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40. Kapitel

In ängstlicher Beklemmung hatten sich die eingeladenen Gäste in den glänzend erleuchteten Gemächern der Eremitage versammelt; heiteres Lächeln lag auf allen Gesichtern, aber dennoch schlugen aller Herzen bang und unruhig. Es lag ein Wetter in der Luft, das alle mit jenem eigentümlichen Instinkt, der in der Atmosphäre der Höfe sich zu so wunderbarer sensitiver Schärfe entwickelt, empfanden, und jeder suchte so vorsichtig als möglich den Platz zu finden, der ihm vor den Schlägen des drohenden Wetters die möglichste Sicherheit bieten mochte.

Nur der Großfürst war so unbefangen heiter, wie er sonst selten zu sein pflegte; er war glücklich, daß es ihm gelungen, den gegen Panin geführten Schlag pariert und zum erstenmal einen Sieg über den mächtigen und gefürchteten Orloff errungen zu haben. Er unterhielt sich auf das liebenswürdigste mit jedermann.

Auch die Prinzessin, seine Braut, war glücklich und heiter; sie lachte oft herzlich über die Bemerkungen, welche Rasumowsky ihr zuflüsterte, dem sein Dienst den Platz an ihrer Seite anwies.

Die alte Prinzessin von Darmstadt war glücklich über die glänzende Zukunft ihrer Tochter, und spielte mit einer fast komischen Würde ihre Rolle als Mutter der künftigen Großfürstin, solange die Kaiserin nicht da war, deren Anwesenheit keinen anderen Mittelpunkt neben sich duldete.

Die Gesellschaft sollte heute lange auf das Erscheinen Ihrer Majestät warten.

Als Katharina im Begriff stand, sich in die Empfangssalons zu begeben, überbrachte ihre vertraute Kammerfrau ihr die Bitte des Generals Potemkin, ihm in seinem Zimmer noch einen Augenblick Gehör zu geben.

Die Kaiserin, die sich bereits den ganzen Abend in einer fieberhaften, unruhigen Bewegung befunden hatte, welche sie indes mit ihrer eigenen, eisernen Willenskraft zu unterdrücken wußte, entließ sogleich die Frauen ihres Dienstes und eilte durch den geheimen Gang nach dem Zimmer ihres Adjutanten.

Betroffen blieb sie stehen, als sie hier Fräulein Adeline Lemaitre erblickte, welche mit gefalteten Händen zu ihren Füßen niedersank.

Die tiefe Blässe des jungen Mädchens trat durch das schwarze Trauergewand, das sie trug, noch erschreckender hervor; ihre großen, müde geweinten Augen blickten geisterhaft zu der Kaiserin auf und ihre schmerzvoll zuckenden Lippen hauchten in mattem, aber doch inbrünstig flehendem Ton: »Gnade, Majestät, Gnade!«

Die Kaiserin sah traurig und fast unwillig auf Potemkin, und voll hoher Verwunderung erblickte sie neben diesem eine sonderbar magere und eckige Gestalt, welche mit übertrieben geschmackloser Eleganz nach der neuesten Pariser Mode gekleidet war und, sich fortwährend bis zur Erde verneigend, so grotesk komische Bewegungen machte, daß Katharina trotz des schmerzlichen und peinlichen Gefühls, das der Anblick der unglücklichen Adeline in ihr erregte, sich eines flüchtigen Lächelns nicht erwehren konnte.

»Was bedeutet das, Alexander Gregorjewitsch?« fragte sie. »Warum hast du dies arme Mädchen hierher geführt und wer ist jener Mensch dort?«

»Dies hier,« erwiderte Potemkin, indem er Firulkins Arm erfaßte, denselben gerade vor die Kaiserin stellte und ihn zwang, aufrecht stehen zu bleiben, »dies hier ist der ausgezeichnete Bürger von Petersburg, Meister Peter Sebastianow Firulkin, ein Mann, dem ich bezeugen kann, daß er sich große Verdienste um die Entdeckung all der dunklen und gefährlichen Verschwörungen erworben hat, deren Fäden ich in die Hände Eurer Majestät zu legen so glücklich war. Ich habe ihm versprochen, seine Wünsche und Bitten bei Eurer Majestät stets zu unterstützen, und darum nun ist er hier, mein Fürwort bei seiner allergnädigsten Kaiserin in Anspruch zu nehmen.«

»Ich erinnere mich«, sagte Katharina; »ich habe seinen Namen damals von diesem armen Kinde hier gehört, aber darum begreife ich nicht, warum er jetzt in diesem Augenblick mit ihr hier zusammen ist.«

»Eure Majestät erinnern sich,« sagte Potemkin, »daß Fräulein Adeline Lemaitre den Leutnant Wassili Mirowitsch liebt, welcher sich in wahnsinniger Verblendung eines schweren Verbrechens schuldig machte. Sie bittet um Gnade für den Armen, sie bittet, daß Eure Majestät ihm das Leben schenken mögen und die Freiheit, an einem entlegenen Ort Sibiriens seine Schuld zu büßen! Sie ist bereit, Herrn Firulkin die Hand zu reichen, wenn derselbe die Gnade für den unglücklichen Mirowitsch durch meine Fürsprache erreicht, und ich selbst bitte Eure Majestät um diese Gnade! Durch Firulkin ist es mir möglich geworden, jene Verschwörung zu überwachen und unschädlich zu machen; belohnen Eure Majestät seine Dienste durch die Gewährung seiner Bitte!«

Katharina blickte voll inniger Teilnahme in das angstvoll bewegte Gesicht Adelines, welche noch immer vor ihr auf den Knien lag. Sie fuhr sanft mit der Hand über die Stirn des jungen Mädchens und sagte:

»So sehr lieben Sie jenen Mirowitsch, mein Kind, daß Sie, um sein Leben zu erhalten, dem ungeliebten Mann, gegen den Sie einst meinen Schutz anriefen, Ihre Hand reichen wollen?«

»Ja, Majestät, ja,« rief Adeline, »so sehr liebe ich ihn und beim lebendigen Gott, ich würde keinen Augenblick zögern, mein Leben für das seine hinzugeben. Mein Herz, Majestät, hat nur diese eine Liebe, aber ich schwöre es bei Gott, der mich hört, wenn Herr Firulkin das Leben des Unglücklichen rettet, so wird ihm alles gehören, was ich an Dankbarkeit, Gehorsam und Ergebenheit in mir trage, und ich werde alles, was mir noch an Kraft übrig bleibt, aufbieten, um ihm seine Wohltat zu vergelten; ich werde in mein Herz hinein die Tränen zurückdrängen, und ich werde in meiner Einsamkeit den Himmel anflehen, daß er den Armen, für den ich Eure Majestät um Gnade anrufe, sein einsames, gebrochenes Leben mutig ertragen lasse und seine Seele vor Verzweiflung bewahre bis zu einem glücklichen Wiedersehen jenseits dieser irdischen Welt voll Schuld und Qual. Wo das Leben ist, da ist Hoffnung, Majestät, und wäre es nur die Hoffnung auf des Himmels Frieden und Glück. – Lassen Sie dieses junge Leben nicht in Verzweiflung enden unter dem Beil des Henkers!« rief sie, von Schaudern geschüttelt. »Sie wollten mir ja gnädig sein, Sie wollten ja mein Glück begründen, gewähren Sie mir das letzte, das einzige Glück, die Hoffnung, daß er sich mit Gott in Ruhe und Frieden versöhnen könne, und daß vielleicht einst auf Erden noch seine Schuld ihm vergeben werde!«

»So wissen Sie alles, was geschehen«, fragte die Kaiserin; »so kennen Sie seine ganze Schuld?«

»Ja, ja,« rief Adeline, »ich kenne sie jetzt! Ich weiß, wie entsetzlich sein wahnsinniges Unternehmen geendet hat. Lange lag ich vom Fieber betäubt nach dem furchtbaren Schlage jenes Abends; aber als ich mich dann erhob, da erfuhr ich alles, ich erfuhr auch, daß er vor Gericht geladen war, ich erfuhr, daß die Richter sein Urteil gesprochen und daß dasselbe Eurer Majestät vorgelegt ist; da raffte ich mich auf mit der ganzen Kraft meiner Verzweiflung, ich flehte Herrn Firulkin an, mir zu helfen; er hat meine Bitte erhört, er will mein gebrochenes Herz annehmen, er hat mich zu jenem Herrn dort geführt und mir seinen Schutz versprochen. O Majestät, haben Sie Erbarmen, Erbarmen, solange es noch Zeit ist; lassen Sie ihn seine Schuld in langer Verbannung büßen, aber das Leben, o mein Gott, das Leben schenken Sie ihm, das junge, frische, hoffnungsvolle Leben!«

Die Kaiserin stand lange sinnend und immer das junge Mädchen betrachtend da; auch Firulkin war auf die Knie gesunken und stammelte: »Gnade, Majestät, Gnade! Auch ich bitte um Gnade für den, den ich so bitter gehaßt! Ich habe ihm verziehen und will alles tun, um diese arme Adeline ihren Kummer vergessen zu lassen!«

»Gnade, Majestät, Gnade!« sagte auch Potemkin. »Bedenken Sie, welche teuflischen Ränke den armen, jungen Mann umgarnten!«

Die Kaiserin stand noch immer schweigend da, ein wunderbares Licht strahlte aus ihren Augen. Noch einmal fuhr sie liebevoll über Adelines Stirn, dann erfaßte sie die Hände des jungen Mädchens und sagte ernst und feierlich: »Die Gnade für den Schuldigen steht bei Gott, mein Kind, der ihn gnädig richten wird, sie liegt nicht mehr in den Händen der Menschen, auch nicht mehr in den Händen der Kaiserin. Das Urteil des Gerichts war gerecht; auf Edden ist kein Platz mehr für den, der so frevelhaft seine Hand erhoben hat, um an den Grundsäulen der Ordnung und der Sicherheit des Reiches zu rütteln. Ich habe das Urteil bestätigt und die Kaiserin konnte nicht anders handeln.«

»O Majestät,« rief Adeline, »nehmen Sie die Bestätigung zurück; auch bei Gott steht die Gnade über der Gerechtigkeit!«

»Gott ist allmächtig, mein Kind,« sagte Katharina, indem sie Adelines Hände ergriff, »Gott kann auch die Toten wieder aufstehen lassen, das kann ich nicht; vor einer Stunde habe ich die Meldung erhalten, daß das Urteil vollzogen ist.«

Adeline sah die Kaiserin einen Augenblick starr an, als ob sie erst mühsam den Sinn dieser furchtbaren Worte zu fassen suche; dann stieß sie einen gellenden Schrei aus, ihre Augen schlossen sich, bewußtlos sank sie zusammen.

Potemkin erhob sie auf seinen starken Armen und trug sie auf ein Ruhebett. Die Kaiserin selbst benetzte ihre Schläfen mit kaltem Wasser und goß über die Handgelenke der Ohnmächtigen den Inhalt ihres eigenen Flacons aus.

Auch Firulkin war aufgesprungen; zitternd stand er neben dem Ruhebett und mit gefalteten Händen in das totenbleiche Gesicht Adelines blicken, stöhnte er:

»O mein Gott, mein Gott, auch sie wird sterben und«, fügte er grimmig hinzu, »an all dem Unheil ist nur jener Entsetzliche schuld, der mich betrogen und verraten hat!«

Katharina sah ihn mit einem drohenden Seitenblick an, vor dem er erschrocken zurückbebte; dann wendete sie sich wieder mit mütterlicher Sorgfalt zu Adeline.

Potemkin aber schüttelte verwundert den Kopf; er schien das alles nicht zu begreifen, aber er wagte keine Frage, keine Bemerkung.

Lange dauerte es, bis Adeline die Augen wieder aufschlug. Angstvoll blickte Katharina in ihr Gesicht, sie schien zu fürchten, daß der Geist der Armen sich unter den furchtbaren Schlägen verwirrt habe; aber der Blick der Erwachenden war kalt, klar und ruhig, ein unsäglicher Schmerz lag auf ihrem kindlich zarten, bleichen Gesicht. Doch kraftvoll richtete sie sich auf, aufrecht und fest stand sie da.

»Gott hat das Schwert der Gerechtigkeit in Eurer Majestät Hand gelegt,« sprach sie, die Kaiserin groß und frei anblickend, »ihm haben Sie Rechenschaft zu geben über dies junge Leben, dessen Schuld vor seinem Thron wohl leichter wiegen wird als vor den irdischen Richtern! – Ich danke Ihnen«, fuhr sie fort, Firulkin die Hand reichend; »was Sie mir einst Böses getan, ist vergeben. Sie haben ihn retten wollen und ich werde dankbar für Sie beten, solange ich noch die Last des Lebens zu tragen habe. Vielleicht ist es besser so, vielleicht wird meine Seele schnell den Frieden finden, um ihm in die Verklärung zu folgen.« Sie wendete sich der Tür zu.

»Halt,« rief Katharina, »halt, mein armes Kind, nicht so dürfen wir uns trennen; ich habe den Schuldigen strafen müssen, aber alles, was in meiner Macht steht, Ihnen Trost zu geben, soll geschehen!« Sie faßte die Hand des jungen Mädchens, um sie zurückzuhalten.

»Trost?« sagte Adeline, »Trost ist bei Gott; bei ihm werde ich ihn suchen.«

»Sprechen Sie,« rief Katharina, »sprechen Sie, jeder Wunsch soll Ihnen erfüllt sein! Was wollen Sie beginnen?«

»Wenn Eure Majestät mir noch eine Gnade erweisen wollen,« erwiderte Adeline, »so lassen Sie mich so schnell als möglich über die Grenze dieses Reiches bringen, damit ich nach meiner Heimat zurückkehren kann; dort will ich in einem Kloster den Frieden mit Gott suchen, mit der Welt habe ich abgeschlossen.« Die Kaiserin sah sie lange an.

»Gut, mein Kind,« sagte sie dann, »Ihr Wunsch soll erfüllt werden; in meinem eigenen Wagen sollen Sie von kaiserlichen Relais über die Grenze geführt werden; Firulkin wird Sie nach Hause begleiten, in einer Stunde soll alles bereit sein.«

»Ich danke, Majestät«, sagte Adeline, indem sie sich kalt und starr verbeugte.

Die Kaiserin schloß sie in ihre Arme.

»So gehen Sie nun, mein Kind«, sagte sie. »Gottes Segen begleite Sie auf allen Ihren Wegen, und wenn dennoch einst der Himmel Ihnen Hoffnung und Glück wiedergeben sollte – Sie sind ja noch so jung und die Jugend darf nicht verzweifeln – dann fluchen Sie der Kaiserin nicht, die so hart in den Traum Ihres jungen Lebens eingreifen mußte.« Sie küßte Adeline auf die Stirn.

Diese bebte scheu vor ihrer Berührung zurück, reichte dem zitternden Firulkin ihren Arm und verließ festen Schrittes das Gemach.

Lange noch blieb die Kaiserin mit Potemkin allein. Verschiedene Ordonnanzen wurden mit eiligen Befehlen abgefertigt und eine Stunde später stand ein kaiserlicher Reisewagen, mit vier Pferden bespannt und von dem Postillion geführt, vor der Wohnung der jungen Schauspielerin. Diese hatte ihrer Mutter in kurzen Worten das Geschehene mitgeteilt und ihren Entschluß verkündet, sogleich nach Frankreich zurückzukehren.

Vergebens versuchte die Alte, sie davon abzubringen; sie verwünschte Mirowitsch, der all dies Unheil verschuldet; sie verwünschte in ihrem Zorn den Fürsten Orloff und selbst die Kaiserin, aber kein Zug veränderte sich bei diesen Worten in Adelines bleichem, starrem Gesicht; mechanisch packte sie ihre Sachen zusammen, und als der Wagen vorgefahren war, stieg sie, unbekümmert, ob ihre Mutter ihr folge, die Treppe hinab. Als die Alte, immer noch scheltend, aber dennoch überzeugt, daß es gegen den von der Kaiserin gebilligten Willen ihrer Tochter keinen Widerstand gebe, endlich ebenfalls in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an und erreichten in schnellem Trab bald den Weg, welcher nach der preußischen Grenze hinführt, auf dem überall die Relais für den kaiserlichen Dienst bereitstanden.

Als die Kaiserin das Zimmer Potemkins verließ, um sich zu der immer ungeduldiger ihrer harrenden Gesellschaft zu begeben, wurde ihr gemeldet, daß der Kriegsminister Graf Tschernitschew soeben auf schaumbedecktem Pferd in den Hof geritten sei und Ihre Majestät um Gehör bitte.

Hoch aufatmend, mit leuchtenden Blicken, hörte Katharina diese Botschaft.

»Ich bitte den Grafen, sich nach der Eremitage zu begeben«, sagte sie; »ich werde ihn dort empfangen.«

Noch einmal kehrte sie dann zu Potemkin zurück, während Graf Tschernitschew befremdet den ihm überbrachten Befehl befolgte.

Voll hoher Verwunderung sahen die durch das lange Ausbleiben der Kaiserin verwirrten und erschreckten Gäste den Kriegsminister ernst und bleich in seiner bestaubten Uniform in die glänzenden Gemächer eintreten. Alles drängte sich neugierig um ihn, aber er wies jede Unterhaltung kurz und kalt zurück und antwortete auch auf die Fragen des Großfürsten nur einsilbig und ausweichend.

Lange jedoch sollte die Neugier der Gesellschaft nicht auf die Probe gestellt werden, denn bald nach Tschernitschews Eintritt öffneten sich die Türen zu den kaiserlichen Gemächern.

Katharina erschien, wie immer begleitet von Zoraide und Nikolai Sergejewitsch Soltikow; aber zum Erstaunen aller trat unmittelbar hinter der Kaiserin Graf Potemkin hoch aufgerichtet in großer Uniform, eine schmale schwarze Binde über dem einen Auge, ein stolzes, siegesgewisses Lächeln auf den Lippen, in den Saal.

Die Kaiserin erwiderte huldvoll die ehrerbietigen Grüße der Versammlung; sie umarmte den Großfürsten und küßte die Prinzessin auf die Wangen; dann ging sie gerade zu dem Grafen Tschernitschew, den ihr Blick sogleich erfaßt hatte, hin und sagte unter atemloser Stille:

»Ihr habt mir eine Meldung zu machen, Graf Sachar Gregorjewitsch; sprecht!«

Graf Tschernitschew zog ein Papier aus seiner Uniform, reichte dasselbe der Kaiserin und sagte:

»Ich habe die Ehre, Eurer Majestät ein Schreiben des Fürsten Gregor Gregorjewitsch Orloff zu überreichen, in welchem derselbe um Enthebung von allen seinen Ämtern und Würden am Hofe und im Reich bittet. Der Fürst hat die Absicht, zur Wiederherstellung seiner angegriffenen Gesundheit eine Reise in das Ausland zu machen und wird dieselbe, wenn Eure Majestät ihm die Erlaubnis dazu erteilen, in nächster Zeit antreten.«

Die Kaiserin zeigte in ihrem Gesicht keine Bewegung, während sie die ihr überreichte Schrift durchflog.

Potemkin ließ einen stolzen Blick über die Versammlung gleiten; in allen Gesichtern lag der Ausdruck namenloser Überraschung. Einen so schnellen, so entscheidenden und durchgreifenden Ausgang der Krisis, welche man seit lange in den höchsten Regionen beobachtet, hatte niemand erwartet.

»Die Bitte des Fürsten ist gewährt«, erwiderte Katharina; »ich darf ihm nach so vielen Diensten, die er mir und dem Reich geleistet hat, die Ruhe und Erholung nicht versagen, die er wünscht. Sie werden demselben morgen die Genehmigung seines Entlassungsgesuches zustellen!«

Sie hatte diese Worte so ruhig gesprochen, als ob es sich um die gleichgültigste Sache von der Welt handle.

Graf Tschernitschew verbeugte sich, und damit war die Sache erledigt, welche die Verhältnisse des Hofes und der Regierung so von Grund aus veränderte und den Beginn einer ganz neuen Zeit in sich schloß.

»Ich habe beschlossen,« fuhr die Kaiserin fort, »die Vermählung meines teuren Sohnes Paul Petrowitsch in vierzehn Tagen vollziehen zu lassen. Die Unterweisung der Prinzessin in den Lehren unserer heiligen, rechtgläubigen Kirche ist vollendet, sie wird das Bekenntnis am Tage vor ihrer Vermählung ablegen und ich beauftrage den Grafen Panin, der an diesem Tage zum letzten Male seine Funktion als Gouverneur des Großfürsten ausüben wird, die Anordnungen zur würdigen Feier dieses für ganz Rußland so freudigen und so hochwichtigen Ereignisses zu treffen.«

Ganz strahlend vor stolzer Freude verbeugte sich Graf Panin vor der Kaiserin, der Großfürst und seine Braut küßten ihre Hände und jedermann in der Gesellschaft hielt es für seine Pflicht, durch einige möglichst laut gesprochene Worte seine Freude auszudrücken.

»An demselben Tage«, fuhr die Kaiserin, durch einen Wink mit der Hand Stille gebietend, fort, »soll auch die Vermählung des Grafen Nikolai Sergejewitsch Soltikow mit der Gräfin Katharina Katharinowna, meiner lieben Pflegetochter, welche ebenfalls zur Aufnahme in die rechtgläubige Kirche vorbereitet ist, stattfinden, und der General Graf Sergius Semenowitsch Soltikow, welcher dem Grafen Romanzow meine Genehmigung des ruhmvollen Friedens von Kutschuk Kainardschi überbringt, wird bis dahin wieder hier sein, um bei dem freudigen Fest die Stellung einzunehmen, welche er durch sein Verdienst um den Sieg über die Feinde des Reiches verdient.«

Nikolai und Zoraide küßten ebenfalls die Hände der Kaiserin, indem sie vor ihr auf die Knie niedersanken. Und wenn auch Zoraides Augen sich in der Erinnerung an ihren gemordeten Vater mit Tränen füllten, so blickte sie doch mit ihrem Geliebten glücklich und dankbar zur Kaiserin auf, welche in diesem Augenblick das Versprechen, beiden Kindern eine Mutter zu sein, so herrlich erfüllte.

Aber noch sollte die Quelle der kaiserlichen Gnade, welche an diesem Abend so reichlich floß, und so viel Freude bereitete, nicht versiegt sein.

»Mein ganzer Hof«, fuhr Katharina fort, »wird, wie ich überzeugt bin, meine Freude darüber teilen, daß der Graf Alexander Gregorjewitsch Potemkin, mein Adjutant, von schwerer Krankheit glücklich wieder hergestellt ist, und seinen Dienst bei meiner Person hat wieder antreten können. Um ihm meine Freude darüber und die Anerkennung der wichtigen Dienste, die er mir geleistet hat, zu bezeugen, ernenne ich ihn zum Ritter meines höchsten Ordens vom heiligen Andreas!« Sie winkte.

Der Page Nikolai Sergejewitsch reichte ihr ein großes Etui von blauem Samt, das er in der Hand getragen hatte.

Die Kaiserin öffnete dasselbe.

Potemkin war vorgetreten und hatte sich auf ein Knie niedergelassen.

Katharina selbst schmückte ihn mit der Kette und dem Band des Ordens, der das höchste Ziel des Ehrgeizes aller russischen Würdenträger verkörperte.

Potemkin drückte einen langen Kuß auf ihre Hand, dann stand er auf und rief mit lauter Stimme:

»Hoch lebe unsere allergnädigste Herrscherin, die ruhmvolle und allezeit siegreiche Kaiserin Katharina Alexiewna!«

Die ganze Versammlung stimmte laut jubelnd in seinen Ruf ein, dann gab die Kaiserin das Zeichen zum Beginn der Tafel.

Sie reichte dem Grafen Tschernitschew die Hand, um sich von ihm in den Speisesaal führen zu lassen, und jubelnde Fröhlichkeit herrschte bis gegen den frühen Morgen hin an der Tafel, welche so viele Glückliche vereinigte, und an welcher auch die Neidischen und Unzufriedenen sich bemühten, um so heiterer zu erscheinen.


Mit der unerhörten Schnelligkeit, welche die Allmacht der Selbstherrscherin im kaiserlichen Dienst in Rußland entwickelte, hatte Adeline mit ihrer Mutter den langen Weg bis zur Grenze in wenigen Tagen durchflogen.

Das junge Mädchen saß starr und schweigend im Wagen. Auch Madame Lemaitre hatte, ermüdet durch ihre eigene Aufregung und in der Überzeugung, daß sie für den Augenblick nichts tun könne, als dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, ihre Vorwürfe eingestellt und verbrachte den größten Teil des Weges schlafend in ihrer Wagenecke.

An jeder Relaisstation wurden den im kaiserlichen Wagen und mit kaiserlichen Pferden reisenden Damen die vortrefflichsten Speisen und Getränke angeboten. Adeline genoß nur wenige Bissen, um ihre Kräfte zu erhalten; ihre Mutter aber ließ sich die guten Dinge, die man ihr darbot, vortrefflich schmecken; ihre Stimme wurde immer freudiger und zufriedener, und sie schmeichelte sich im stillen mit der Hoffnung, daß, einmal in Frankreich angelangt, es ihr dennoch gelingen werde, ihre Tochter von deren verzweifeltem Entschluß abzubringen und ihr einen neuen Weg zum Überfluß und Lebensgenuß zu eröffnen, der sich der Jugend und Schönheit ja so leicht darbietet.

So war endlich der weite Weg bis zur Grenze zurückgelegt. Der Morgen begann heraufzudämmern, als der Wagen, welcher auf jeder Station neue Pferde und einen neuen Postillion erhalten, vor dem Hause der Grenzpolizeibehörde anhielt.

Ein Beamter trat heraus, die Pässe der Reisenden wurden ehrfurchtsvoll nur flüchtig geprüft, da der kaiserliche Reisewagen und der kaiserliche Postillion genügende Garantie für die Reisenden boten.

Nach kurzem Aufenthalt fuhr man über die Grenze, da erst in der nächsten preußischen Stadt der Wagen und die Pferde gewechselt werden sollten.

Schnell war auch die Visierung auf dem preußischen Grenzbureau gemacht, und in der helleren Morgendämmerung wurde die Reise auf der Landstraße nach der nahegelegenen preußischen Station fortgesetzt.

Madame Lemaitre war wieder eingeschlafen. Adeline starrte trübe und gleichgültig in den erwachenden Morgen hinein. Da plötzlich hielt der Wagen mitten auf der Chaussee; der Postillion sprang vom Pferde, wickelte die Zügel um einen der Straßenbäume und eilte dann an den Wagenschlag heran. Madame Lemaitre erwachte und schrie erschrocken auf, da sie einen Unfall befürchtete.

Adeline blickte gleichgültig hinaus, sie war für die Welt abgestorben und nichts kümmerte sie, was außer ihr vorging; aber plötzlich stieß sie einen lauten, gellenden Schrei aus. Der Postillion hatte den Wagenschlag aufgerissen, er nahm den Hut ab, er breitete die Arme aus und sie erkannte die Züge ihres Geliebten.

»Wassili,« flüsterte sie; »o mein Gott, ist es möglich, mein Wassili? Ist es ein Trug der Hölle, oder sendet der Himmel deinen Geist herab, um mich zu rufen, mich zu erlösen von irdischer Pein?«

»Nein, meine Adeline, nein!« rief der Postillion, das zitternde Mädchen in seine Arme ziehend und ihr bleiches Gesicht mit flammenden Küssen bedeckend. »Nein, es ist kein höllischer Spuk, es ist wirkliche, lebendige, glückliche Wahrheit! Ich bin es, dein Wassili; ich halte dich in meinen Armen, die Hölle selbst wird mir meine süße Adeline nicht mehr entreißen!«

Adeline fühlte seinen Atem, seine warmen Lippen. Sie fragte nicht nach der Lösung dieses Rätsels; er war da, er lebte; dies eine Gefühl der höchsten Wonne schloß jeden anderen Gedanken aus. Mit groß aufgerissenen Augen, starr und unbeweglich, saß Madame Lemaitre da.

»Der Leutnant Mirowitsch«, flüsterte sie; »bei Gott, er ist es! Was bedeutet das, wie ist das möglich?«

»Der Schlag dieses Wagens«, erwiderte Mirowitsch, indem er Adeline sanft in die Kissen zurücklehnte, »enthält die Antwort auf die Frage, die ich selbst nicht zu beantworten vermag; so ist mir gesagt worden. Ich wurde im Gefängnis am Abend vor dem Tage, an dem meine Hinrichtung stattfinden sollte,« fuhr er fort, während Adeline laut schluchzte, »in einen Wagen gesetzt und in rasender Eile fortgeführt. Der Offizier, der mich begleitete, sprach während der ganzen Fahrt kein Wort und gab mir keine Antwort. Auf der letzten Station wurde mir befohlen, diesen Postillionsanzug anzulegen, den Wagen, der unmittelbar nach uns ankommen sollte, über die Grenze zu führen und bei Todesstrafe kein Wort zu sprechen, bevor die Grenze überschritten sei. In der Wagentasche werde ich die Erklärung finden. Noch immer begriff ich nicht, was das alles bedeuten sollte, bis ich in dem heranfahrenden Wagen Adeline erkannte. Da dämmerte mir wohl ein Verständnis auf, aber ich verschloß alle überwallende Seligkeit in meiner Brust und tat, wie mir befohlen. Nun sind wir in Sicherheit, nun gehört uns das Leben und die Zukunft. O Adeline, noch kann ich es nicht fassen!«

»Die Kaiserin, die Kaiserin!« flüsterte Adeline. »O mein Gott, jetzt verstehe ich ihre letzten Worte.«

Madame Lemaitre hatte inzwischen den ganzen Wagen durchsucht; in einer Seitentasche desselben fand sie einen Brief, mit dem kaiserlichen Siegel verschlossen.

»Hier,« rief sie, »hier ist die Lösung!«

Mirowitsch nahm den Brief. Mit zitternden Händen öffnete er das Siegel. In dem Umschlag lag eine Anweisung auf hunderttausend Rubel, von einem großen Petersburger Haus auf einen Pariser Bankier ausgestellt; daneben befand sich ein Billett. Atemlos, mit bebender Stimme las der junge Mann:

 

»Ich bitte Fräulein Adeline Lemaitre, die sich meiner Gunst stets würdig gezeigt hat, die anliegende Summe als eine Entschädigung für alles das anzunehmen, was sie in Rußland Schmerzliches erfahren; auch soll der Wagen, welcher sie über die Grenze geführt hat, mit den Pferden der letzten Station und allem, was dazu gehört, ihr Eigentum sein! – Möge dies Geschenk in ihrem Herzen eine freundliche und dankbare Erinnerung sichern ihrer wohlgeneigten Kaiserin

Katharina.«

 

Noch ein drittes Papier lag in dem Umschlag. Es war ein nach allen gesetzlichen Vorschriften ausgestellter Paß, dessen Personalbeschreibung genau auf Mirowitsch paßte, welcher den Namen Wassili Woswratew trug.

»Wassili Woswratew!« rief Mirowitsch; »das heißt Wassili der Wiedergekehrte. O mein Gott, mein Gott, ist das alles möglich, kann es so viel Glück auf Erden geben?!«

Adeline war immer noch stumm. Mirowitsch faßte ihre Hände; er hob sie aus dem Wagen; er zog sie an seiner Seite auf der Straße auf die Knie nieder.

Die leuchtende Morgensonne stieg über dem Horizont herauf und beschien mit ihren ersten Strahlen die Gesichter der beiden zu neuem Leben geborenen glücklichen Menschenkinder. Und während Madame Lemaitre mit blitzenden Augen die Anweisung, die sie in ihren Händen hielt, betrachtete, rief Mirowitsch, indem er seine Arme dem aufleuchtenden Gestirn des Tages entgegenstreckte, mit lauter Stimme über das Feld hin:

»Gott segne die Kaiserin Katharina Alexiewna!«


Druck von A. Seydel & Cie. G. m. b. H., Berlin SW.

 


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