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5. Kapitel

Auch der Großfürst Paul Petrowitsch hatte sich nach der Rückkehr von dem Paradeplatz nach seinen in einem Seitenflügel des Winterpalais liegenden Gemächern zurückgezogen; niemand hatte sich, nachdem die Kaiserin verschwunden war, um den Thronerben, der nach menschlicher Berechnung noch so weit ab von der Herrschaft stand und dem so gar kein Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten gestattet war, gekümmert. Das ganze Gefolge hatte sich rücksichtslos nach allen Seiten hin zerstreut und nur die in der unmittelbaren Nähe des Großfürsten Stehenden hatten sich von ihm durch eine Verbeugung verabschiedet; doch hatte man auch diesem flüchtigen und gleichgültigen Gruß deutlich ansehen können, einen wie geringen Wert man am Hofe der Kaiserin auf das Wohlwollen ihres Sohnes legte, dem nach der alten, freilich durch das Gesetz Peters des Großen aufgehobenen Erbfolge die russische Krone nach dem Tode seines Vaters gebührt hätte.

Zwar hatte die Kaiserin streng befohlen, daß bei jeder Gelegenheit ihrem Sohne die seinem Range gebührende Ehrenbezeigung erwiesen werde, und sie hielt auch sehr bestimmt darauf, daß dies bei allen offiziellen Veranlassungen den genauesten Vorschriften der Etikette gemäß geschah; allein man wollte sich lieber dem Vorwurf einer zu großen Gleichgültigkeit gegen das von der Kaiserin vorgeschriebene Zeremoniell aussetzen, als sich einer zu eifrigen Huldigung gegen den Erben des entthronten Kaisers Peter III. verdächtig machen.

Der Großfürst seinerseits, dessen natürliche Anlage zu scheuem Mißtrauen durch die gewaltsame, tragische und von dunklen Geheimnissen umgebene Katastrophe, welche die Regierung und das Leben seines Vaters beendete, noch mehr entwickelt war, empfand jeden Mangel an Rücksicht peinlich und bitter, und er pflegte daher gewöhnlich weder bei seinem Erscheinen noch bei seinem Abgange den Hof zu begrüßen, um sich nicht einer gleichgültigen oder wenigstens nicht genügend ehrfurchtsvollen Erwiderung seines Grußes auszusetzen.

Heute aber war er noch schneller als sonst, ohne nur seinen Hut zu berühren, davongeeilt, und mit dem hastigen, zuweilen in ungeduldiger Unsicherheit stolpernden Schritt, der ihm eigentümlich war, durchstürmte er die weiten Korridore, welche zu dem von ihm bewohnten Seitenflügel des Palastes führten. Er war so eilig und schien so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er sogar die militärischen Honneurs der Schildwachen nicht erwiderte, was er sonst niemals versäumte.

Vor dem Eingange zu seinen Gemächern standen zwei Grenadiere vom Paulowskyschen Regiment, welche vor dem Großfürsten nach dem damaligen Reglement präsentierten, indem sie das Gewehr mit weit ausgestrecktem rechten Arm unter dem Bajonett faßten.

Niemals ging der Großfürst bei den Posten vorüber, ohne auf das allergenaueste ihren Anzug und ihre Waffen zu mustern, wobei er jeden Knopf der sorgfältigsten Prüfung unterwarf und jedem Soldaten ein Wort der Zufriedenheit und Anerkennung sagte, wenn er alles in Ordnung fand, ebenso aber auch Tadel aussprach oder gar ernste Strafen diktierte, wenn er irgend etwas Vorschriftswidriges entdeckte.

Aber auch an diesen Posten stürmte er heute vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen, und er war schon durch den Vorsaal in sein Wohnzimmer eingetreten, als der Graf Andrej Rasumowsky ihn ganz atemlos einholte.

Das Wohnzimmer des Großfürsten war ein großer, heller Raum, welcher in auffallender Weise gegen die sonst überall in der kaiserlichen Residenz herrschende Pracht abstach.

Der Großfürst schien die militärische Neigung seines Vaters ererbt zu haben, welcher einst, als er noch als Großfürst am Hofe der Kaiserin Elisabeth lebte, mit kleinen Soldatenpuppen Schlachten und Belagerungen ausgeführt hatte; denn auch in dem Zimmer des Großfürsten Paul sah man auf breiten Konsolen, welche an den Wänden hinliefen, eine große Anzahl fünf bis sechs Zoll hoher Puppen stehen, welche feine Wachsgesichter hatten und mit künstlich gearbeiteten Uniformen und Waffen bekleidet waren; doch dienten diese Soldatenpuppen nicht zur Ausführung von Exerzitien und Manövern, wie sie einst der Großfürst Peter Feodorowitsch vorgenommen hatte, es waren vielmehr Modelle der Uniformen aller Regimenter der russischen Armee, von den Garden in ihren glänzenden Waffenrüstungen bis zu den einfachen Kosaken mit ihren Lanzen und Schaffellmützen und den Kirgisen in ihren phantastischen orientalischen Trachten. Ebenso fand man hier die Modelle der Uniformen der preußischen, österreichischen und schwedischen Armeen, und mit der äußersten Sorgfalt verfolgte der Großfürst jede Veränderung, welche in diesen Armeen an irgendeiner Litze oder Tresse vorgenommen wurde, über welche ihm die Gesandten seiner kaiserlichen Mutter stets ausführlich berichten mußten. Auf einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers wurden Pläne und Karten ausgebreitet, aufgeschlagene Bücher lagen daneben und bewiesen, daß der Großfürst durch eifriges Studium bemüht war, sich für seinen künftigen Herrscherberuf, so fern ihm derselbe auch noch liegen mochte, vorzubereiten. Wie aber sein Vater alles russische Wesen und ganz besonders die russische Sprache verachtet und verabscheut hatte, so schien der Großfürst Paul Petrowitsch umgekehrt mit besonderer Vorliebe der russischen Nation, die er einst beherrschen sollte, sich angehörig zu betrachten, denn fast alle Bücher, die auf dem Tische aufgeschlagen lagen, waren in russischer Sprache geschrieben oder in diese Sprache übersetzt worden, und man sah auch unter den in einem großen Wandschrank aufgestellten Büchern nur äußerst wenige französische und englische Werke in ihrer Ursprache. Einige breitere Ruhesitze standen in den Nischen der großen Fenster, deren Vorhänge weit zurückgeschlagen waren. Sonst sah man nur einfache hölzerne Stühle, und den einzigen Luxus in diesem Wohnzimmer des jungen Prinzen, dem seine hochstrebende Mutter ein immer glänzender sich entwickelndes Erbe vorbereitete, bildeten prachtvolle Felle von Bären, welche der Großfürst selbst auf der Jagd erlegt hatte, und von seltenen Steppen- und Wüstentieren, welche die der russischen Krone unterworfenen Völkerschaften Asiens nach Petersburg gesendet hatten; an der Wand hing ein großes Bild des Kaisers Peter I., wie er, auf dem Bollwerk von Kronstadt stehend, den Arm mit dem Feldherrnstabe nach der in der Ferne sichtbaren Flotte, der Schöpfung seines mächtigen Willens, ausstreckt. In einiger Entfernung von dem Bilde dieses großen Gründers des russischen Reiches hing in einem Rahmen von Ebenholz ein lebensgroßes, vortrefflich gemaltes Bild des Kaisers Peter III. Der seinem Ahnherrn so wenig ähnliche Fürst, welchem die Wahl zum Erben des russischen Reiches so verhängnisvoll geworden war und welcher, wie in wehmütiger Vorempfindung des ihm bevorstehenden Schicksals, während seines ganzen Lebens die Sehnsucht nach seiner deutschen Heimat im Herzen trug, war auf diesem Bilde in seiner holsteinischen Uniform mit dem Stern des preußischen schwarzen Adlers neben dem Andreasorden, dargestellt, und es war dies Wohnzimmer seines Sohnes wohl der einzige Raum des Schlosses, das er einst als Kaiser bewohnte, in welchem sein Bild noch einen Platz finden durfte. – Niemand anders hätte es gewagt, eine solche Erinnerung zu zeigen; auch hatte es nicht an Zuflüsterungen gefehlt, welche sich bemühten, der Kaiserin die Pietät des Großfürsten gegen seinen Vater als einen Mangel an Ehrfurcht und Liebe gegen sie selbst darzustellen; Katharina aber hatte, obgleich sie das Bild des von ihr entthronten Gemahls selbst bei einem Besuche in dem Zimmer ihres Sohnes gesehen, niemals ein Wort der Mißbilligung gesprochen oder eine Andeutung gemacht, daß sie die Entfernung jenes Bildes wünsche. So behielt denn dasselbe seinen Platz, stets geschmückt mit einem Kranz von Immergrün, und oft blickte der Großfürst mit gefalteten Händen lange zu dem Bilde seines Vaters auf, als wolle er in dessen bleichem, schwermütigem Gesicht die Lösung der Rätsel suchen, welche das Ende seiner Regierung und seines Lebens umhüllten, während die großen, trübe blickenden Augen des Kaisers zu fragen schienen, ob dem Sohne ein gleich tragisches Schicksal bestimmt sei.

Als der Großfürst in seinem Zimmer angekommen war, warf er seinen Hut und seinen Degen hastig von sich und rief, indem er erschöpft von dem eiligen Gange auf einen Polstersitz niedersank: »Eile hinaus in den Empfangssaal, Andrej Cyrillowitsch, dort füllt der Gärtner täglich die Vasen mit frischen Blumen – wähle die schönsten aus – die schönsten – hörst du, und bringe sie hierher!«

»Zu Befehl, Kaiserliche Hoheit,« sagte der Graf Rasumowsky verwundert – »doch ich begreife in der Tat nicht – ich habe noch niemals bemerkt, daß Eure Kaiserliche Hoheit eine so große Neigung für die Blumen haben –«

»Ich habe sie auch heute nicht, Andrej Cyrillowitsch; ich ziehe die Bäume vor, die gerade und aufrecht dastehen wie tüchtige Soldaten und mit denen der Wind nicht spielen kann. Aber siehst du, wir sind Männer, wir sind Soldaten – für uns paßt, was nach Ordnung und Regel gerade aufwärts emporwächst, – aber die Damen – deren Element sind die Blumen, die so zart, so leicht und so schmiegsam sind wie sie selbst – und die Damen lieben die Blumen – die Prinzessin Wilhelmine vor allen; sie hat es mir gesagt.«

Rasumowsky sah, leicht zusammenzuckend, den Großfürsten fragend an, dann verbeugte er sich tief und sagte: »Ich gehe, Eurer Kaiserlichen Hoheit Befehl auszuführen.«

Als der Großfürst allein war, eilte er einige Male unruhig im Zimmer auf und nieder, während er mit seinem Taschentuch der heißen Stirn Kühlung zuwehte.

»Ja,« sagte er, »ja, sie soll es sein! – Sie ist kühn und stolz und mutig, ganz anders. als ihre Schwestern, mit denen ich kein Wort zu sprechen weiß. Sie wird mir zur Seite stehen, sie wird mir Mut machen, wenn mich die scheue Bangigkeit überfällt, deren ich so oft nicht Herr werden kann – ja, mein Entschluß ist gefaßt, nicht länger will ich zögern. Die Kaiserin wünscht es, – sie wird begreifen, daß ihr Sohn kein Kind mehr ist, wenn er erst eine eigene Familie hat – ich werde meinen Hofstaat für mich haben – ich werde Herr in meinem Hause sein. – Herr in meinem Hause wenigstens,« fügte er bitter hinzu, »da ich sonst nirgends Herr sein kann in diesem Lande meiner Ahnen – und ich werde keinen Hofmeister mehr haben, wenn ich erst eine Frau habe – ich liebe ihn, diesen guten Panin, er meint es treu mit mir und würde sein Leben für mich lassen, aber ich bin zwanzig Jahre alt, und ich würde endlich meinen braven Freund hassen müssen, wenn er noch länger mein Hofmeister sein sollte.«

Der Graf Rasumowsky kehrte zurück; er trug eine große silberne Schale, welche mit Blumen aller Art gefüllt war.

»Hier, Kaiserliche Hoheit,« sagte er lachend, »ich glaube, das wird genügen – ich habe alle Vasen geplündert und das Schönste daraus genommen.«

»Gib her, gib her,« sagte Paul eifrig, »ich will der Prinzessin Wilhelmine ein Bukett senden – du sollst es ihr bringen, da die Etikette verbietet, mich selbst zu ihr zu begeben; aber«, fuhr er fort, indem er zögernd und unschlüssig die Blumen in der Schale durcheinander warf – »wie machen wir das? Alle diese Blumen kannst du ihr unmöglich bringen; wir müssen etwas Hübsches, etwas Bedeutungsvolles zusammenstellen, und ich verstehe das nicht. Ich habe einmal gehört, daß die Blumen eine Sprache haben sollen; die Araber schreiben sich Briefe durch Blumen – weißt du etwas davon? Hier wäre die Gelegenheit, eine solche Blumensprache zu benützen.«

»Und was wollen Eure Kaiserliche Hoheit in dieser Sprache sagen?« fragte Rasumowsky.

»Ich will ihr sagen,« rief Paul lebhaft, »daß ich sie liebe –« Er stockte.

»Ob ich sie liebe,« fuhr er dann fort, »das weiß ich freilich nicht – meine arme kleine Sophie liebte ich anders – sie war ein Kind, mit dem ich tändelte, und ihre sanften, klaren Augen machten mich ruhig und still. Ich war traurig, als meine Mutter sie von hier fortschickte und mir sagte, daß ich sie nicht wiedersehen dürfte, weil ich jetzt eine Gemahlin wählen müsse; aber ich habe mich darein gefunden, – sie konnte ja doch nicht bei mir bleiben – sie wird glücklich sein, wenn sie eine Zeitlang geweint hat, und alles wird vielleicht vergessen werden. Aber die Prinzessin Wilhelmine,« rief er, indem seine Augen aufblitzten – »ihr Blick macht mich nicht ruhig und still, er läßt mein Herz höher schlagen, ich möchte in unruhigem Drange in die Welt hinausstürmen, um irgend etwas für sie zu tun, und wenn sie einmal mein wäre, so würde ich mich nicht von ihr trennen, wie ich mich von der kleinen Sophie getrennt habe, ich würde sie festhalten und verteidigen gegen die ganze Welt!«

»Nun, Kaiserliche Hoheit,« erwiderte darauf Rasumowsky, »wenn es so steht, werden Ihre ergebensten Diener wohl bald eine neue Gebieterin haben.«

»Das werden sie, Andrej Cyrillowitsch,« sagte der Großfürst, »das werden sie – doch nun diese Blumen, wie machen wir das?«

Rasumowsky blickte sinnend auf die durcheinander geworfenen Blumen.

»Hier, gnädigster Herr,« sagte er, »diese halb erblühte Rose, das ist das Bild der Prinzessin!«

»Ganz recht, ganz recht!« rief Paul, »doch ist die Rose zu weich, zu zart, – sie ist kühner, stolzer, glühender!«

»Wir umgeben diese Rose«, fuhr Rasumowsky fort, »mit frischem Grün – das ist die Hoffnung, die in sehnsüchtigem Wunsch der Rose naht.«

Paul nickte zustimmend mit dem Kopfe.

»Unter die Rose«, sagte Rasumowsky, »legen wir diese Granatblüten – das ist die Liebe, die durch das Hoffnungsgrün zu ihr emporschaut.«

»Ganz recht – ganz recht!« rief der Großfürst, indem er Rasumowsky ganz glücklich auf die Schulter klopfte.

»Nun«, fuhr dieser fort, »umgeben wir das Ganze mit bunten Blüten aller Art, – sie sind ein Bild des reichen Glückes, das die Zukunft der jungen Rose bereiten soll, und diese Blüten umwinden wir«, fuhr er fort, »mit einem Bande. Ja, Kaiserliche Hoheit, das Band habe ich vergessen – woher nehmen wir ein Band? Ich werde den Kammerdiener rufen!«

»Nicht doch,« rief Paul, »nicht doch, das ist zu weitläufig und dauert zu lange. Hier,« sagte er, indem er den St.-Annen-Orden von seinem Halse nahm und das Band von dem Kreuze löste – »hier, nimm das Band, das paßt am besten für die junge Rose, der ich bis jetzt nur Holstein zu Füßen legen kann, bis einst –«

Er stockte und blickte ängstlich umher, als fürchte er, daß irgendwo ein Lauscher verborgen sein könne.

Rasumowsky knüpfte das Band des holsteinischen Ordens um die Blumen, dann drängte ihn der Großfürst ungeduldig zur Tür und befahl ihm, sogleich zu ihm zurückzukommen, sobald er seinen Auftrag ausgerichtet habe.

»Ja, es ist gewiß,« rief Paul, indem er beide Hände auf sein Herz drückte, »ich liebe sie, es ist kein Zweifel; so heiß hat mein Herz noch nie geschlagen – ich fühle mich mutiger und stärker in ihrer Nähe – o, wie schön war sie, als sie an meiner Seite dahinflog und der Wind mit ihren Locken spielte!«

Er schlug wie in glücklicher Erinnerung die Augen auf; sein Blick fiel auf das Bild seines Vaters – er schrak zusammen – düsterer Ernst legte sich auf seine Züge.

»Auch du, mein armer Vater,« sagte er, »hast wohl einst geliebt wie ich – man hat es mir gesagt, daß die Liebe die Wahl bestimmte, die du treffen mußtest – sie muß wohl schön gewesen sein damals, meine Mutter – da sie heute noch so schön ist«, fügte er bitter hinzu. »Und wohin, du armer, verratener Kaiser, hat deine Wahl dich geführt? – Auch sie ist eine deutsche Prinzessin, auch sie ist schön, kühn und mutig – warum sollte sie nicht einst die ungeduldig zuckende Hand ausstrecken nach der Krone auf dem Haupte ihres Gemahls?«

Immer finsterer zog sich sein Gesicht zusammen – das Haupt auf die Brust gesenkt, stand er lange in düsterem Sinnen da, leise Worte dumpf vor sich hin murmelnd.

»Nein, nein,« sagte er dann, wild den Kopf schüttelnd, »weicht von mir, ihr finsteren Dämonen, weicht von mir – senkt die Schauer der Vergangenheit hinab in die Tiefen eurer Abgründe – laßt mir das sonnige Licht des jungen Lebens! – Nein, nein, wenn es wahr ist, was ihr mir zuflüstert in schlaflosen Nächten, so kann so Furchtbares nur einmal geschehen. Jahrtausende sind vergangen, seit Agamemnon von Klytämnestras frevelnder Hand den Mördern überliefert wurde – so schnell kann die Natur kein Schrecknis wiederholen, das die rächenden Furien aus den Tiefen der Hölle emporsteigen läßt – fort mit den Schreckensgestalten, welche sich zwischen das blutige Andenken des Vaters und die Mutter stellen – die Mutter, welche die Krone trägt, die nach altem Recht wohl meinem Haupte bestimmt war, – sie aber hat mehr für Rußlands Größe schon getan, als meine schwache Jugendkraft es vermocht hätte! – Für Rußland will ich allen Träumen meines frühen Ehrgeizes, welche flüsternde Stimmen in mir wachrufen möchten, entsagen, wie ich künftig für Rußland die reife Manneskraft einsetzen will. Mein armer Vater ist dem finsteren Verhängnis verfallen, weil er Rußland nicht begriff und es nicht vermochte, Rußland lieben zu lernen – ich liebe es und will es begreifen lernen, und sie, der mein Herz entgegenfliegt, sie soll mich stärken und begeistern zu dem großen Beruf meiner Zukunft!«

Er wendete sich von dem Bilde seines Vaters ab, als wolle er die Gedanken verscheuchen, die dasselbe in ihm aufsteigen ließ, warf sich auf einen Diwan nieder und lehnte sich träumend in die Polster zurück.


Auch die Landgräfin von Hessen war mit ihren Töchtern, von dem Grafen Panin geleitet, in die mit glänzender Pracht ausgestatteten Gemächer zurückgekehrt, welche die Kaiserin ihr zur Wohnung hatte einrichten lassen.

Die Prinzessin Wilhelmine trug noch das mit Staub bedeckte Reitkleid, in welchem sie der Parade beigewohnt hatte. Sie ruhte auf einem Kanapee, das von exotischen Blattpflanzen umgeben war, und schien in träumende Gedanken versunken. Aber diese Gedanken mußten ihr freundlich reizende Bilder zeigen, denn ein glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen und stolze Freude blitzte in ihren Augen, als sie sich erhob und ihrer Mutter entgegenkam.

»Wie erhitzt siehst du aus, mein Kind,« sagte die Landgräfin besorgt und tadelnd; »es war sehr unvorsichtig, dich zu Pferde dem Staube und der Sonne auszusetzen; auch scheint es mir nicht passend, wenn eine junge Prinzessin als Amazone sich vor dem Volke zeigt!«

»Die Kaiserin war ja auch zu Pferde,« erwiderte Prinzessin Wilhelmine; »die Kaiserin kann doch unmöglich etwas tun, was sich für eine Prinzessin nicht ziemt!«

»Ihre Majestät die Kaiserin,« erwiderte die Landgräfin erschrocken, indem sie sich wie unwillkürlich verneigte, – »Ihre Majestät die Kaiserin ist eine große Regentin, welche alles tun kann, was sie will – für welche sich alles ziemt, und es ist sehr vermessen, wenn du dich mit ihr vergleichst – es war mir namentlich sehr unangenehm, daß du von Ihrer Majestät die Erlaubnis erbeten hattest, sie zu begleiten, ohne mich zu fragen; du wirst es dir selbst zuzuschreiben haben, wenn das Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Großfürsten mißfallen hat und wenn er das Benehmen deiner Schwestern passender gefunden und würdiger der großen Repräsentation, zu welcher Prinzessinnen eurer Geburt vom Schicksal berufen werden können –«

»Und Wilhelmine«, fiel die eine der beiden Prinzessinnen ein, »hätte doch viel mehr Ursache als wir, sich nicht der Sonne und dem Winde auszusetzen – ihr Teint war ja immer etwas brouilliert, und in der Tat ist sie fast braun gebrannt.«

»Nun,« sagte die Landgräfin, »sie wird selbst die Folgen ihrer Unvorsichtigkeit zu tragen haben – ich beklage es nur, daß ihr anmaßendes und vordrängendes Benehmen ein schlechtes Licht auf die an unserem Hofe herrschende Sitte werfen könnte, denn das würde auch euch schädlich sein. Ich bitte Sie, mein lieber Graf,« sagte sie zu Panin gewendet, »Seine Kaiserliche Hoheit den Großfürsten, Ihren erhabenen Zögling, zu versichern, daß meine Töchter nicht gewohnt gewesen sind, durch Wind und Wetter zu reiten, wie es die Prinzessin Wilhelmine heute getan, – ich habe sie zu würdiger, ihrem Range angemessener Zurückhaltung erzogen, und hier die beiden Prinzessinnen werden meiner Erziehung stets Ehre machen, auf welche Stufe sie auch der Wille der Vorsehung einst erheben möge.«

Die beiden Prinzessinnen schlugen bei dieser lobenden Anerkennung verschämt und errötend die Augen nieder.

Wilhelmine zuckte spöttisch die Achseln.

Graf Panin verbeugte sich mit seinem Lächeln, ohne ein Wort zu erwidern.

Ein Page trat ein und meldete, daß der Graf Rasumowsky im Auftrage Seiner Kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Ihre Durchlaucht die Prinzessin Wilhelmine um einen Augenblick Gehör bitte.

Die beiden anderen Prinzessinnen blickten erstaunt auf den Grafen.

Panin nahm lächelnd eine Prise aus seiner goldenen Dose.

Die Prinzessin Wilhelmine trat stolz mit dem Anstand einer Königin einige Schritte vor und winkte dem Pagen, den Grafen einzuführen, ohne eine Antwort der Landgräfin abzuwarten, welche nicht minder erstaunt war als ihre beiden Töchter.

Graf Andrej Cyrillowitsch trat mit dem Bukett in der Hand ein.

»Seine Kaiserliche Hoheit,« sagte er, indem er sich zuerst vor der Prinzessin Wilhelmine tief verneigte und dann erst die Landgräfin und die beiden anderen Prinzessinnen begrüßte – »Seine Kaiserliche Hoheit, mein gnädigster Herr, wünscht der erhabenen Prinzessin, welche an seiner Seite den russischen Truppen eine so gnädige Teilnahme bewiesen, den Dank für die liebenswürdige Unterhaltung auszudrücken, durch die sie ihn entzückte; er glaubte keinen besseren Ausdruck seines Dankes finden zu können als diese frischen, duftigen Blumen hier, die ich, wie er mir befohlen, Eurer Durchlaucht in seinem Namen überreiche.«

»Wie liebenswürdig ist Seine Kaiserliche Hoheit,« sagte die Prinzessin, vor Freude errötend, während Panin zum zweiten Male seine Finger in den Spaniol tauchte, »und wie schön sind diese Blumen!« fügte sie, das Bukett aus Rasumowskys Hand nehmend, hinzu.

»Der Großfürst hat sie selbst gewählt«, erwiderte der Graf. »Wenn ich mir erlauben darf, seinen Gedanken Worte zu geben, so hat er in dieser jungen Rose das Bild einer erhabenen Prinzessin zu erblicken geglaubt, welche die Königin der Blumen an Reiz und Anmut überstrahlt; zu ihren Füßen glüht die Liebe in dem Bilde der purpurnen Granatblüten und die hoffende Sehnsucht rankt sich im Blättergrün zu ihr empor; ringsum aber blüht in bunter Farbenpracht das Glück, welches die hoffende Liebe von der Zukunft erwartet.«

Noch hellere Glut flammte auf den Wangen der Prinzessin Wilhelmine auf, während ihre beiden Schwestern erbleichend die Lippen zusammenpreßten. Graf Panin aber nickte verständnisvoll mehrmals mit dem Kopfe, und sein Gesicht bewies, daß er völlig einverstanden mit der im Namen des Großfürsten gemachten Bestellung war.

»Seine Kaiserliche Hoheit«, fuhr Rasumowsky fort, »hat diese Blumen mit dem edlen Bande des herzoglichen Ordens von Holstein zusammengeknüpft; hätte er Zeit gehabt, seine erhabene Mutter darum zu bitten, so würde er, wie ich überzeugt bin, das edle Band der heiligen Katharina hinzugefügt haben.«

»Ich danke dem Großfürsten«, erwiderte die Prinzessin Wilhelmine, »für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit und bitte Sie, ihm zu bezeugen, wie groß die Freude ist, die er mir durch sein duftiges Geschenk gemacht; ich werde ihm heute abend bei Ihrer Majestät der Kaiserin persönlich meinen Dank wiederholen und ihm sagen, wie sehr ich allen Hoffnungen Erfüllung wünsche, die sich so sinnig in diesen grünen Blättern ausdrücken. – Aber«, fuhr sie dann, einen Augenblick zögernd, fort, »auch der Bote, der diese duftende Gabe mir gebracht, verdient meinen Dank und einen Lohn für seine Botschaft. Diese bunten Blüten hier bedeuten das Glück der Zukunft; möge es meiner Hand vergönnt sein, Graf Rasumowsky, Ihnen in diesem Zeichen die verheißende Bürgschaft alles Glückes geben zu können!«

Sie zog eine der bunten Blumen aus dem Bukett und reichte sie dem Grafen. Glücklich überrascht empfing er, leicht das Knie beugend, die Blume; seine zitternde Hand berührte die der Prinzessin, ihre Blicke begegneten sich, dunkle Glut flammte auf seinem Gesicht auf und schien auf den Wangen der Prinzessin einen Widerschein zu finden.

Sie schlug die Augen nieder und schien in die Betrachtung der Blumen in ihrer Hand versunken, während Rasumowsky mit ehrerbietigem Gruß gegen die Landgräfin sich rückwärts schreitend zurückzog.

»Nun, meine gnädigste Mama,« sagte die Prinzessin Wilhelmine, »es scheint also, daß der Großfürst mein Erscheinen zu Pferde nicht so ganz unpassend gefunden hat, und daß Ihre Besorgnis für meinen Teint unbegründet war, da Seine Kaiserliche Hoheit die Gnade gehabt hat, mich in unverdient schmeichelhafter Weise mit dieser zarten Rosenblüte zu vergleichen.«

Die Landgräfin eilte auf die Prinzessin Wilhelmine zu, schloß sie in ihre Arme und küßte sie zärtlich.

»Die Mutterliebe, mein Kind,« sagte sie, »übertreibt zuweilen die Besorgnisse, aber sie sind darum doch immer nur Beweise dieser Liebe, die ich dir vor allen aus ganzem Herzen entgegengebracht habe; ich hätte freilich ruhig sein können, ich kenne ja deinen Takt, der dich immer das Richtige treffen läßt; ich weiß ja, daß du stets meiner Erziehung Ehre gemacht hast, selbst wenn deine Schwestern zuweilen durch kleine Verstöße mir zu einer Ermahnung Veranlassung gaben,« fügte sie mit einem vorwurfsvollen Blick auf die beiden anderen Prinzessinnen hinzu, welche sich in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen hatten und leise miteinander sprachen, indem ihre Mienen und Blicke deutlich zeigten, daß liebevolle Teilnahme an der Auszeichnung ihrer Schwester nicht den Gegenstand ihres Gesprächs bildete.

»Ich wünsche Eurer Durchlaucht viel Glück,« sagte Panin, indem er ehrerbietig, aber zugleich mit einer gewissen väterlichen Herzlichkeit die Hand der Prinzessin Wilhelmine küßte, »daß der Großfürst, mein erhabener Zögling, Ihre ausgezeichneten Eigenschaften so sicher zu erkennen und zu würdigen verstanden hat. Ich bin gewiß, daß die Hoffnungen, welche in diesen Blättern grünen, sich zum Glück zweier edler Herzen und zum Wohl eines großen Volkes erfüllen werden; und ich eile zu meinem erhabenen Zögling, um die duftige Symbolik dieser Blumen in die diplomatische Sprache zu übersetzen.«

Er küßte die Hand der Prinzessin und empfahl sich den übrigen fürstlichen Damen, seine Verbeugung genau nach der Etikette abmessend.

»Komm, mein Kind, komm!« rief die Landgräfin, als Graf Panin das Zimmer verlassen hatte, »komm in mein Zimmer; wir haben vollauf zu tun, um deine Toilette für die Soiree bei Ihrer Majestät festzustellen; ich vertraue vollständig deinem Geschmack, aber immerhin ist die Leitung einer liebenden Mutter nicht überflüssig.«

Ein spöttisches Lächeln zuckte um die Mundwinkel der Prinzessin, aber sie folgte ihrer Mutter, welche sie schnell mit sich fortzog, ohne ihre beiden anderen Töchter, welche sie doch vorher als Beispiel und Vorbild aufgestellt hatte, weiter zu beachten.

Die beiden anderen Prinzessinnen blieben allein zurück und hatten Zeit genug, um ihre wenig liebevollen und zärtlichen Bemerkungen über das nach ihrer Ansicht so ganz unverdiente Glück der Schwester miteinander auszutauschen.


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