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9. Kapitel

Unter den ersten, welche das Kabinett der Kaiserin betraten, befand sich Potemkin. Obgleich nicht wenige an Jahren und an Rang über ihm stehende Personen anwesend waren, trat er stolz und siegesgewiß zur Kaiserin heran, welche, flüchtig errötend, seinen Gruß mehr doch durch den entzückten Blick erwiderte, den sie über seine athletische und doch so schlanke Gestalt gleiten ließ, als durch die leichte Neigung ihres Hauptes. Diese Neigung des Hauptes, welches das symbolische Abbild der byzantinischen Krone trug, war das Zeichen gnädiger Huld der Herrscherin für ihren Untertan, aus ihren Blicken aber flammte der Gruß des liebenden Weibes ihm entgegen.

»Hier, mein Herr,« sagte Katharina zu Diderot, »stelle ich Ihnen einen meiner verdienstvollsten Diener vor – einen treuen Freund,« fügte sie schnell hinzu, als sie bemerkte, daß Potemkins Stirn sich bei ihren letzten Worten finster zusammenzog. »Sie haben den Grafen Potemkin noch nicht gesehen, da er erst heute angekommen ist, um mir seine tapferen Soldaten nach siegreichen Schlachten wieder zuzuführen. – Herr Diderot,« fügte sie, zu Potemkin gewendet, hinzu, »einer der ersten Sterne unter den großen Geistern Frankreichs, mein Gast und mein Freund«.

»Eure Majestät«, erwiderte Potemkin, »hätten nur nötig gehabt, mir den Namen Diderot zu nennen; denn obwohl ich lange Jahre an den fernen Grenzen Ihres Reiches gegen die Barbaren des Ostens im Kampfe gestanden, habe ich doch nicht vergessen, daß dieser Name dem größten Philosophen Frankreichs, dem klarsten und freiesten Geist Europas gehört; ebenso gewiß war ich, daß ein solcher Geist der Freund meiner erhabenen Kaiserin sein und daß Herr Diderot sich glücklich fühlen müsse als Gast der großen Katharina.«

Die Kaiserin nickte mehrmals zum Zeichen ihres Beifalls und beobachtete ganz glücklich in Diderots Gesicht die Wirkung der Schmeichelei, welche Potemkin mit der Miene offenen Freimutes so geschickt ausgesprochen hatte.

»Er wird Ihre Ideen begreifen,« flüsterte sie dem Philosophen zu, »und er wird eine der Stützen sein, deren ich bedarf, um so Großes auszuführen.«

»Rußland«, sagte Diderot, »ist glücklich, eine solche Kaiserin zu besitzen, und Sie, Madame, sind vielleicht noch glücklicher zu preisen, daß Ihnen ein so hoher und herrlicher Beruf zuteil geworden und daß Sie für die Erfüllung desselben solche Werkzeuge fanden.«

Er verbeugte sich verbindlicher, als es sonst seine Art war, gegen Potemkin, und der Hof hörte mit Erstaunen und stillem Unmut dieses eigentümliche Gespräch an, welches nur dazu angetan schien, den neuen Günstling in helleres Licht zu stellen.

Die Kaiserin blickte zu Potemkin auf, welcher auf seiner gestickten Uniform nur das weihe Kreuz der dritten Klasse des St.-Georgs-Ordens trug.

»Ihre Brust, Graf Gregor Alexandrowitsch,« sagte sie, »schmückt zwar das schönste Ehrenzeichen des Soldaten, das Mut und Tapferkeit nur dem eigenen Verdienste zu danken haben, aber der Kaiserin ziemt es, ihren tapferen General nicht ohne sichtbares Merkmal ihrer Anerkennung und Achtung zu lassen; nehmen Sie meinen Orden des heiligen Alexander Newsky als ein solches Zeichen – ich freue mich, der Zahl der Ritter ein so würdiges Mitglied zuführen zu können.«

Sie winkte dem Pagen, welcher sich beim Eintritt der Gesellschaft an ihre Seite gestellt hatte.

Potemkin verbeugte sich tief und sprach einige Worte des Dankes, doch zeigte seine Miene dabei keine besonders freudige Genugtuung, vielmehr machte sich eine kaum unterdrückte Verstimmung in seinen Zügen bemerkbar. Sein stolzer, hochfahrender Sinn empfand es fast als eine Erniedrigung, daß er hier in Gegenwart des ganzen Hofes nur den zweiten Orden des Reiches empfing, wodurch er im Range nicht nur unter Gregor Orloff, sondern auch unter verschiedene andere der obersten Würdenträger gestellt wurde.

Der Page brachte ein Etui mit den Ordensinsignien. Potemkin beugte das Knie vor der Kaiserin und Katharina bekleidete ihn mit dem breiten dunkelroten Bande. Ihr Arm schmiegte sich dabei so innig an seine Schulter, ihr Haupt beugte sich so tief zu ihm herab, daß es fast schien, als ob ihre Lippen seine Stirn berühren wollten.

Wie ein Hauch tönte es dabei in sein Ohr:

»Rot ist die Farbe der Liebe – das blaue Band wird die Treue belohnen.«

»Seine Kaiserliche Hoheit der Großfürst!« rief der Türhüter; und mit jenem unruhigen, etwas unsicheren Schritt, der ihm eigentümlich war, eilte der Großfürst Paul Petrowitsch in der Paulowskyschen Grenadieruniform auf die Kaiserin zu.

Er küßte seiner Mutter die Hand, stieß einige hastige Worte der Begrüßung hervor, welche Katharina freundlich erwiderte, und blickte dann ungeduldig und suchend umher.

Eben wendete er sich, als wollte er eine Frage aussprechen, an den Grafen Rasumowsky, als von neuem die Flügel der Tür geöffnet wurden und, von dem Grafen Panin geleitet, die Landgräfin von Hessen-Darmstadt in den Salon trat. An der Seite der Landgräfin ging die Prinzessin Wilhelmine.

Sie trug eine ungemein einfache Toilette von weißer Seide; kein Edelstein, keine Spange schmückte sie; einige von den Blumen, welche der Großfürst ihr gesendet, trug sie in ihrem Haar und an ihrer Brust und die übrigen hielt sie, immer noch mit dem St.-Annen-Bande umwunden, in der Hand.

Die beiden anderen Prinzessinnen folgten.

Sie waren plötzlich von ihrer Mutter in den zweiten Rang zurückgestellt und hatten sich dafür zu entschädigen gesucht, indem sie alle Edelsteine, über welche sie verfügen konnten, an ihrem Kostüm angebracht hatten.

Die Kaiserin hatte sich beim Eintritt der fürstlichen Damen erhoben und reichte der Landgräfin die Hand, während der Großfürst zu seiner Mutter heraneilte, um an ihrer Seite die Prinzessinnen zu begrüßen.

Katharina sah die Prinzessin Wilhelmine ein wenig erstaunt an; ihre Augenbrauen zogen sich unmutig zusammen.

»Ich mache Ihnen mein Kompliment, Prinzessin Wilhelmine,« sagte sie kalt und streng, »daß Sie eine so außergewöhnlich einfache Toilette gewählt, um hier bei mir zu erscheinen; Sie hätten Watteau zum Vorbilde für eines seiner Schäferbilder dienen können, eine Prinzessin von so viel persönlichem Wert wie Sie,« fügte sie mit leichter, aber vollkommen verständlicher Ironie hinzu, »hat wohl das Recht, auf allen äußern Schmuck zu verzichten.«

»Ich würde es nicht gewagt haben, Majestät,« erwiderte die Prinzessin Wilhelmine, »so einfach vor Ihnen zu erscheinen, aber«, fuhr sie fort, während die Landgräfin ganz erschrocken ihrer Tochter einen zornigen, vorwurfsvollen Blick zuwarf, »ich trage einen Schmuck, der für mich von solchem Wert ist, daß ich nicht glaubte, demselben einen andern an die Seite stellen zu dürfen. Diese Blumen hier hat mir Seine Kaiserliche Hoheit zu senden die Güte gehabt, sie sind mit dem edlen Bande des St.-Annen-Ordens zusammengebunden; wo wäre ein Edelstein zu finden, der so köstlichem Blütenschmuck sich an die Seite stellen dürfte?«

Der Großfürst errötete vor Freude; er küßte die Hand der Prinzessin und trat dann, wie erschrocken über diese Aufwallung, wieder hinter die Kaiserin zurück, welche zuerst ihren Sohn und die Prinzessin Wilhelmine verwundert ansah, dann aber ganz freudig bewegt auf den Grafen Panin einen fragenden Blick richtete, den dieser mit einer tiefen Verbeugung beantwortete.

»Dann allerdings, Prinzessin,« sagte die Kaiserin lächelnd, »tragen Sie kostbaren Schmuck; Blumen aus der Hand meines Sohnes sind wohl den Diamanten gleich, wenn sie die schnell verblühende Gegenwart überdauern.«

»Das sollen sie, das sollen sie!« rief der Großfürst lebhaft; »und wenn meine allergnädigste Mutter es erlaubt, so bitte ich die Prinzessin, die Blumen und das Band als ein symbolisches Zeichen anzunehmen für das Herzogtum Holstein, das ich heute zu ihren Füßen legen kann, bis einst –«

Er stockte und blickte scheu und erschrocken auf seine Mutter.

»Bis einst,« sagte Katharina mit ruhiger Würde, »die schwere Last der Krone des russischen Reiches auf das Haupt meines Sohnes übergegangen sein wird, wenn ich auf Erden die Pflichten erfüllt haben werde, die Gott mir auferlegt. Ich freue mich der Wahl meines Sohnes,« fuhr sie fort, »und begrüße Sie, Prinzessin Wilhelmine, von Herzen als meine Tochter; ich bringe Ihnen meine ganze mütterliche Zärtlichkeit entgegen und bin gewiß, daß Sie sich dieselbe erhalten werden.«

Die Prinzessin beugte das Knie vor der Kaiserin.

Katharina hob sie in ihren Armen auf und küßte sie nach russischer Sitte auf beide Wangen. Hierauf umarmte sie auch die Landgräfin, welche freudestrahlend die stolzesten Hoffnungen ihrer ehrgeizigen Träume erfüllt sah.

»Ich stelle hiermit«, sagte die Kaiserin mit der feierlichen Würde, welche sie, wenn es die Umstände erforderten, mit so imponierender Majestät anzunehmen verstand, »Ihre Hoheit die Prinzessin Wilhelmine meinem Hofe als die Braut meines lieben Sohnes, des Großfürsten und Thronfolgers Paul Petrowitsch, vor; die Prinzessin wird von morgen an den Unterricht in den Glaubenslehren unserer heiligen rechtgläubigen Kirche empfangen; aber von heute an bestimme ich, daß ihr alle Ehren der verlobten Braut meines Sohnes erwiesen werden, und daß sie nach mir selbst den ersten Rang an meinem Hofe einnehmen soll; ich erlaube den hier Anwesenden, dem verlobten Brautpaar ihre ehrfurchtsvollen Glückwünsche darzubringen, wie es morgen nach der feierlichen Verlobung der ganze Hofstaat tun soll!«

Auf ihren Wink reichte der Großfürst der Prinzessin Wilhelmine den Arm, die Kaiserin trat mit der Landgräfin einen Schritt hinter das junge Paar zurück. Die beiden anderen Prinzessinnen standen trübselig und verlegen seitwärts, sie trugen ihre Edelsteine vergebens, niemand achtete auf sie – an sie knüpfte sich ja keine Erwartung, keine Hoffnung mehr, ihre Schwester war zu schwindelnder Höhe über sie hinaufgehoben und ihnen blieb nichts weiter übrig, als zurückzukehren in das Stilleben des heimischen Hofes, um vielleicht einst einem unbedeutenden Reichsfürsten die Hand zu reichen und an einem kleinen Miniaturhofe die Manieren von Versailles und von Petersburg zu kopieren.

Der Hof defilierte vor den fürstlichen Verlobten und wenn auch diese den Mittelpunkt der Zeremonie bildeten, so waren doch alle die tiefen Verbeugungen der Kavaliere und Damen weit mehr an die Kaiserin als an den Großfürsten und die Prinzessin gerichtet; jedermann hütete sich sorgfältig, dem Thronfolger zu viel Ehrfurcht und Teilnahme zu zeigen und suchte in seiner Haltung deutlich auszudrücken, daß selbst der Befehl der sonst so allmächtigen Herrscherin nicht imstande sei, den Mittelpunkt dieses glänzenden Planetenkreises auch nur auf einen Augenblick zu verrücken.

Hinter Katharina stand Potemkin, die Kaiserin weit überragend mit seiner gewaltigen Gestalt, welche durch sein stolz erhobenes Haupt noch riesenhafter erschien. Hochmütig blickte er auf alle die vorüberschreitenden Würdenträger des Staates und des Hofes herab, welche sich ebenso sehr vor ihm als vor der Kaiserin zu neigen schienen.

Neben Potemkin aber stand Diderot in seinem unscheinbaren grauen Kostüm; seine Blicke ruhten fast nicht minder hochmütig als diejenigen des stolzen athletischen Generals auf den ehrerbietig vorbeidefilierenden Höflingen, und der so eifrige, beredte Vertreter des Grundsatzes der allgemeinen Gleichheit aller Menschen schien dennoch mit ganz besonderem Vergnügen seinen bevorzugten Platz hinter der allmächtigen, von ganz Europa bewunderten und gefürchteten Selbstherrscherin einzunehmen und auf die tief sich beugenden Herren und Damen herabzublicken, welche für seine Theorie von der Gleichheit der allgemeinen Menschenrechte so wenig Verständnis besaßen.

Noch während die Cour vor dem Großfürsten ihren Fortgang nahm, war, von der ganzen Gesellschaft unbemerkt, ein kleiner, bescheidener Mann in den Salon getreten und an der Tür stehen geblieben. Er schien fast sechzig Jahre alt zu sein; sein bleiches Gesicht zeigte die Spuren geistiger Arbeit. Er trug ein einfaches, aber elegantes Kostüm von schwarzer Seide mit feiner Silberstickerei; die Haltung seiner etwas eckigen, mageren Gestalt zeigte zwar nicht die Gewohnheit der Höfe, aber doch die vollkommene Ruhe und Sicherheit, welche das Bewußtsein des eigenen Wertes und der geistigen Überlegenheit zu geben pflegt.

Der scharfe Blick der Kaiserin hatte diesen Mann, der über die außergewöhnliche Bewegung der Gesellschaft etwas verwundert schien, sogleich entdeckt. Auf ihren Befehl führte der Page den unscheinbaren Fremden, der aller Welt unbekannt zu sein schien, mitten durch die ganze Gesellschaft zur Kaiserin heran, welche, noch etwas weiter zur Seite tretend, sich in ein leises und angelegentliches Gespräch mit ihm vertiefte.

Die ganze Gesellschaft geriet dadurch in einige Verwirrung; jeder suchte im stillen nach einer Erklärung für diese neue Erscheinung, und selbst Potemkin maß den Fremden, der die Kaiserin so ganz in Anspruch nahm, mit unruhig forschenden Blicken, obgleich dessen ganze Erscheinung gerade ihm am wenigsten die Besorgnis irgendeiner Nebenbuhlerschaft einflößen konnte.

Endlich war die Cour beendet; alle Anwesenden hatten dem jungen Paare ihre Glückwünsche dargebracht und standen nun in weitem Halbkreise um die fürstlichen Herrschaften.

»Graf Nikita Alexandrowitsch,« sagte die Kaiserin zu Panin gewendet, »Sie werden alles vorbereiten, damit die Dokumente über das glückliche Ereignis, das sich hier vollzogen hat, morgen, am Tage der feierlichen Verlobung, veröffentlicht werden können; ich aber,« fuhr sie fort, während Panin sich stumm verbeugte, »ich habe eine Pflicht zu erfüllen, welche gerade eben dieses freudige Ereignis mir noch näher legt. Die Freude, welche Sie alle mit mir teilen, läßt mich noch lebhafter empfinden, wie kostbar das Leben meines geliebten Sohnes für das russische Reich und das russische Volk ist; nicht nur mein mütterliches Herz, sondern die Sorge der Kaiserin und die Zukunft meiner Völker legt mir die Pflicht auf, dies kostbare Leben vor jeder Gefahr zu schützen, und zu meiner tiefen Bekümmernis zieht eine solche Gefahr in diesem Augenblicke gegen meine Residenz heran. Die Blattern, welche in den östlichen Provinzen viele Opfer gefordert haben, nähern sich in gerader Linie der Hauptstadt, und alle Vorsichtsmaßregeln sind nicht imstande gewesen, die Seuche auf ihrem verhängnisvollen Wege abzulenken; der Todeshauch der Pest trifft die Hütten und die Paläste, den ärmsten Bettler wie den Erben des Thrones; aber Gott in seiner Weisheit und Gnade hat sich ein Werkzeug erkoren, um die Menschheit von der furchtbaren Geißel zu erretten.«

Die ganze Versammlung war von Schauern geschüttelt worden, als die Kaiserin so offen von dem Herannahen der Epidemie sprach, welche damals noch mit den Schrecken einer übernatürlichen, dämonischen Todesmacht umgeben war und über deren Ausbreitung und Fortschritte man bisher das tiefste Geheimnis beobachtet hatte.

Ängstlich lauschte alles, als sie von dem Rettungsmittel sprach; man schien an irgendeine wundertätige Einwirkung des Himmels zu glauben, denn Gebete, öffentliche Prozessionen und das Sprengen von geweihtem Wasser waren bisher die einzigen Mittel gewesen, welche man gegen die Blattern angewendet hatte.

»Ein vom Himmel erleuchteter Arzt in England«, fuhr die Kaiserin fort, »hat die Entdeckung gemacht, daß die Pocken der Kühe, wenn sie in das menschliche Blut übertragen werden, den Körper nach kurzer und leichter Krankheit unzugänglich für das tödliche Gift der Blattern machen.«

Alle Anwesenden schauderten bei der Erwähnung dieses Heilmittels fast ebenso sehr als vor der Krankheit, gegen die es schützen sollte; und trotz der Ehrfurcht vor der Gegenwart der Kaiserin wurden hier und da Ausrufe des Entsetzens laut bei dem Gedanken, das Krankheitsgift eines Tieres in den menschlichen Körper einzuführen.

»Ich habe den gelehrten Doktor Dimsdale hier,« fuhr die Kaiserin, auf den Fremden an ihrer Seite deutend, fort, »zu mir gerufen, welcher mit der neuen Entdeckung des Doktor Jenner vollkommen vertraut ist; er hat mich von der sichern Heilkraft des neuen Mittels gegen alle Ansteckungen überzeugt, und ich bin entschlossen, meinen Sohn und die Zukunft des Reichs gegen die heranschleichende Gefahr der tückischen Krankheit zu schützen.«

Diesmal antwortete ein allgemeiner Schrei des Schreckens und Entsetzens auf die mit ruhiger, klarer Stimme gesprochenen Worte der Kaiserin.

Der Großfürst erbleichte und blickte so drohend und finster auf seine Mutter hin, als ob furchtbare Gedanken, von den Mächten der Hölle geweckt, in seiner Seele aufstiegen. Die Prinzessin Wilhelmine legte ängstlich ihre Hand auf den Arm ihres Verlobten, und selbst Potemkin zitterte, während Diderot besorgt und mißbilligend den Kopf schüttelte.

»Majestät,« sagte Graf Panin, indem er vor die Kaiserin trat, »Sie haben mir die Sorge für die Erziehung Seiner Kaiserlichen Hoheit und sein geistiges und leibliches Wohl anvertraut; ich bin Ihnen und dem ganzen Reiche verantwortlich für das heiligste Kleinod, auf welchem die Zukunft des russischen Volkes und aller großen Schöpfungen Eurer Majestät beruht; ich muß Einsprache erheben gegen ein solches Wagnis mit dem Leben Seiner Kaiserlichen Hoheit!«

Katharina sah ihn mit einem Blick voll unendlicher Hoheit an.

»Ich verzeihe Ihnen Ihr kühnes Wort, Graf Nikita Alexandrowitsch,« sagte sie, »denn es kommt aus der treuen Ergebenheit für mich und die Meinen, welche ich stets bei Ihnen bewährt gefunden habe. Ich habe mich überzeugt, daß es sich bei dem Schutzmittel um kein tollkühnes Wagnis, sondern um sichere Hilfe handelt; Doktor Dimsdale hat mir den Vorgang erklärt; ich habe seine Erklärung begriffen und deshalb glaube ich daran.«

»Und ich, Majestät,« sagte der Doktor Dimsdale in französischer Sprache mit stark englischem Akzent, »ich stehe mit meinem Kopf für den Erfolg!«

»Der Kopf eines Fremden,« sagte Gras Panin achselzuckend, »für das Leben des Großfürsten, an dem des Reiches Zukunft hängt –«

»Ganz recht, Nikita Alexandrowitsch,« fiel die Kaiserin ein, »das ist keine genügende Bürgschaft; das steht nicht in gleichem Verhältnis. Ich habe beschlossen, meinen Sohn und Erben und mein ganzes Volk vor der verheerenden Seuche, der schon so viele Tausende zum Opfer fielen, zu schützen, ich bin gewiß, daß das Mittel des Doktor Jenner Schutz gewährt; aber Sie haben recht, Graf Nikita Alexandrowitsch!« rief sie mit flammenden Blicken, »der Kopf eines Fremden ist keine Gewähr für das Leben meiner Untertanen – für das Leben des Großfürsten; was die Kaiserin ihrem Volke gebietet, muß die Kaiserin erproben; das Heilmittel, das die Mutter ihrem Sohne reicht, muß sie selbst zuvor versuchen; ich werde mir des Doktor Jenner Schutzgift einimpfen lassen, von dessen Kraft ich überzeugt bin, und erst wenn es sich an mir bewährt hat, werde ich meinen Sohn bitten, es ebenfalls anzuwenden, erst dann werde ich meinem ganzen Volke befehlen, auch auf diesem so einfachen Wege Schutz gegen die todbringende Seuche zu suchen!«

»Es ist unmöglich, Majestät, unmöglich!« rief Panin; »Sie wollen Ihr Leben in solche Gefahr setzen? Das darf nicht sein, der Senat des Reiches muß darüber beschließen; die erste Körperschaft des Volkes wird feierlich Protest einlegen gegen solches Beginnen; Eurer Majestät Edelmut reißt Sie zu weit fort!« fügte er, sich vor den zornigen Blicken der Kaiserin verneigend, hinzu.

»Der Senat!?« rief Katharina. »Nun, wenn ich ein Mann wäre und das Schwert so kühn zu schwingen verstünde, wie ich das Zepter festzuhalten vermag, und wenn ich dann hinauszöge an der Spitze meiner Heere zu blutigen Schlachten – sagen Sie mir, Graf Nikita Alexandrowitsch, würde dann der Senat in banger Besorgnis um mein Leben mich zurückzuhalten suchen, obgleich ich doch Tausende meiner Untertanen mit mir dem Tode entgegenführte? Der Senat würde den Heldenmut des Heerführers rühmen, und jetzt, da ich mein Leben einsetzen will, um das Leben von Tausenden zu retten, jetzt wollte derselbe Senat sich mir mahnend entgegenstellen?«

»Nein, Majestät, nein, es ist unmöglich!« rief jetzt auch Potemkin. »Wenn jener Arzt, der seine Entdeckung in seinem Vaterlande noch nicht zur Geltung hat bringen können, sich irrte?«

»Nein, er irrt sich nicht!« erwiderte die Kaiserin, indem sie liebevoll in Potemkins erregtes Gesicht blickte; »er irrt sich nicht, denn er hat auch an sich selbst die Richtigkeit seiner Erfahrung bewiesen. Glauben Sie, Graf Gregor Alexandrowitsch,« fügte sie, die Hand auf Potemkins Arm legend, hinzu, »glauben Sie, daß ich geneigt wäre, leichtsinnig mein Leben an ein vermessenes Spiel zu setzen, mein Leben, das mir noch so viel Glück und so viel stolze Hoffnungen bietet? Und wenn jenes Europa, das sich so hoch über uns erhaben dünkt, feige Furcht und abergläubischer Zweifel von einer segensreichen Neuerung zurückhält, so mag es jetzt lernen, daß die Kaiserin von Rußland nicht zögert, wo es gilt, ihrem Volke an der Hand der erleuchtenden Wissenschaft Erlösung von verheerender Pest zu bringen.«

Potemkin beugte das Haupt.

Die Kaiserin hatte in einem Tone gesprochen, der keinen Widerspruch mehr zuließ.

»Eurer Majestät Absicht ist hochherzig und groß,« sagte Panin, »und ich bin gewiß, daß auch der Senat Ihnen seine ganze Bewunderung aussprechen wird; ich werde demselben vorschlagen, zuvor eine Prüfung der Sache durch die ersten Ärzte des Reiches vornehmen zu lassen und nach dem Resultat derselben –«

»Alle Ärzte Europas waren bisher ohnmächtig gegen die Blattern!« fiel Katharina ein; »ihr Urteil hat für mich keinen Wert, und wenn der Senat seine Pflicht kennt, so wird er meinem Beispiel folgen. Doktor Dimsdale sind Sie bereit?«

»Zu Befehl!« erwiderte der Doktor, indem er aus seiner Tasche ein kleines Etui mit chirurgischen Instrumenten hervorzog.

Ein Schrei des Entsetzens tönte durch das Zimmer. Der Großfürst eilte mit ausgebreiteten Armen zu seiner Mutter, Panin warf sich dem Arzte entgegen und Potemkin faßte, in diesem Augenblick alle Etikette vergessend, die Hand der Kaiserin.

Katharina machte sich sanft von ihm los, dann richtete sie sich hoch auf und sprach mit so strengem Ton und so gebieterischem Blick, daß alle Anwesenden erbebend verstummten:

»Ich habe meinen Entschluß kundgetan; wer wagt es, gegen den Willen der Kaiserin zu murren? Graf Gregor Alexandrowitsch, einen Sessel!«

Schweigend schob Potemkin einen Stuhl heran.

Die Kaiserin ließ sich nieder und streifte leicht und anmutig den Spitzenüberhang von ihrem Arm zurück. Doktor Dimsdale zog aus seinem Etui ein kleines, schmales Kristallfläschchen; er befeuchtete mit dem Inhalt desselben die Spitze einer langen, feinen Lanzette, und während die ganze Versammlung wie gelähmt von Entsetzen dastand, versenkte er die funkelnde Klinge in den weißen, vollen Arm der Kaiserin.

Man hörte nur einen einzigen tiefen Atemzug ringsumher.

Panin stand mit auf der Brust gefalteten Händen wie gebrochen da. Die Landgräfin stützte sich halb ohnmächtig auf ihre beiden Töchter; Diderot betrachtete weit vorgebeugt, neugierig forschend die Operation; der Großfürst hatte Rasumowskys Hand ergriffen und blickte zitternd zur Kaiserin hinüber; Potemkin hatte sich auf ein Knie niedergelassen und stützte den Arm der Kaiserin, während der Doktor zum zweiten Male die Klinge seines Instruments befeuchtete.

»Ich hatte geglaubt, daß es schmerzen würde,« sagte die Kaiserin heiter lächelnd, als ein kleiner, kaum bemerkbarer Blutstropfen auf ihrer weißen Haut erschien; »fahren Sie fort!«

Und während die ganze Versammlung Marmorbildern gleich in lautlosem Schweigen umherstand, versenkte Doktor Dimsdale noch siebenmal seine Lanzette in den Arm der Kaiserin.

Die Kaiserin erhob sich und ließ ihren Spitzenärmel wieder herabfallen.

»Wie lange wird es dauern, Doktor, bis die Wirkung eintritt?« fragte sie.

»Acht bis neun Tage, Majestät«, erwiderte Doktor Dimsdale.

»Und wie habe ich mich zu verhalten,« fragte sie, »bis die Pocken ausgebrochen sind?«

»Wollen Ihre Majestät ganz und gar Ihre gewohnte Lebensweise führen, später werden eine einfache Diät und einige kühlende Mittel genügen.«

»Gut!« sagte Katharina. »Ich hoffe,« fügte sie, stolz umherblickend, hinzu, »daß ich heute mit wenigen Tropfen Blutes eine Schlacht gewonnen habe gegen einen bisher unbesiegten Feind, gegen die furchtbare Pest, welche jahrhundertelang mein Volk dahinwürgte.«

»Bei Gott, Madame,« sagte Diderot, indem er in seiner ungezwungenen Weise der Kaiserin lächelnd auf die Schulter klopfte; »ich bewundere Sie, ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich den Mut nicht gefunden hätte, ein solches Spiel mit dem Tode zu wagen.«

»Sie haben also hier in Rußland gelernt, mein Herr,« erwiderte die Kaiserin, »daß auch die Fürstinnen, von denen Sie, wie ich fürchte, eine nicht allzu günstige Vorstellung haben, zuweilen die Einsicht besitzen, ihre Pflicht zu erkennen und den Mut, sie zu erfüllen.«

Der Großfürst drückte Rasumowsky die Hand und flüsterte mit bebender Stimme:

»Ich hätte es nicht gewagt, Alexander Cyrillowitsch, ich hätte es bei Gott nicht gewagt! Und einer solchen Frau sollte ich den Thron beneiden – einer solchen Frau, die meine Mutter ist? Hätten die Helden des Altertums, von deren Größe wir bewundernd lesen, mehr tun können?«

Er eilte zu seiner Mutter hin, küßte ihre Hand und rief: »Ich danke Ihnen, Majestät, ich danke Ihnen im Namen des Vaterlandes. Nun aber lassen Sie mich auch gleich den Versuch machen; lassen Sie mich nicht zu weit hinter meiner erhabenen Mutter zurückstehen.«

»Nein, mein Sohn, nein!« erwiderte die Kaiserin. »Nicht eher werde ich dein Leben der Gefahr aussetzen, vor welcher der Graf Panin so sehr zittert, als bis an mir selbst der Erfolg festgestellt ist; mein Leben ist ersetzlich, das deinige nicht!«

»Ich aber, Majestät,« rief Potemkin, »ich verlange sogleich die Probe zu machen; ich verlange es als einen Beweis der Gnade Eurer Majestät, die Operation könnte anders wirken im männlichen Organismus; und wenn Eure Majestät das Leben des Großfürsten vollkommen sichern wollen, so müssen Sie an einem Manne die Probe machen lassen.«

Er schob den Ärmel seiner Uniform zurück und stellte sich vor den Doktor Dimsdale.

Dieser warf einen fragenden Blick auf die Kaiserin.

»Tun Sie es immerhin,« sagte Katharina; »der General ist gewöhnt, gegen alle Feinde meines Reiches sein Leben einzusetzen, und verdient es wohl, an der Seite seiner Kaiserin voranzustehen.«

Schnell, mit sicherer Hand, vollzog Doktor Dimsdale die Operation.

»Wir sind Waffengefährten,« sagte sie dann lächelnd, indem sie Potemkin die Hand reichte. »Nun aber«, fuhr sie heiter fort, »haben wir uns lange genug mit den Blattern beschäftigt; es ist Zeit,« sagte sie mit einem spöttischen Seitenblick auf die leise untereinander flüsternde Gesellschaft, »den Nerven dieser Damen und Herren einige Erholung zu gönnen; das Schauspiel erwartet uns, wir werden den Tartüffe sehen; ich muß meinen vortrefflichen Freund Diderot heute daran erinnern, daß es auch in seinem Vaterlande einen König gab, der sich stark genug fühlte, dem Geist des großen Molière freien Spielraum in seinem Reiche zu gönnen.«

Sie nahm den Arm der immer noch zitternden Landgräfin und führte dieselbe durch die nächsten Gemächer in den kleinen Theatersaal der Eremitage.

Der Großfürst folgte mit der Prinzessin Wilhelmine. Diese schritt ernst und sinnend am Arme ihres fürstlichen Verlobten einher. Sie hatte das Haupt geneigt und flüsterte leise vor sich hin:

»Sie ist fremd und arm hierher gekommen und heute ist sie die allmächtige Herrscherin; Mut und Willen waren ihre Waffen, und Mut und Willen fühle ich auch in meiner Brust.«

Auch Potemkin war nachdenklich geworden und finster blickte er auf die voranschreitende Kaiserin. Auch seine Lippen bewegten sich, und leise wie ein schmerzlicher Seufzer klang es aus seiner Brust herauf:

»Sie kennt die Furcht nicht; wird die vergängliche Liebe des Weibes die Kaiserin beherrschen können?«


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