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16. Kapitel

Hinter der schweren, eisernen Tür, welche die Räume des Staatsgefängnisses verschloß, befand sich zuerst ein dunkler, gewölbter Raum, mit Ziegelsteinen gepflastert und nur matt erleuchtet durch das kleine, runde Fenster über der Tür; neben dem Korridor am Ende dieser düsteren Vorhalle befand sich eine zweite Tür, ebenfalls stark mit Eisen beschlagen, welche nach dem inneren Raume führte. Mirowitsch hatte mittels eines an dem äußeren Eingange befindlichen Glockenzuges ein Zeichen gegeben, die Türe des Gefängnisses öffnete sich und der Offizier, welcher bisher die Wache gehabt hatte, trat heraus. Er führte Mirowitsch durch die Vorhalle in ein einfaches Zimmer, welches nur einen Tisch, einige Stühle und einen gepolsterten Diwan enthielt; ein vergittertes Fenster öffnete die Aussicht auf einen ganz kleinen, engen Hof, welcher nur um die Mittagsstunde von der Sonne beschienen wurde; eine Tür in der Seitenwand stand halb offen. Mirowitsch erhielt von seinem Vorgänger die Schlüssel, und dieser eilte davon, froh, daß der peinliche und langweilige Dienst vorüber war.

Mirowitsch betrachtete einen Augenblick sinnend die halb angelehnte Tür.

»Hier in diesem Kerker«, sagte er, »liegt der feste Punkt des Hebels, durch welchen eine kühne und geschickte Hand die von der ganzen Welt gefürchtete und bewunderte Macht jener Katharina emporschnellen und zertrümmern kann; wird meine Hand, die ich jetzt an diesen furchtbaren Hebel lege, stark und fest genug sein? – Nach dem ersten Druck ist kein Rückweg mehr möglich; ich muß siegen oder untergehen! Noch kann ich zurückweichen, noch kann ich die Sicherheit im dunklen Schatten liebeleerer Armut und Niedrigkeit bewahren, statt um des Lebens höchstes Glück, um Liebe, Macht und Ehre mit dem Einsatz des Lebens selbst zu spielen. – Nein, nein, fort mit jeder Regung der Feigheit! Tausendmal lieber will ich unter dem flammenden Wetterstrahl in kühnem Kampfe zusammenbrechen, als verkümmern in verachtetem Elend! – Sie haben mir mein Recht verweigert, mögen sie ihren durch Verrat ausgerichteten, mit Blut gekitteten Thron wahren! Mein Schicksal und das Schicksal Rußlands hängt an diesem Augenblick; vorwärts, dem Mutigen lächelt das Glück! Kein furchtsamer Blick soll sich mehr rückwärts wenden!«

Festen Schrittes näherte er sich der Seitentür und trat auf die Schwelle des Nebengemachs. Ein eigentümlicher Anblick bot sich ihm hier dar.

Die Wände des ziemlich großen Zimmers waren einfach weiß getüncht wie diejenigen des Wachraumes, die Fenster waren außer dem Außengitter auch noch von innen durch mächtige Eisenstangen verwahrt und die Scheiben mit weißer Ölfarbe angestrichen, so daß nur ein doppelt gedämpftes Licht aus dem kleinen Hof hereinfiel und jeder Verkehr nach außen hin selbst durch Zeichen unmöglich gemacht wurde. Der Fußboden war mit einfachen Eichenbohlen bedeckt, und ein großer Ofen von blauen Kacheln diente zur Erwärmung während des Winters. In sonderbarem Gegensatz zu dieser äußersten Einfachheit des Zimmers stand ein großes Bett von schön geschnitztem Eichenholz mit reichen Goldverzierungen; schwere Vorhänge von purpurroter Seide hingen von dem Betthimmel herab, und schwellende Kissen bedeckten diese prachtvolle und üppige Lagerstätte; silbernes Waschgerät stand auf einem Tische daneben. An der Wand befand sich ein großer Eichenschrank, durch dessen geöffnete Tür man eine reiche Menge prächtiger Gewänder von kostbaren Stoffen, in Gold und Silber gestickt, erblickte; eine kleine Seitentür hinter diesem Schranke führte in einen zweiten, dunkleren und niedrigeren Raum. In der Mitte des Zimmers stand ein großer, mit purpurnem Samt bedeckter Tisch, und neben demselben saß in einem vergoldeten Lehnstuhl der Gefangene, ihm gegenüber der Sergeant Wjatscheslaw Michaelowitsch Pauloskow, welchen die Kaiserin Elisabeth ihm zur Gesellschaft bestimmt hatte, indem sie zugleich den Gouverneur dafür verantwortlich machte, daß er niemals die Festung verlassen und mit niemand verkehren dürfe. Zwischen beiden auf dem Tische stand ein Brettspiel, mit welchem sie eifrig beschäftigt waren. Die riesige, sechs Fuß hohe Gestalt des unglücklichen, in der Wiege entthronten Iwan erschien noch gewaltiger durch die Fülle, welche seine Glieder mit dem männlichen Alter angenommen hatten. Er trug einen Rock von altrussischem Schnitt aus purpurroter Seide, mit schwarzem Zobelpelz verbrämt und mit goldenen Schnüren besetzt, Stiefel von gelbem Leder und eine purpurne Pelzmütze auf dem lang herabwallenden, reich gelockten, dunkelblonden Haar; sein schönes, edel geschnittenes Gesicht war von einem dichten, krausen Vollbart umrahmt und über den großen, dunkelblauen Augen wölbte sich eine breite, reine Stirn. Der unglückliche Gefangene würde das Ideal männlicher Schönheit gewesen sein ohne die zu stark gerötete Farbe seines Gesichts und ohne den Ausdruck unbändiger Wildheit, der zuweilen seine Züge entstellte.

Der Sergeant Wjatscheslaw Pauloskow, welcher die Uniform des Regiments Preobraschensk trug, mußte fast achtzig Jahre alt sein; sein Bart und sein spärliches Haar waren schneeweiß, sein verwettertes, faltenreiches Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt, sein Rücken war gekrümmt, aber doch blitzte noch jugendliches Feuer aus seinen von buschigen, weißen Brauen beschatteten Augen hervor.

»Du bist geschlagen, Wjatscheslaw Michaelowitsch«, rief Iwan freudig. »Dies ist dein letzter Stein, ich nehme ihn, es ist aus mit dir; meine Armee ist siegreich auf allen Punkten, wie die des großen Kaisers es war, der die Schweden und die Türken schlug, wie du mir erzählt. O warum,« sagte er klagend und drohend zugleich, »warum sind meine Armeen nur kleine Holzstückchen, da mich doch Gott dazu bestimmt hat, tapfere Männer in den Kampf zu führen? Warum –«

Er stockte und fuhr erschrocken zusammen, denn er hatte, aufblickend, Mirowitsch auf der Schwelle des Zimmers bemerkt.

»Wenn sie ihn so sehen könnten,« sagte der Offizier bewegt, »alle Völker Rußlands, würden sie nicht glauben, daß der Geist des großen Zaren wieder herabgestiegen sei, um den Betrug zu strafen? Würde nur einer es wagen, ihm den Gehorsam zu verweigern, würden sie sich nicht jubelnd um ihn scharen und in einem Atemzuge das fremde Weiberregiment in den Staub schleudern?«

Dann trat er zu Iwan heran, ließ sich vor demselben auf ein Knie nieder, küßte den Pelzbesatz seines Gewandes und rief:

»Ich grüße in Ehrfurcht meinen erhabenen Herrn Iwan, den rechten Zaren aller Reußen, den Gott beschützen möge im Kampf gegen die Feinde seines Volkes.«

Iwan beugte sich entsetzt zurück, fast schien es, als ob er bei der Annäherung des Offiziers und bei dieser ungewohnten Anrede einen Angriff fürchte. Abwehrend streckte er die eine Hand aus, während er mit der andern das Brettspiel ergriff, wie wenn er dasselbe als Waffe benützen wolle. Der alte Wjatscheslaw war bei dem Eintritt des Offiziers aufgestanden und hatte, wenn auch ein wenig in den Knien zitternd, vorschriftsmäßig sein militärisches Honneur gemacht. Zornig blitzten seine Augen und, ohne seine dienstliche Stellung zu verändern, sagte er:

»Es ist nicht recht von Euch, Herr, daß Ihr so Euern Spott treibt; es ist ein hartes Los, die Freiheit zu entbehren; man soll den Menschen nicht verspotten, der in der traurigen Gefangenschaft das herrlichste Gut seines Lebens entbehren muß, und wäre er auch selbst ein niedriger Knecht, und wäre er auch ein Verbrecher; aber den zu verspotten, Herr, der im Kerker schmachtet, während doch das heilige Blut der Zaren in seinen Adern fließt, das, Herr, ist sündhafter Frevel. Ihr seid jetzt mächtig über ihn, aber bedenkt, daß über Euch Gott in seinem Himmel richtet, und daß er es rächen wird, wenn Ihr in frevelhaftem Übermut das Haupt seines Gesalbten beleidigt, den das Unglück noch heiliger und unverletzlicher machen sollte.«

Iwan war ebenfalls aufgestanden und hatte seinen Stuhl zwischen sich und Mirowitsch geschoben, mit blitzenden Augen jede Bewegung des Offiziers verfolgend.

»Du hast recht, alter Mann,« sagte Mirowitsch, »aber mich trifft dein Vorwurf nicht; denn bei Gott und allen seinen Heiligen, fern sei es von mir, daß ich so edles und erhabenes Unglück verspotten sollte! – Meine Worte sind Ernst, feierlicher Ernst; noch einmal begrüße ich in Ehrfurcht den rechten Zaren, noch einmal rufe ich den Segen des Himmels auf ihn herab, damit zum Heile seines Volkes sein Kerker sich öffne und die Krone sein Haupt schmücke!«

»Wer ist das, Wjatscheslaw Michaelowitsch!?« rief Iwan, dessen Gesicht zu zucken begann und dessen Blicke sich unstet verwirrten; »ist es ein Nasboinick, der wieder kommt, um mich fortzuschleppen in einen schlimmeren Kerker, nachdem sie mich so lange vergessen haben? O,« rief er wild, »diesmal soll es ihnen nicht gelingen; ich bin ein Mann geworden in all den langen Jahren, deren Zahl ich vergessen habe, und ich fühle die Kraft in mir, sie mit meinen Händen zu erwürgen!«

»Seid ruhig, seid ruhig, erhabener Herr, und hört mich an«, sagte Mirowitsch, während der alte Wjatscheslaw besorgt zu Iwan herantrat. »Hört mich an; ich bin kein Rasboinick, kein Werkzeug der Fremden, welche auf dem Throne Eurer Väter sitzt, ich bin ein rechtgläubiger Sohn der Kirche, und ich schwöre Euch, daß ich gekommen bin, für Euch mein Leben einzusetzen; Gott wird mit uns sein und meinem Plan Gelingen geben. Ich werde Euch hinausführen aus diesem Kerker in die Mitte Eures treuen Volkes, das den rechten Zaren erkennen wird; Ihr werdet zu Gericht sitzen über die, die Euch verfolgen, und in Eurer Hand das Schwert der russischen Macht schwingen!«

»Wjatscheslaw,« sagte Iwan, »sieh' ihn an, in seinem Auge steht geschrieben, daß er die Wahrheit spricht; oh, ich habe genug tückische Verstellung und grausamen Haß in den Blicken der Menschen gesehen, mich betrügen sie nicht; sieh' ihn an, Wjatscheslaw, dieser spricht die Wahrheit!«

»Ja, bei Gott, ich spreche die Wahrheit, erhabener Herr!« rief Mirowitsch; »vertraut mir, ich werde Euch die Freiheit wiedergeben und Euch zur Herrschaft führen, die Euch gebührt! Und ich hoffe,« fügte er hinzu, »daß Ihr dann, wenn Ihr von dem Throne Eurer Vorfahren herab auf Euer Volk niederblickt, daß Ihr Euch dann gnädig Eures Dieners Wassili Mirowitsch erinnern werdet, der Euch zuerst im Kerker als Kaiser begrüßte und Euch in die Freiheit hinausführte!«

Iwan sah ihn starr an, seine Augen öffneten sich weiter und weiter; er schien in unendliche Fernen zu blicken.

»Der erste, der mich als Kaiser begrüßt, der mich in die Freiheit hinausführt«, sagte er halbleise in wunderbar ergreifendem Ton; »das seid Ihr nicht. Es gab einst einen mächtigen und gewaltigen Mann; er war ein Priester und trug das Ordenskleid des heiligen Alexander Newski, von dessen Macht er mir oft erzählte – die Kraft seiner Arme war so stark, daß er mich niederwarf wie ein Kind, wenn ich mit ihm rang –, doch war er so mild und so gut, so fromm und so treu, und auch er hat mich begrüßt als Kaiser, auch er hat mich in die Freiheit geführt zweimal, und dennoch habe ich immer die Freiheit nicht erreicht. Einmal führte er mich fort durch weite Schneefelder, aber dennoch war das Ende unserer wilden Fahrt nur ein neuer Kerker. Zum zweiten Male führte er mich hinaus in eine große Stadt; ich sah einen Tempel vor mir und durch dessen Türe einen strahlenden Altar, und ein hoher Priester kam mir entgegen; schon glaubte ich die Hand ausstrecken zu können nach der Krone, die sie mir vom Haupte gerissen, da wurde die Hölle wieder mächtig, und wieder wurde ich gefesselt und wieder in diesen Kerker zurückgeführt; und als ich das erstemal in die Freiheit hinauszog, da kostete es das reine Blut meiner Nadejda, die hier auf Erden schon ein Engel war und die jetzt vom Throne Gottes zuweilen herabschweben darf, mich zu trösten in meinen Leiden; und das zweitemal, als ich fast schon die Freiheit gewonnen hatte, da fiel der Vater Philaret selbst; ich sah ihn blutend niedersinken, während sie mich fortrissen, ich habe ihn niemals wiedergesehen; auch er ist bei Gott, wie meine Nadejda.«

Iwans Stimme war immer dumpfer geworden, er umspannte krampfhaft die Lehne des Sessels; seine glanzlosen Augen schienen die Kraft des Blickes verloren zu haben.

Der alte Soldat stand neben ihm, die Arme ausbreitend, als ob er ihn unterstützen wolle.

Mirowitsch sprang erschrocken auf und eilte näher heran. Der gebrechliche Greis konnte Iwans schwankendem Riesenkörper keine Stütze bieten.

»O Herr, Herr,« sagte der alte Wjatscheslaw jammernd, »was habt Ihr da getan, warum habt Ihr die furchtbaren Erinnerungen der Vergangenheit wieder in ihm wachgerufen? Sein Anfall wird wiederkommen, von dem er so lange frei war. Oh, das ist schrecklich, das ist schrecklich!«

»Nein, Alter, nein,« rief Mirowitsch, »das wird nicht, das darf nicht sein! Fort mit den Erinnerungen der Vergangenheit«, rief er, sich zu Iwans Ohr beugend; »die Vergangenheit ist finster und dunkel, erhabener Herr, die Zukunft ist hell und strahlend, sie zeigt Euch, Macht und Größe, Herrlichkeit und Ruhm; wendet den Blick von der Vergangenheit, richtet ihn auf zu der sonnigen Zukunft, der Ihr nahe seid, wenn Ihr wollt, wenn Ihr den Mut habt, die Hand auszustrecken nach Eurer Krone, um sie von einem unwürdigen Haupte herabzureißen!«

Iwan schien die Worte des jungen Offiziers wohl zu vernehmen, aber er antwortete nicht, er wendete den Blick nicht zu ihm hin; langsam nur richtete er sich auf, er breitete die Arme aus, seine Blicke richteten sich aufwärts, ein Schimmer der Verklärung überstrahlte sein Gesicht; mit leiser Stimme sagte er:

»Ja, ja, er spricht die Wahrheit; ich sehe dich, meine Nadejda, lange hast du dich nicht zu mir herabgeneigt aus den lichten Höhen; du lächelst mir, deine Hand streckt mir eine Palme entgegen und über der Palme in den Wolken schwebt eine leuchtende Krone. Ja, ja, diesmal werde ich das Ziel erreichen, diesmal winkt die Vollendung und der Sieg!«

Eine Zeitlang stand er so mit ausgebreiteten Armen und strahlenden Blicken, sich immer höher aufrichtend, da; der alte Wjatscheslaw hatte die Hände gefaltet und betete leise; Mirowitsch blickte in ängstlicher Spannung zu der Heldengestalt des Gefangenen auf, welche in diesem Augenblick wie von überirdischem Licht übergossen schien.

Endlich sanken Iwans Arme herab, er schüttelte den Kopf, als ob er aus einem Traume erwache; seine Blicke wurden klar, und mit einer so hoheitsvollen Miene, als ob er sein ganzes Leben auf dem Throne zugebracht habe, sagte er:

»Wassili Mirowitsch habt Ihr Euch genannt; ich glaube Euch und vertraue Euch, denn ich habe die Siegespalme in der Hand eines Engels erblickt und die Krone gesehen, die mir aus schimmernden Wolkenhöhen entgegenstrahlte. Wassili Mirowitsch, Euer Name wird fest eingegraben bleiben in meinem Geist und meinem Herzen, und ich schwöre Euch bei den Heiligen des Himmels, bei dem Namen des Engels, der sich verheißungsvoll zu mir herabbeugt, Euer Name soll der erste sein in meinem Reiche, wenn Euer Werk gelingt, und vor niemand sollt Ihr Euch beugen im weiten Rußland als vor dem Zaren allein. Wassili Mirowitsch – grabe diesen Namen in dein Gedächtnis, Wjatscheslaw Michaelowitsch, bitte Gott, daß er ihn segnen möge und daß er dir vergönne, den Befreier des gefangenen Zaren als den ersten auf den Stufen meines Thrones zu erblicken.«

Mirowitsch sank abermals vor Iwan auf die Knie nieder; er drückte die gefalteten Hände gegen seine Brust, aus seinen Blicken flammte stolze Siegeszuversicht und glückliche Hoffnung.

Der alte Wjatscheslaw aber schüttelte traurig den Kopf.

»O Herr, Herr,« sagte er, »warum habt Ihr solche Worte gesprochen, da doch niemand auf Erden die Macht hat, sie zu erfüllen? Seht diese Mauern, diese Gitter, denkt an die Soldaten draußen und an die Tausende und Abertausende, welche dem Wink der Katharina Alexiewna gehorchen; warum habt Ihr dem Armen, der so viel schon gelitten, nicht den Frieden gelassen?«

»Kleinmütiger!« sagte Iwan. »Ziemt es dem Zaren, zu entsagen und Frieden zu suchen in der Entsagung? Und wenn ein treues und mutiges Herz, ein starker Arm mir seine Stütze bietet, so darf ich es an mir nicht fehlen lassen; doch wißt wohl, Wassili Mirowitsch, es ist ein schweres und verhängnisvolles Werk, das Ihr unternehmt; zweimal hat solches Unternehmen edles Blut gekostet!«

»Mein Blut gehört Euch, erhabener Herr,« erwiderte Mirowitsch, »und mit meinem Leben habe ich abgeschlossen!«

»Doch wie wollt Ihr so Ungeheures vollbringen?« fragte Wjatscheslaw. »Selbst wenn es gelingen sollte, diese Mauern zu durchbrechen und die Wachen zu täuschen, was wollt Ihr ausrichten gegen die Heere der Katharina Alexiewna?«

»Seht ihn an«, sagte Mirowitsch, auf Iwan deutend; »kann das russische Volk im Zweifel sein über seinen rechten Zaren, wenn es diese Gestalt, dieses Antlitz erblickt?«

»Ja, ja,« sagte Wjatscheslaw, »sie müßten ihn wohl erkennen, wenn die Macht der Hölle nicht ihre Augen verblendete. Wenige wohl haben den großen Zaren gekannt, dessen Ebenbild er ist; aber sie müssen es ja sehen, daß Gott das Siegel der Herrschaft auf seine Stirne gedrückt hat.«

»Sie werden es sehen,« rief Mirowitsch, »all die Heere, welche die Betrügerin uns entgegensenden wird, sie werden den rechten Zaren erkennen und ihn auf ihren Armen emporheben auf den Thron seiner Väter!«

Iwan stand schweigend da während dieses kurzen Gesprächs; fürstlicher Stolz, kühner, gläubiger Mut und eine fast kindische Freude mischten sich in seinem Gesicht zu einem wundersam rührenden Ausdruck.

»Doch wie, Herr, wie soll es geschehen?« fragte Wjatscheslaw, immer noch mißtrauisch und unruhig. »Ich kann nicht mehr helfen, meine Glieder sind schwach geworden und die Last des Körpers drückt mich schwer.«

»Du hast nichts zu tun,« sagte Mirowitsch, »als wachsam den Augenblick der Befreiung zu erwarten und dafür zu sorgen, daß der Herr bereit sei, sich dem Volke zu zeigen und die rechten Worte zu sprechen; das übrige ist meine Sache. Höre meinen Plan und sorge, daß kein Blick, keine Miene die wiedererwachte Hoffnung verrät.«

Iwan setzte sich wieder in seinen Stuhl, Wjatscheslaw nahm auf seinen Befehl an seiner Seite Platz, da er das lange Stehen nicht ertragen konnte, und Mirowitsch sprach, dicht zu beiden hinübergebeugt, eifrig und leise.

In glänzender Pracht schimmerte der Kaiserpalast in St. Petersburg; ganz Europa blickte bewundernd auf Katharina, die Semiramis des Nordens, deren Heere das stolze und kriegerische Polen niederhielten und den Sultan in Stambul zittern ließen, während in den fernen Steppen am Yaik das Gespenst des entthronten Peter Feodorowitsch auf der flammenden Wetterwolke des Aufruhrs aufstieg und während hier in dem Kerker der mit unbezwingbaren Mauern umgürteten Festung ein junger, unbedeutender und unbekannter Mensch sich anschickte, den lebend begrabenen Kaiser vom Blute Peters des Großen wieder in die Welt zurückzuführen, die Krone vom Haupte der allmächtigen Selbstherrscherin zu reißen und all ihre Herrlichkeit in den Staub zu schleudern.

Ein schriller Glockenton klang durch das Zimmer. Mirowitsch eilte nach der äußeren Tür, um zu öffnen, während Iwan und der alte Wjatscheslaw ihre Plätze an dem Tische wieder einnahmen und die Steine des Brettspiels aufstellten.

Man brachte das Abendessen des Gefangenen, der nach dem Befehl der Kaiserin Elisabeth, welchen weder Peter noch Katharina zurückgenommen hatten, in allem, was seine persönlichen Bedürfnisse betraf, mit fürstlichem Überfluß bedient wurde.

Mehrere Soldaten trugen silberne Schüsseln herein, welche nach Iwans Geschmack jene kräftigen russischen Suppen, duftenden Wildbraten und gewürzte Salate enthielten; daneben stellte man Flaschen mit Ungarwein, Kwas und Branntwein und silberne Becher für den Gefangenen und den alten Wjatscheslaw, der auf dessen Wunsch seine Mahlzeiten teilte. Alles Fleisch war bereits in einzelne Bissen zerlegt. Es kamen nur Löffel auf den Tisch, und es war streng verboten, dem Gefangenen Gabel oder Messer zu geben. Auch in das Zimmer für den wachhabenden Offizier wurden von den diensttuenden Soldaten einige Schüsseln mit einem einfachen Abendessen gestellt.

Mirowitsch stand, während die Soldaten ihren Dienst verrichteten, in militärischer Haltung streng und kalt da.

Iwan grüßte mit stummem Kopfneigen die Soldaten, welche ihrerseits den Gefangenen mit mitleidigen Blicken betrachteten, denn es war bei schwerer Strafe verboten, mit ihm oder nur in seiner Gegenwart ein einziges Wort zu sprechen.

Als die Leute sich wieder entfernt hatten, sagte Iwan:

»Kommt hierher, Wassili Mirowitsch, Euer Platz ist an dem Tische Eures Kaisers, wie er es künftig allezeit sein soll, wenn Gott Eurem Plan Gelingen gibt!«

Er füllte seinen Becher mit Ungarwein, leerte ihn zur Hälfte und reichte ihn dann dem jungen Offizier, der ihn, sich ehrfurchtsvoll verneigend, austrank; dann nahm Mirowitsch an Iwans Seite Platz, und während dieses eigenartigen Mahles vertieften die drei sich wieder in leise flüsternde Gespräche über den Plan der Befreiung, den Mirowitsch ihnen entwickelt hatte.

Iwan leerte einen Becher des schweren Ungarweines nach dem andern; bald glühte sein Gesicht in dunkler Röte, seine Augen irrten unstet umher, und seine Zunge vermochte nur schwer noch die Worte zu finden. In ausgelassener Freude sprach er von der Zukunft, und wundersam malte er sich die Bilder seiner Kaiserherrlichkeit aus, die in der wirklichen Welt, welche er niemals gekannt, kaum einen Platz hätten finden können. Dann wieder gedachte er seiner Eltern und Geschwister, von denen man ihn in früher Kindheit getrennt; er fragte angstvoll nach ihnen, und als Mirowitsch ihm sagte, daß sie im Schlosse von Kolmogori in einsamer Gefangenschaft schmachteten, da stützte er, laut schluchzend, den Kopf in die Hände und flehte Mirowitsch an, die Befreiung zu beschleunigen, damit er seinen armen Vater vor allem, den er so sehr geliebt, wieder glücklich machen könne; er erzählte mit rührender Einfalt viele kleine Vorfälle und Züge aus der Zeit, da er noch als Kind mit den Seinen zusammengelebt; knirschend sprach er von der Härte der Wachen, und wie er jede Kränkung seines Vaters bitterer empfunden habe als das eigene Leid, und dann loderte sein Zorn zu hellen Flammen auf. Furchtbar war es anzusehen, wie er aufsprang und, seine Hand bis fast zur Decke des Zimmers emporreckend, einen schrecklichen Schwur ausstieß, daß er sich blutig und unerbittlich an seinen Feinden und Unterdrückern rächen wolle; mit eigener Hand wollte er ihnen die Köpfe abschlagen, wie es sein Ahnherr Peter mit den rebellischen Strelitzen getan. Der Schaum trat auf seine Lippen, seine Augen färbten sich blutig, und entsetzt sank der alte Wjatscheslaw auf die Knie vor ihm nieder, ihn beschwörend, sich zu mäßigen in seinem gerechten Zorn und daran zu denken, daß der Heiland geboten habe, auch den Feinden zu verzeihen.

»Den Feinden!« rief Iwan. »Ja, den Feinden will ich verzeihen, den ehrlichen Feinden, die mich im offenen Kampfe angreifen, aber nicht den Henkern, den tausendfachen Mördern; es ist nicht genug, ihnen das schuldbeladene Haupt vom Rumpfe zu schlagen; mit meinen Händen will ich sie in Stücke reißen und ihr Fleisch den Hunden und den Geiern vorwerfen!«

Immer wilder wurde seine Wut; die Adern seiner Stirn schwollen an, aus seinen Augen schien der Wahnsinn hervorzublicken, und immer noch leerte er einen Becher nach dem andern, ihn bald mit Kwas, bald mit Wacholderbranntwein, bald mit schwerem Ungarwein füllend.

Endlich brach er zusammen; unverständliche Worte murmelnd, sank er von seinem Stuhl; schwer atmend, verfiel er in einen todähnlichen Schlummer.

»O mein Gott,« sagte Wjatscheslaw, sich zu ihm herabbeugend, »warum hat er mit der Heldengestalt und dem Herrscherblick des großen Kaisers auch diesen unglückseligen Fluch geerbt, der seinen Geist umnachtet und seine Kraft lähmt?«

Mirowitsch blickte ernst auf Iwan nieder.

»Biete alles auf,« sagte er, »daß er für die nächste Zeit sich zurückhält, denn wenn Ähnliches geschähe am Tage der Entscheidung, wäre alles verloren.«

»Ich werde tun, was ich vermag«, sagte Wjatscheslaw traurig. »Ein Mittel gibt es, ihn zurückzuhalten; ich darf ihm nur den Namen seiner Nadejda, seiner armen, gemordeten Geliebten, nennen; aber das ist ein schmerzliches, ein sehr schmerzliches Mittel, es macht ihm Leiden, so sehr viel Leiden, daß mir das Herz brechen möchte, und er hat ja schon der Leiden genug!«

»Und doch«, sagte Mirowitsch, »brauche immerhin dieses Mittel, denn niemals dürfen wir ihn so dem Volke zeigen, das in ihm den wahren Zaren erkennen soll.«

Wjatscheslaw entkleidete den starr daliegenden Iwan so gut, als er es vermochte, dann hob er ihn, von Mirowitsch unterstützt, auf und legte ihn auf sein Lager. Er setzte sich an die Seite des Bettes; seine Blicke ruhten voll Mitleid und Sorge auf dem Schlafenden, zuweilen strich er mit der zitternden Hand über dessen heiße Stirn, leise Worte vor sich hinmurmelnd, wie wohl eine Mutter den Schlaf des geliebten Kindes überwacht.

Mirowitsch stand aus der Schwelle und blickte sinnend auf das rührende Bild.

»Wird er jemals herrschen können?« fragte er leise vor sich hin, »wird er die Zügel der Herrschaft festhalten können, wenn er so die Macht über sich selbst verliert? Er wird des Freundes bedürfen, der für ihn denkt und für ihn wacht. Dieser Freund wird da sein, er wird die Zügel halten, daß sie nicht zur Erde fallen, und er wird der wahre Herrscher sein. Adeline, du wirst stolz zu deinem Geliebten emporblicken, und nie werden deine holden Lippen einen Wunsch vergebens aussprechen.«

Abermals ertönte ein Glockenzeichen. Die Ordonnanzen kamen, um die Schüsseln abzuholen; zwei Posten mit gefälltem Bajonett stellten sich an der Türe des Zimmers auf, um hier die Wache zu halten, während Mirowitsch die Runde in den Gängen des Kastells machte.

Die Soldaten betrachteten gleichgültig den schlafenden Iwan und den alten Wjatscheslaw, sie waren gewöhnt, Ähnliches an jedem Abend zu sehen; Mirowitsch aber ging hinaus, um die zahlreichen Wachposten ablösen zu lassen und sich persönlich zu überzeugen, daß jeder von ihnen mit scharfen Patronen versehen sei und das Losungswort wohl verstanden habe.


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