kein Wunder, daß aus diesen Wolken so viele Menschen ohne Köpfe, und so viele Unmenschen mit Köpfen herausspringen. Sie suchen die tragische Stimmung des Publikums zu benutzen, um mit der größten Leichtigkeit ihr Brod zu gewinnen; denn, ohne auch das willkürliche Abentheuerliche in Anschlag zu bringen, so ist es doch allzeit leichter, eine Tragödie als eine Komödie von gleicher Güte zu machen.

Ein anderer Theil dieser KothurnatenKothurnat – von Kothurn (Schauspielerschuh mit hoher Sohle) abgeleitet: Schauspieler läßt sich von dem herrschenden Geschmak verführen. Da trat vor einigen Jahren ein gewisser GötheGöthe – Johann Wolfgang von Goethe, † 1832, den du ohne Zweifel nun aus einigen Uebersetzungen kennst, mit einem Stück auf, das seine sehr grosse Schönheiten hat, aber im Ganzen das abentheuerlichste ist, das je in der Theaterwelt erschienen. Ich brauche dir weiter nichts zu sagen, um dir einen Begriff davon zu geben, als daß der Bauernkrieg unter Kaiser MaximilianMaximilian – gemeint ist Kaiser Maximilian I. »der letzte Ritter«, dieser war aber 1525 bereits 6 Jahre tot. mit brennenden Dörfern, Zigeunerbanden und Mordbrennern mit den Fakeln in der Hand auf die anschaulichste Art vorgestellt wird. Es heißt Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, und hat verschiedenen Versuchen ungeachtet, zum großen Leidwesen des deutschen Publikums noch nicht auf das Theater gebracht werden können, weil die häufigen Veränderungen der Scenen, die erstaunlich vielen Maschinen und Dekorationen zu viel Aufwand erfodern und zwischen den Auftritten gar zu lange Pausen verursachen. Göthe ist wirklich ein Genie. Ich hab' einige andere Theaterstücke von ihm gelesen und aufführen gesehen, worinn man sieht, daß er die Menschen, die wie er auf ihren zwey Beinen gehen, in dem alltäglichen Leben eben so gut zu behandeln weiß, als die, welche auf dem Kopf stehen. Mit Vergnügen sahe ich sein Erwin und ElmireErwin und Elmire – ein Schauspiel mit Gesang von 1775, eine sehr niedliche Operette, und seinen Klavigo, ein Trauerspiel, wozu unser BeaumarchaisBeaumarchais – s. Zweyten Brief., wie du weißt, den Stof gegeben. Dieses hat zwar auch seine starken Ausschweifungen, aber einem Genie ist alles erlaubt – Nun drängte sich ein unzähliger Schwarm von Nachahmer um den Mann. Sein Götz von Berlichingen war ein magischer Stab, womit er einige hundert Genies auf einen Schlag aus dem Nichts hervorrief. Stumpf gegen die wahren Schönheiten des Originals, suchten die Nachahmer ihre Grösse darinn, die Ausschweifungen desselben treulich zu kopieren. Im Götz von Berlichingen wird mit jedem Auftritt das Theater verändert. Ein gutes Stück mußte also nun der Reihe nach wenigstens eine ganze Stadt durchlaufen, von der Kirche an, durch die Rathsstuben, Gerichtshöfe, über die Marktplätze, bis zur WahlstattWahlstatt – hier scherzhaft: Friedhof. Da Göthe etwas verschwenderisch mit den Exekutionen umging, so wimmelte es nun in der deutschen Theaterwelt von Scharfrichtern. Shakspear, den Goethe vermutlich bloß aus Laune oder vielleicht in der guten Absicht, um seine Landsleute auf diesen grossen Dichter aufmerksamer zu machen, in seinem Götz zum Muster genommen, Shakspear war nun der Abgott der deutschen Theaterdichter; aber nicht der Shakspear, welcher dir die Menschen wie RaffaelRaffael – italienischer Maler und Bildhauer, war Bauleiter der Peterskirche, † 1520 in jeder augenblicklichen Stimmung, in allen Nüanzen der Handlungen, mit jeden Bewegungen der Muskeln und Nerven, mit jeder Schattierung der Leidenschaften, mit aller möglichen Wahrheit darstellt, sondern der Shakspear, welcher aus Mangel einer Bekanntschaft mit andern Originalien und einer gehörigen Ausbildung sich mit aller Gemächlichkeit seiner Laune überließ, mit Flügeln seines Genies über Jahrhunderte und über ganze Weltkreise wegflog und sich im Gefühl seiner vorschwebenden Gegenstände um keine Einheiten, und um keinen Wohlstand kümmerte. Ein Geschichtmaler kann unendlich stark im Ausdruck einzelner Personen oder Partheyen sein, und die anständige Zusammensetzung, das, was man Haltung heißt, und verschiedene andere Dinge vernachläßigen; aber wenn sein Schüler in Nachahmung dieser Nachläßigkeit seine Stärke sucht, so ist er wahrhaftig zu bedauern.

Die Regeln sind keine Sklaven=Fesseln für das Genie. Entweder trägt es sie wie Blumenketten, ungezwungen, leicht und mit Anstand, oder, wenn es den Werth dieses Schmuckes nicht kennt, wenn es in seiner natürlichen Wildheit auftretten will, so ersezt es durch die unbändige Stärke, womit es seine Gegenstände umfaßt, die vernachläßigten Verzierungen. Aber solche stürmische Genien sind höchst selten, und platterdings nicht zum Nachahmen in den Manieren gemacht. England hat seit so vielen Jahrhunderten nur einen Shakspear, man muß sagen, ganz Europa hat nur einen hervorgebracht. Der größte Theil der kunsttreibenden Erdensöhne wird immer durch angestrengtes Studieren seine Grösse suchen müssen, und die Regeln sind zur Prüfung des Studiums gemacht.

Dieser lächerliche Geschmak, durch die Vernachläßigung des WohlstandesWohlstand – hier: Anstand, Schicklichkeit und der Regeln, durch affektirte Ausgelassenheit, abentheuerliche Situationen, abscheuliche Grimassen und erbärmliche Verunstaltungen glänzen zu wollen, hat seit dieser Zeit alle Theile des litterarischen und kunsttreibenden Deutschlandes angesteckt. Man hat junge angebliche Genies in der Menge, die in ihren verschiedenen Fächern, in der Musik, in der Malerey, in andern Theilen der Dichtkunst, um so grösser zu seyn wähnen, je weiter sie sich von den Regeln entfernen, und je weniger sie studieren. Die Alten dachten anderst hierüber, und die Werke, welche sie uns hinterlassen haben, werden von diesen vorgeblichen Urgenieen gewiß nicht verdunkelt werden. VirgilVirgil – römischer Dichter, Hauptwerk »Aeneis«, † v. C.19 verglich seine Produkten der unförmlichen Geburth einer Bärin, die bloß durch vieles Lecken eine Gestalt bekommen muß, und man sieht dem Terenz und PlautusTerenz und Plautus – die bedeutendsten Vertreter der altrömischen Komödie gewiß an, daß sie eine Scene ihrer Schauspiele nicht bey einer Pfeife Tobak vollenden konnten – Du weißt, daß Shakspear auch unter uns seit einiger Zeit seine Anhänger hat. Aber dazu wird es doch so leicht nicht kommen, daß seine Ausgelassenheit Regel wird, und wenn auch gleich ArnaudArnaud – franz. Dramatiker, † 1805 den Ungeheuern den Weg auf unsere Bühne geöfnet hat, so sind sie doch bisher zu selten erschienen, als daß wir Gefahr liefen, die gewöhnlichen Menschen und unsre ehrlichen, bekannten Mitbürger durch dieselben davon verdrängt zu sehen.

In der deutschen Sprache machte dieser verdorbene Geschmak eine merkwürdige Revolution. Wenn man die Schriften eines GeßnersGeßner – Salomon Geßner, schweiz. Dichter, seine »Idyllen« gehören der Schäferdichtung des Rokoko an, † 1788 , WielandsWieland – Christoph Martin Wieland, bedeutender Schriftsteller der Aufklärung, schrieb die satirische Dichtung »Die Geschichte der Abderiten« (»Der Prozeß um des Esels Schatten«), † 1813, und LessingsLessing – Gotthold Ephraim Lessing, der wichtigste deutsche Dichter der Aufklärung ließt, so sieht man, daß die Sprache im Gang zu ihrer Ausbildung war und nach und nach die Ründung und Politur bekommen haben würde, die zu einer klaßischen Sprache unumgänglich nöthig ist. Aber den neugeschaffenen Genies war es nicht genug, in ihrer erzwungenen Wuth einzlne Wörter zu verstümmeln; sondern sie giengen mit ganzen Perioden eben so grausam um. Alle Verbindungswörter wurden abgeschaft und alle Gedankenfugen getrennt. In vielen neuern Schriften stehn die Sätze alle wie unzusammenhängende Orakelsprüche da, und man findet keine Unterscheidungszeichen darin, als Punkten und !!! und ??? und – –. Jeder wollte sich zu seinen anmaßlichen Urideen auch neue Wörter schaffen, und du müßtest dich krank lachen, wenn du gewisse litterarische Produkte Deutschlands, die von vielen für Meisterstücke gehalten werden, kennen solltest.

Nun ist eben hiemit nicht gesagt, daß in Deutschland gar keine Leuthe von besserm Geschmack seien. Sie wurden nur überschrien, weil sie die geringere Zahl ausmachen, mit Gelassenheit und überzeugenden Gründen sprechen wollten, die andern aber ein betäubendes Geplärre begannen. Erst gestern sah' ich mit vielem Vergnügen ein neues kleines Stück, aufführen, welches den Titel hat: Geschwind, eh' es jemand erfährt, und welches sich durch die Simplizität der Handlung, durch sanftes und stilles Spiel seiner einfachen Maschiene und besonders durch den reinen und runden Dialog ungemein ausnimmt. Ich sah noch verschiedene andere Lust= und Trauerspiele von ähnlichem Gehalt; aber das Parterre will geraset, gemordet, gedonnert und kanonirt haben, und die Schauspieler führen solche Stücke nur auf, um zu verschnaufen und zu neuen Rasereyen Atem holen zu können.

Die hiesige Schauspielergesellschaft ist ohngefähr die sechste, die ich in Deutschland gesehen. Du wunderst dich über die Menge in dem kleinen Strich? Es dienet dir also zur Nachricht, daß seit verschiedenen Jahren in Deutschland unzälige kleine Haufen Komödianten, wie in Spanien und England, auf dem Lande herumziehen, oft in Scheunen und Ställen der Dörfer und Flecken ihre Bühnen aufschlagen, und vom Dorfschulzen den Schlafrok und die Pantoffeln borgen, um einen Julius Cäsar in der Toga, oder welches ihnen eins ist, einen Sultan darin spielen zu können. In Schwaben sah ich 4. solche Gesellschaften. Sie bestehn meistens aus verlaufenen Studenten und liederlichen Handwerkspurschen, die bald auf dem Theater, bald unter den Soldaten, bald im Zuchthaus, bald im Spital sind. Die hiesige Schauspielergesellschaft ist weit über diesen Troß erhaben. Alle Glieder stehen in der Besoldung des Hofes, welcher die Einnahme der Entrees hat. Fast alle sind sehr artige, gebildete Leuthe, und in Rücksicht auf die Kunst übertreffen sie weit meine Erwartung. Ich wüßte nicht über 3 bis 4 Theater in Frankreich, die ich dem hiesigen vorzöge. Die Schauspieler geniessen den Umgang der größten Leuthe des Hofes, und haben also Gelegenheit, sich auszubilden. Wie widersinnig, daß dieser Umgang dem Dichter verschlossen ist, welcher eben so viel dabey zu gewinnen hat, als der Schauspieler!

Schon zu Straßburg hörte ich viel Gutes von Herrn MarchandMarchand – Theaterdirektor in Mannheim und München, † 1800 und seiner Gesellschaft. Er hatte daselbst verschiedenemal gespielt, als er noch kein beständiges Engagement hatte. Der Kurfürst nahm schon zu Mannheim seine Gesellschaft zu Hofschauspielern an und machte ihn mit einem ansehnlichen Gehalt zum Direkteur des Hoftheaters. Es war mir sehr angenehm, ihn persönlich kennen zu lernen. Er ist ein Mann von Welt, sehr lebhaft und witzig, der zugleich seine Wirtschaft so gut verstund, daß er in den Gegenden des Unterrheins ein Kapital von ohngefähr 100.000 Livres zusammengebracht hat. Er sagte mir, wie viele Mühe er sich beym Antritt seiner PrinzipalitätPrinzipal – der Direktor einer (reisenden) Theatergruppe gegeben, um seine Gesellschaft auf einen andern Fuß zu setzen, als worauf die meisten deutschen Schauspielergesellschaften damals standen. Er wählte sich nur gutgezogene Leuthe, zahlte sie sehr richtig aus und dankte sie bey einer Ausgelassenheit ebenso richtig ab. Dadurch erwarb er sich und seinen Leuthen die Achtung des Publikums, welches anfangs die Schauspieler noch als unehrliche Leute betrachtete. Auch auf den Geschmack des Publikums verschaffte er sich Einfluß. Er gab nichts, als sehr wohlgewählte übersetzte französische und englische Stücke, nebst den bessern Originalien, und wechselte zur Unterhaltung des Publikums mit unsern Operetten ab, die ausser Paris gewiß nicht besser als bey ihm aufgeführt wurden. Nun riß aber auf einmal die tragische Wuth und das Riesenmäßige in die deutschen Bühnen ein. Er kämpfte lange dagegen; mußte aber doch endlich dem Strom nachgeben. Da die Lungen seiner Leute an gewöhnliche Menschentöne gewöhnt waren, und die starken Erschütterungen nicht aushalten konnten, welche zu der neuen Riesensprache, zu den erschrecklichen Rasereyen und all dem Geheule nöthig waren, so mußte er sich bey seiner Ankunft zu München auf Verlangen des Publikums einige neue Subjekte beschreiben, die im stundenlangen Sterben und Heulen geübt sind, und im Ausreissen ihrer eingestekten falschen Haare, im unerträglichsten Gebrülle und Händeringen mehr beklatscht werden, als die andern im feinsten Ausdruck ihres Gegenstandes. Doch vermuthlich ist der jetzige Geschmack nur eine vorübergehende Fieberhize, die der guten Sache, dem gesunden Menschenverstand mit der Zeit Platz machen muß. Lebe wohl.


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