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»Wir lagen in des Kerkers Nacht,
Zu uns kein Ton des Lebens drang,
Die Toten hatten uns bewacht,
Uns selbst, uns wurde sterbensbang.
Und nun uns die Erlösung schlug,
Und als uns die Errettung kam,
Da ward die Freiheit uns zum Trug,
Und doppelt bitter ist der Gram.«
Gegen Abend kamen die Passagiere an Bord und wurden mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen. Sie erhielten eine sehr reichliche Abendmahlzeit serviert, die in der Kapitänskajüte eingenommen wurde, während derselben stellte sich Landola ein, und sofort begann das Werk.
Es war sehr finster, und zugleich lag ein so dichter Nebel auf dem Wasser, daß man nicht drei Schritt weit zu sehen vermochte. Einige der stärksten Matrosen stellten sich am Gangspill auf, und dann ging ein anderer hinab zur Kajüte, wo er von dem angeblichen Kapitän, also dem Steuermann, mit verstellter Barschheit angeredet wurde:
»Was hast du hier in der Kajüte zu suchen, he?« – »Verzeihung, Señor Capitano«, entschuldigte sich der Mann. »Es kam soeben in einem Boot ein Fremder, der mit Señor Sternau sprechen will.« – »Mit mir?« fragte Sternau. – »Ja.« – »Wer ist es?« – »Er sagte, daß er der Wirt sei, bei dem Ihr gewohnt habt. Er hat Euch unter vier Augen eine notwendige Mitteilung zu machen.« – »Gut, ich komme.«
Sternau erhob sich und folgte dem Matrosen, der ihn auf das Deck führte. Als sie an dem Gangspill vorüberkamen, fühlte er plötzlich zwei Fäuste an seiner Kehle, und zu gleicher Zeit erhielt er mit einer Handspeiche einen solchen Hieb auf den Kopf, daß er besinnungslos zusammenbrach, ohne nur einen Laut ausgestoßen zu haben.
»Der ist expediert!« lachte Landola halblaut. »Bindet ihn und schafft ihn hinunter in den Raum. Dann holen wir zunächst den einen Indianer, der in Büffelleder gekleidet ist, er scheint mir nach Sternau der Stärkere zu sein.«
Nach einiger Zeit erschien der Matrose wieder in der Kajüte und sagte Büffelstirn, daß er einmal hinauf zu Señor Sternau kommen solle. Er folgte dem Führer, nichts ahnend, und wurde ebenso widerstandslos niedergemacht. Nach kaum zwei Minuten kam Bärenherz an die Reihe und erlitt das gleiche Schicksal. Da stand Mariano auf und sagte:
»Das sieht ja ganz aus wie eine wichtige Neuigkeit, von der man nichts wissen soll. Ich werde mich einmal erkundigen.«
Er stieg die Kajütentreppe empor. Die beiden Brüder Helmers, die nun mit den zwei Damen und dem angeblichen Kapitän allein am Tisch saßen, hörten seine sich entfernenden Schritte und warteten vergeblich auf seine Rückkehr. Da verließen auch sie die Tafel und versprachen Emma und Karja, ihnen Nachricht zu bringen, was es da oben für eine so wichtige Unterredung gäbe.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich nahende Schritte hören ließen. Die Tür wurde geöffnet, und Landola trat ein. Die Damen sahen ihn mit ängstlichem Erstaunen an. Er machte ihnen eine sehr höfliche Verbeugung und meldete:
»Señoritas, haben Sie die Güte, mir zu folgen. Die Herren wollen gern mit Ihnen sprechen!«
Die beiden Mädchen kamen seiner Aufforderung ahnungslos nach. Er führte sie aus der Kajüte hinauf auf das finstere Verdeck, wo sofort zwei Männer zu ihnen traten und sie erfaßten. Als sie dabei einen Schrei des Schreckens ausstießen, gebot er ihnen Ruhe und sagte:
»Schweigen Sie! Sie haben lautlos das anzuhören, was ich Ihnen jetzt sage! Sie und die Männer, die bei Ihnen sind, haben sich so feindselig gegen mich und meine Freunde benommen, daß ich mich Ihrer Personen versichern muß. Die Herren befinden sich bereits in meinem Gewahrsam, und auch Sie sind meine Gefangenen!« – »Mit welchem Recht?« fragte Karja, die sich als gewandte Indianerin schnell faßte. – »Mit dem Recht des Stärkeren«, lachte er. »Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen. Mein Name ist Landola.« – »Landola, der Seeräuber«, hauchte Emma erschrocken. – »Ja, der Seeräuber«, antwortete er in rohem Stolz. »Es ist jeder Widerstand unnütz. Es soll den Damen nichts geschehen, ja, sie sollen sogar unter Aufsicht auf dem freien Deck promenieren dürfen, aber sobald Sie die geringste Miene machen, gegen meine Befehle zu handeln, töte ich die Señores. Sie werden diese während unserer Fahrt nicht zu sehen bekommen, sie liegen gefesselt unten im Raum, und ich werde ihnen sagen, daß sie sich allen Widerstands zu enthalten haben, weil sonst die Señoritas getötet werden.« – »Und was soll unser Schicksal sein?« fragte Karja sehr gefaßt. – »Ich werde Sie mit den Herren auf einer unbewohnten Insel aussetzen, damit mir niemand Schaden machen kann. Es wird Ihnen unterwegs nicht das mindeste geschehen, keiner meiner Leute wird Sie anrühren, aber ich verlange dafür unbedingten Gehorsam und alles Aufgeben eines Versuchs der Flucht oder der Meuterei, der Sie nur unglücklich machen würde. Jetzt kommen Sie, ich werde Ihnen den Raum anweisen, der Ihnen als Aufenthaltsort dienen wird.«
Er führte sie durch die Fockmastluke hinab in einen engen, festen Verschlag, in den er sie einschloß. Sie fielen einander dort im Finstern in die Arme. Ein einziger Augenblick hatte sie vom Gipfel des Glücks wieder in eine grauenvolle Tiefe hinabgeworfen.
Jetzt begab sich der Pirat nach dem Raum zu seinen männlichen Gefangenen. Sie befanden sich nicht etwa in dem Güterraum, in dem die Fracht aufgestapelt zu werden pflegt, sondern ganz unten auf dem unter dem Wasser liegenden Boden des Schiffs.
Es muß nämlich erwähnt werden, daß ein Schiff, selbst wenn es schwer beladen ist, Ballast mit sich fuhren muß. Dieser Ballast besteht in Steinen, Sand oder anderen schwerwiegenden Materialien, die in dem untersten Raum aufgehäuft werden, damit das Schiff tief in das Wasser sinkt. Hat es keinen Ballast, so schwimmt es zu leicht, wankt herüber und hinüber, verliert den Halt und kann sehr leicht von Wind und Wogen umgeworfen werden. Vieles, wenn nicht gar das meiste Unglück zur See kommt davon her, daß man zu wenig Ballast eingenommen hat; das Fahrzeug folgt dann dem Steuer nicht exakt, wird durch den Druck der Segel hinten emporgehoben, bekommt einen wankenden Gang, gerade wie ein Betrunkener, und kann mit Mann und Maus in einem Augenblick untergehen, in dem ein gut belastetes Schiff gerade die beste Fahrt machen würde. So verschwinden Fahrzeuge, von denen man nicht weiß, wohin sie gekommen sind, obgleich es keine Spur von einem gefährlichen Sturm oder Orkan gegeben hat.
Der betreffende Raum des gegenwärtigen Schiffs nun war bis zur Höhe von drei Metern mit Sand gefüllt. Ein jedes, selbst das bestgebaute Holzschiff leckt, das heißt, es dringt ein ungefährlicher Teil Seewassers durch die Planken hindurch, und so kam es, daß dieser Sand eine nicht unbedeutende Menge Feuchtigkeit enthielt. In diesem nassen Sand lagen die Gefangenen. Es waren an die Rippen des Schiffs, an denen die Planken befestigt sind, Ketten eingeschraubt, an die man die Männer gefesselt hatte, und zwar in solcher Entfernung, daß sie einander zwar hören, aber nicht erreichen konnten. Außerdem waren ihnen die Hände und Füße so mit festen Tauen zusammengebunden, daß sie den Gebrauch der Glieder vollständig verloren hatten.
Als Landola mit einer Laterne zu ihnen in den selbst am hellen Tag vollständig dunklen Raum kam, fand er, daß sie alle sich von der Besinnungslosigkeit bereits wieder erholt hatten. Er untersuchte nun jeden einzelnen und setzte sich dann Sternau gegenüber, der ihn auf den ersten Blick erkannt hatte und nun wußte, daß von diesem Menschen nichts Gutes zu erwarten sei.
»Señor Sternau, erkennen Sie mich?« fragte er höhnisch.
Der Gefragte antwortete nicht und tat, als ob er seine Gegenwart gar nicht bemerkt habe.
»Ah, Sie spielen den Stolzen?« lachte Landola. »Nun, das muß ich mir gefallen lassen! Da mich aber die anderen Señores wohl noch nicht gesehen haben, so will ich ihnen sagen, daß ich Henrico Landola bin, der Kapitän der berühmten ›Pendola‹. Man nennt mich auch zuweilen Grandeprise vom Piratenschiff ›Lion‹. Nun habe ich mich Ihnen vorgestellt und hoffe, Ihnen bekannt zu sein. Antworten Sie!«
Aber keiner von ihnen sprach ein Wort.
»Gut«, meinte der Seeräuber. »Ich bin überzeugt, daß Ihnen nur die Angst die Sprache geraubt hat; darum will ich nachsichtig sein. Doch nehme ich an, daß Ihnen wenigstens das Gehör geblieben ist, und so will ich mitteilen, was ich für Absichten mit Ihnen verfolge.«
Er ließ darauf den Blick von einem zum anderen schweifen, und als er bemerkte, daß ihn auch jetzt noch keiner anblickte, nickte er mit einem boshaften Lächeln und fuhr fort:
»Ich habe den Auftrag erhalten, Sie alle unschädlich zu machen, indem ich Sie töte; Sie sind endlich in meine Hand gegeben, und ich könnte Sie mit leichter Mühe töten. Ich habe jedoch beschlossen, dies nicht zu tun, nicht etwa aus Mitleid, denn dies wäre eine Schwäche, die Henrico Landola nicht kennt, sondern aus einer einfachen Berechnung, die sich ganz von selbst ergibt.«
Er warf abermals einen forschenden Blick auf die Gefangenen, aber er bemerkte auch jetzt nicht die mindeste Miene, daß einer auf seine Eröffnungen gespannt oder neugierig war. So fuhr er denn nach einer kurzen Pause fort:
»Ich habe nämlich, wenn ich Sie unschädlich mache, auf einen großen Lohn zu hoffen. Es ist aber sehr leicht möglich, daß man mir diesen Lohn verweigert, sobald man erfährt, daß ich meinen Auftrag wirklich ausgeführt habe. In diesem Fall hätte ich keine Zeugen. Schenke ich Ihnen aber das Leben, obgleich Sie natürlich verschwinden müssen, so steht es mir später zu jeder Stunde frei, Sie wieder erscheinen zu lassen. Dadurch wird mein Auftraggeber gezwungen, mir meinen Lohn auszuzahlen. Erhalte ich ihn, so bleiben Sie verschollen für alle Ewigkeit, verweigert man ihn mir aber, so hole ich Sie ab und geben Sie unter der Bedingung frei, daß ich meine Bezahlung dann von Ihnen erhalte und natürlich meine Begnadigung dazu.«
Er sprach in so geschäftsmäßigem Ton, als ob es sich um einen geringfügigen Handel und nicht um das Lebensglück so vieler Menschen handle, und fuhr fort:
»Sie sehen, daß ich Ihnen nicht gefährlich werden will, ja, daß Sie unter Umständen sogar später auf Ihre Befreiung rechnen können. Darum denke ich aber auch, daß Sie vernünftig und dankbar sein werden. Unter dieser Dankbarkeit verstehe ich besonders ein Verzichten auf jeden Versuch, sich zu befreien. Er würde nur zu Ihrem eigenen Schaden ausfallen. Auch die beiden Señoritas sind gefangen. Man wird sie anständig behandeln, ebenso, wie man Sie nicht unnötigerweise quälen wird; aber ein jeder Rettungsversuch der einen Partei, ich gebe Ihnen mein heiliges Wort, kostet der anderen das Leben. Droht mir von Ihnen Beschwerde oder Gefahr, so töte ich die Damen, sind mir aber diese ungehorsam, so lasse ich Sie umbringen. Merken Sie sich das!«
Landola hielt inne, um den Eindruck zu beobachten, den seine Worte auf die Gefangenen gemacht hatten; aber sie lagen noch immer so regungslos wie vorher und gaben keinen Laut von sich, der ihn darüber belehrt hätte, welchen Erfolg er erreicht. Darum sagte er zum Schluß:
»Ich teile Ihnen endlich noch mit, daß Sie so liegenbleiben werden wie jetzt und daß täglich unter meiner Aufsicht jemand kommen wird, um für einen Augenblick Ihre Hände zu befreien, damit Sie essen und trinken können. Jetzt wissen Sie genug. Vergessen Sie nicht, daß Sie es mit einem Mann zu tun haben, der den kleinsten Ungehorsam mit dem Tod bestrafen wird. Gute Nacht!«
Der Kapitän nahm sodann seine Laterne auf, ging und verschloß die Luke, deren schwere, eiserne Riegel man rasseln und klirren hörte.
Einige Minuten lang blieb in dem dumpfen, feuchten Raum alles ruhig. Man hörte nur die Ratten, die auf einem solchen Schiff, besonders im Ballastraum, zahlreich zu finden sind, hin und her springen. Endlich vernahm man die Stimme des Apachen, der nur das eine Wort ausstieß:
»Uff!« – »Uff!« antwortete nach einer Weile Büffelstirn, der Häuptling der Mixtekas.
Wieder trat eine Stille von vielleicht fünf Minuten ein, bis Mariano Sternau, der sein Nachbar war, fragte:
»Was sagst du dazu, Carlos?« – »Nichts!« lautete die ernste Antwort. »Oder könnte es dir vielleicht noch während der Nacht gelingen, dich von der Kette freizumachen?« – »Unmöglich! Sie ist zu fest. Überdies sind wir ja auch an Händen und Füßen zugleich gefesselt.« – »Nun, so müssen wir uns fügen!«
Sternau sagte diese Worte mit ruhiger Stimme, aber das Knirschen seiner Zähne verriet, was in ihm vorging. Sie alle waren Männer, die dem Tod und allen Gefahren kühn in das Angesicht geschaut hatten, sie waren nicht gewohnt, zu lamentieren, denn sie wußten, daß es nur bei klarem Geist und ruhiger Sammlung möglich sei, sich aus Fährlichkeiten zu retten. Dennoch aber kochte es wohl in einem jeden von ihnen, obgleich sie zu stolz waren, dies äußerlich merken zu lassen. Erst nach einer längeren Weile sagte Büffelstirn:
»Dieser Räuber ist verloren, wenn er Karja, der Schwester des Häuptlings der Mixtekas, nur ein Haar ihres Hauptes krümmt.«
Der berühmte Jäger dachte nicht an sich, sondern nur an seine Schwester.
»Er würde die größten Martern erleiden«, stimmte der Apache bei, der auch nicht an sich dachte, sondern an das Mädchen, das er liebte, trotzdem ihr Herz auf eine kurze Weile für den falschen Rodriganda geschlagen hatte.
Es war das von den beiden so stolz und selbstbewußt gesprochen, wie es sich für Indianerhäuptlinge geziemt. Sie waren gefangen, sie hatten nicht die kleinste Hoffnung, sich von ihren Fesseln befreien zu können, und dennoch drohten sie dem Feind und sprachen davon, daß sie ihn bestrafen würden. Und Helmers, der berühmte Donnerpfeil, tat ganz so wie sie.
»Der Teufel soll sie holen, wenn sie nur die kleinste Unhöflichkeit gegen Emma begehen!« sagte er. »Wir werden in diesem verdammten Schiff nicht umkommen und ja sehen, was zu tun ist.«
Sternau, der immer an das zunächst Wichtige dachte, fragte ihn:
»Wie sind Sie überwältigt worden? Durch einen Griff um die Gurgel oder durch einen Hieb?« – »Man drosselte mich«, antwortete der Gefragte. – »So können Sie von Glück reden. Ein Hieb auf Ihre Kopfwunde hätte Sie getötet. Übrigens wollen wir jetzt nicht klagen und drohen, sondern einmal allen Ernstes versuchen, ob denn wirklich keiner seinen Ketten gewachsen ist. Mich hat man ganz besonders bedacht; ich bin doppelt so stark gefesselt als ihr. Sonst würde es mir wohl gelingen, das bißchen Eisen abzudrehen.«
Sie folgten seinem Vorschlag. Durch das Dunkel des Raumes hörte man jetzt nichts als ein angestrengtes Klirren, Zerren, Drehen und Schrauben an den Ketten.
»Es ist nichts«, sagte Mariano. »Wir müssen auf einen Zufall rechnen.« – »Das werden wir kaum dürfen. Dieser Mensch wird noch während der Nacht mit uns in See gehen«, antwortete Sternau. »Sind wir bis dahin noch nicht frei, so bleiben wir seine Gefangenen, bis es ihm beliebt, uns zu ermorden oder an einer wüsten, unbewohnten Insel auszusetzen, wie aus seinen Worten ja hervorgeht. Unterwegs aber hätten wir nicht nur mit ihm und seinen Leuten, sondern auch mit den Elementen zu kämpfen. Die Fesseln sprengen wir nicht. Es gäbe höchstens die eine Möglichkeit, daß es den Damen gelänge, uns auf irgendeine Weise ein Werkzeug zuzustellen, mit dem wir die Ketten lösen könnten. Das aber ist wohl unmöglich. Und wäre es auch möglich, so werden sie es nicht wagen, da ja ein solcher Versuch mit unserem Tod bedroht worden ist. Berücksichtigen wir zunächst, daß wir nicht getötet werden sollen. Auch ich denke an mein Weib, an alle meine Lieben, aber ich halte es für das beste und unserer würdigste, diese neue Prüfung mit Festigkeit zu tragen. Halten wir den Mut und die Hoffnung fest, ermuntern wir uns, damit unsere Gesundheit nicht zu sehr leidet, so wird uns ganz sicher eine Stunde der Freiheit und der Vergeltung schlagen. Das hoffe ich zu Gott!«
Diese festen Worte richteten die anderen wieder auf. Es entstand eine lautlose Stille. Man hörte nur zuweilen das Rascheln einer Kette im Sand, und wahrhaftig, bald bewiesen die geregelten Atemzüge, daß die Männer schliefen, trotzdem sie heute eine der größten Enttäuschungen ihres Lebens erfahren hatten und sich in einer Lage befanden, in der ein anderer verzweifelt wäre. Sie erwachten erst, als die Wasser des Meeres an die Planken rauschten, zum Beweis dafür, daß das Schiff unter Segel gegangen sei. Wohin, davon hatten sie keine Ahnung.
Warum die Stunden, die Tage und Wochen beschreiben, die da unten im dunklen Raum vergingen? Warum die Gefühle schildern, die während fast dreier Monate die Herzen der Gefangenen bewegten? Obgleich die beiden Damen Luft und Licht genießen durften, litten sie doch am meisten. Es fehlte ihnen jenes zähe Selbstbewußtsein, das die Männer besaßen, die selbst in Ketten sich ihres Wertes vollständig bewußt blieben und keinen einzigen Augenblick die Überzeugung verloren, daß der Tag der Rache einst ganz sicher kommen werde.
Man hatte länger ruhiges Wetter gehabt, man hatte Stürme erlebt, doch nie war das Schiff angehalten worden. Da endlich, endlich schlugen die Wogen leiser und langsamer gegen die Planken, hörte man den Anker rasseln – tiefe Stille trat ein, man vernahm den Schritt mehrerer Männer zur Lukentreppe herabkommen.
»Jetzt naht die Entscheidung«, sagte Sternau. »Das schlimmste Los wird besser sein als diese tödliche Ungewißheit!«
Die Luke wurde entriegelt und geöffnet. Landola trat herunter mit mehreren von seinen Leuten.
»Macht ihnen die Ketten los!« gebot er. »Aber bindet sie so, daß sie nicht stehen oder die Arme bewegen können.«
Dies geschah. Und nun wurden die Gefangenen auf das Deck geschafft, wo man sie wie Holzklötze niederlegte.
Jetzt sahen sie nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder die Sonne und den Himmel, jetzt atmeten sie zum ersten Mal wieder freie, reine Luft. Wie aber sahen diese Männer aus! Gehungert und gedurstet hatten sie nicht, aber seit Monaten nicht gepflegt, gewaschen, gekämmt, lagen sie da mit halb verfaulten Kleidern, die von den Ratten zerfetzt worden waren.
In der Nähe standen die beiden Mädchen. Sie waren heute auch gefesselt, sonst hätten sie sich sicher vor Schmerz auf die Geliebten geworfen.
Zur Rechten lag die weite See, zur Linken erblickten sie eine Insel, die von einem Korallenkreis umgeben war, an dem die Brandung haushoch emporschäumte. In diesem Brandungsring gab es nur eine Öffnung, aber auch diese war jedenfalls nur von einem stark gebauten Boot zu passieren.
Die Gefangenen hatten zunächst nur einen kurzen Blick für die Insel. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt hauptsächlich der Bemannung des Schiffs, die sich, den Kapitän an der Spitze, um sie geschart hatte. Dieser sagte zu den Gefesselten:
»Señores, wir sind am Ziel, denn diese Insel soll Ihre Wohnung sein. Sie werden nie erfahren, wie sie heißt und wo sie liegt, denn es kann Ihnen kein Mensch Auskunft geben, da sich das Eiland ganz außerhalb jeden Kurses befindet und niemals besucht wird. Sie werden nicht verhungern und verdursten, denn es gibt hier zwei frische Quelle und Früchte, Fische, Vögel und anderes Wild genug. Die Waffen, die ich Ihnen abgenommen habe, erhalten Sie nicht wieder, doch können Sie ja Schlingen legen oder Bogen und Pfeile fertigen, um sich Nahrung und Häute zu Ihren Kleidern zu verschaffen. Ich habe Ihnen gesagt, daß wir uns unter Umständen wiedersehen werden. Wenn sich Ihnen ein Schiff naht, so ist es ganz sicher das meinige, glauben Sie nicht, daß es ein anderes sein wird. Ich lasse Sie jetzt durch die Brandung an das Land fahren. Wenn sich meine Leute dann entfernt haben, können Sie sich mit Hilfe spitzer und scharfer Steine sehr leicht von Ihren Fesseln befreien. Adieu, Señores! Adieu, Señoritas!«
Die Matrosen griffen zu und legten die Gefangenen in die beiden Boote, die dann vom Schiff abstießen. Es gelang ihnen, durch die Brandung zu kommen. Am stilleren Ufer wurden die Gefesselten ausgeladen und hingelegt, dann kehrten die Matrosen zurück.
Sternau wälzte sich sofort an eine scharfe Kante des Korallenufers und rieb den Strick, der seine Hände verband, so lange gegen dieselbe, bis er zerriß. Nun schlug er ein Stück dieser Kante ab, gebrauchte sie als Messer, befreite mit demselben auch seine Füße und war frei. Nach noch nicht zehn Minuten standen alle wieder aufrecht und im Besitz des Gebrauchs ihrer Glieder da.
Nun erhob Büffelstirn die Hand, deutete auf das Schiff und fragte:
»Wünschen meine Brüder, daß wir das große Kanu unserer Feinde erobern?«
Sternau mußte trotz des Ernstes ihrer Lage doch beinahe lächeln, als er antwortete:
»Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!«
Da deutete Büffelstirn auf die Brandung.
»Fürchten sich meine Brüder vor diesem Wasser?« fragte er. »Der Häuptling der Mixtekas schwimmt durch jedes Wasser!« – »Aber ehe er hinauskommt, ist das Schiff bereits fort. Da zieht es schon die Segel wieder in den Wind. Es geht weiter. Welcher Schwimmer kann es erreichen!«
Es war so, wie Sternau sagte. Das Schiff hatte seinen Lauf wieder aufgenommen, und da es ein guter Segler war, machte es eine so schnelle Fahrt, daß die Insel, besonders da sie nicht sehr groß war, bald aus den Augen der Bemannung verschwand.
Der Kapitän aber stand oben auf dem Quaterdeck und blickte noch mit dem Fernrohr nach der Insel zurück. Als er sie nicht mehr erkennen konnte, schob er das Rohr zusammen und drehte sich nach dem Steuermann.
»Fertig!« sagte er. »Diese Herrschaften sind sicher aufgehoben.« – »Sicher?« fragte der Maat. »Wie nun, wenn es ihnen doch gelingen sollte, sich zu befreien?« – »Das gelingt ihnen nie. Sie machen mir keine Sorge, wohl aber die hier.«
Landola deutete bei diesen Worten auf seine Matrosen.
»Man wird Maßregeln treffen müssen«, meinte der Steuermann mit verschlagenem Lächeln. – »Das werden wir«, nickte der Kapitän. »Halten wir unseren Kurs nach Westnordwest. Ich will die Insel Pitcairn anlaufen.« – »Hm!« brummte der Maat, indem er langsam mit dem Kopf nickte, denn er hatte seinen Gebieter vollständig verstanden.
Die Fahrt blieb auch jetzt eine gute. Pitcairn wurde glücklich erreicht, und der Kapitän ging mit seiner Gig ganz allein an das Land.
»Das hat etwas zu bedeuten«, sagte sich der Steuermann. »Ich aber will mich in acht nehmen.«
Als Landola zurückkehrte, machte er eine sehr ärgerliche Miene.
»Es war nichts«, sagte er. »Ich wollte unsere Kerle gegen neue Mannschaften umtauschen und mich gar nicht aufhalten. Aber das geht sehr langsam hier. Wir werden einige Tage warten müssen.« – »Soll ich es nicht lieber einmal versuchen, Kapitän?« fragte der Maat.
Es war ihm jetzt nicht geheuer auf dem Schiff. Landola wollte die Zeugen seiner Tat unschädlich machen, und er selbst, der Steuermann, befand sich in derselben Gefahr, da auch er ein solcher Zeuge war. Landola jedoch machte ein so freundliches Gesicht, als sei er einer großen Sorge überhoben, und antwortete:
»Das wäre mir das liebste. Es können noch einige mitgehen, und wenn Ihr bis morgen bleibt, so könnt Ihr genug Leute finden. Vier Mann im Boot werden genug sein.« – »Völlig. So werde ich mich sogleich fertig machen.« – »Aber die Waffen nicht vergessen, denn mit diesen Eingeborenen ist nicht zu scherzen.«
Der Steuermann ging. Als er sich entfernt hatte, lachte der Kapitän höhnisch und brummte leise vor sich hin:
»Dieser Kerl durchschaut mich. Er soll der erste sein, der dran glauben muß. Wie gut, daß ich gleich die Gesellschaft des gescheiterten Walfischfängers fand, die froh ist, aufgenommen zu werden. So kann ich kurzen Prozeß machen.«
Der Kapitän stieg dem Steuermann nach. Dieser stand eben im Begriff, seine gute, mit blanken Ankerknöpfen besetzte Jacke anzuziehen. Auf dem kleinen, angeschraubten Tischchen lag ein Doppelterzerol. Der Maat hatte es bereits geladen, um eine Waffe gegen etwaige Überfälle der Eingeborenen zu haben.
»Bereits scharf geladen?« fragte der Kapitän, indem er die Waffe ergriff, wie um sie zu besehen.
Der mißtrauische Steuermann ahnte etwas. Er griff schnell zu und erwiderte:
»Halt, Vorsicht, Kapitän! Mit dem Ding ist nicht zu spaßen!« – »Das will ich auch nicht!«
Mit diesen Worten riß der Kapitän seine Hand, die das Pistol festgefaßt hatte, los und drückte ab. Die Kugel fuhr dem Steuermann durchs Auge in das Gehirn. Er stürzte sofort tot zusammen.
Nun sprang der Kapitän rasch an Deck und rief die Leute zu Hilfe.
»Der Maat hat sich verwundet!« rief er. »Er ist mit seinem Gewehr unvorsichtig umgegangen.«
Alles eilte hinab. Man fand, daß von einer bloßen Verwundung keine Rede war, er war vollständig tot. Die gefühllosen Kerle machten sich nicht viel daraus, denn nun avancierten sie ja um einen Grad. Die Leiche wurde in einen Sack gesteckt und ohne Zeremonie in das Wasser geworfen. Der Hauptzeuge war unschädlich gemacht. Nun blieben noch die anderen übrig.
Landola rief sie zusammen und teilte ihnen mit, daß nun das eigentliche Geschäft erst beginnen solle, und aus diesem Grund habe er sich die hier befindliche Bemannung eines verunglückten Walfischfahrers engagiert.
»Sie halten uns für friedliche Kauffahrer und dürfen erst nach und nach eingeweiht werden. Darum müßt ihr zunächst verschwiegen und vorsichtig gegen sie sein. Sie dürfen jetzt meinen Namen noch gar nicht ahnen.«
Die Matrosen versprachen dem Schurken, schlau zu sein. Als dann die Walfischfahrer an Bord kamen, wurden sie von der Bemannung des Schiffs freundlich empfangen. Der Kapitän aber nahm den Steuermann zu sich in die Kajüte und sagte:
»Ich habe Euch bereits mitgeteilt, daß meine Leute revoltiert haben. Sie töteten mich nur deshalb nicht, weil ich der einzige bin, der die Seerechnung versteht. Wollt Ihr mir behilflich sein, so seid Ihr morgen Steuermann. Der meinige hat sich vorhin unvorsichtigerweise erschossen.« – »Ich bin bereit«, lautete die Antwort. – »Gut. Ich gebe Euch als Willkommen einen tüchtigen Trunk. Ihr macht sie total betrunken, fallt dann mit Euren Leuten über sie her, und wir fesseln sie im Kielraum fest. Dann übergeben wir sie dem nächsten Kriegsschiff oder Konsulat zur Verurteilung.«
Von diesem Vorschlag wurde die erste Hälfte ausgeführt. Die Piraten wurden in der Betrunkenheit überwältigt, aber einer nach dem anderen erhielt von Landola Gift, so daß in acht Tagen keiner mehr lebte. Der Kapitän hatte alle Zeugen beiseite geschafft. Er galt bei seiner neuen Bemannung für einen ehrlichen Mann und ließ sich auch nicht merken, daß er das Gegenteil sei.
Er fuhr darauf nach dem Bendana-Archipel. Hier gelang es ihm, zu veräußern, was er bei sich hatte, und eine gute Ladung einzunehmen, mit der er nach Valparaiso ging. Dort brachte er es durch seine Schlauheit fertig, sich als Eigentümer des Schiffs zu legitimieren, verkaufte es mitsamt der Ladung und bestieg dann mit einer bedeutenden Summe einen Dampfer, um über Rio de Janeiro nach Spanien in seine Heimat zu gehen, wo er auch glücklich anlangte.