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Am nächsten Morgen – lieblich war der Tag,
Da nahmen sie das Kindchen aus der Wiege,
Als sie noch wach daneben lag,
Ihr war, als ob sie bittend sprach;
Doch sprachen nur die holden Züge,
Kein Ton kam ihrem Flehen nach.
Bedrückt und trübe schlich sie sich hinaus,
Gescholten, fremd im eignen Haus.
Da saß sie, barg ihr Haupt in ihr Gewand,
Bis sie Armin in ihrer Trauer fand.
Er tröstet sie – sein sanfter Geist
Versteht sie besser, denn Sever zerreißt
Zu oft den Knoten, den er lösen konnte,
Und ihre Seele, die so gern sich sonnte,
Versteckte sich vor ihm wie Vögel beim Gewitter.
Sie klagt: »Er macht das Leben mir zu bitter!«
Ein rechtes Mitleid will in ihm sich regen,
Um diesen Schmetterling, den armen,
Der zitternd sieht die Stürme fegen
Und auf den sonst so bunten Wegen
Den rauhen Winter ohn Erbarmen
Ihm alle seine Blumen rauben,
Die ganze grüne Flur entlauben
Und seine Eiseshauche senden,
Der Flügel letzte Kraft entwenden.
Und sorglich, wie man jungem Kinde
In Mährchen ernste Wahrheit hüllt,
So sucht er, daß er Wege finde,
Wo ihrer Seele heil'ge Quelle quillt;
Vorüberführend an den dunklen Stellen
Des Leidens und des Schmerzes Schwellen,
Bis sie den Blicken sich erhellen
Und einen wunderbaren Glanz gewinnen,
Als wäre dennoch Licht darinnen.
So saßen sie beisammen manches Mal,
Und wie die Sonne streift das thaugetränkte Thal,
Begann in ihren Augen, in den feuchten,
Das alte Lächeln wieder aufzuleuchten.
Voll Mißtraun sah Sever die Beiden,
Sein Herz beginnt den Bruder zu beneiden,
Nennt seine Freundlichkeiten Schmeicheleien,
Wie darf er solchen leichten Sinn verzeihen?
Armin! ein Vorbild edelster Gesinnung!
Mit ihrer zauberischen Minnung
Wird sie dies liebe Band ihm auch versehren.
Zum Schaden weiß Sever das Reinste zu verkehren,
Und wie bei aufgeregten Meeren
Sich lichte Wogen erdig färben,
So wird der dunkle Grund in seinem Geist, dem herben,
Den hellen Tag der Freude ihm verderben.
Nicht retten mag er seines Glückes Scherben;
Das Leck am Schiffe wird er selbst erweitern
Und rettungslos am Leben scheitern.