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Verdoja hatte unterdessen keine Ahnung von dem Schicksal, das ihm bei seiner Rückkehr nach der alten Opferstätte bevorstand. Er war mit den Mexikanern, wie der Wärter erzählt hatte, nach der Hazienda geritten. Diese war sein väterliches Erbe und gehörte zu den ungefähr sechzig Landgütern, die der mexikanische Staat Chihuahua mit der Hauptstadt gleichen Namens aufzuweisen hat. Die Hacienda Verdoja lag zwei Tagereisen von der Hauptstadt entfernt; nach Mexiko aber hatte man über eine Woche lang zu reiten. Darum waren die Vorfahren Verdojas echte Hazienderos gewesen, die sich nur der Viehzucht gewidmet hatten, der Politik aber fremd geblieben waren. Er war der erste, der dieses Prinzip aufgegeben hatte. Er war ehrgeizig und wollte eine Rolle spielen, das ist in Mexiko, dem Land der Parteigänger, leicht, aber auch schwer. Er hatte eine Ahnung gehabt, daß Juarez zur einstigen Größe berufen sei, und sich ihm angeschlossen; er hatte es unter diesem kühnen Parteigänger, dessen Zeit damals noch nicht gekommen war, bis zum Rittmeister – Kapitän – gebracht, nun aber hatte dieses Debüt ein schmähliches Ende gefunden, denn daß Juarez von ihm nichts mehr wissen möge, das konnte er sich denken.
Es war sehr spät, als er die Hazienda erreichte, und niemand hatte ihn erwartet. Er hatte zwar einen Boten gesandt, um dem Wächter Befehle bezüglich der zu erwartenden Gefangenen zu geben, aber dieser Wächter hatte zugleich die Weisung erhalten, gegen jedermann zu schweigen. Darum befand sich bei seiner Ankunft alles im tiefsten Schlaf, und er mußte einige Vaqueros wecken, die den Befehl erhielten, vor allen Dingen seine bisherigen Begleiter mit frischen, kräftigen Pferden zu versehen. Als dies geschehen war, sprengten die Mexikaner in die Nacht hinaus, derselben Richtung zu, aus der sie gekommen waren. Sie waren vollkommen überzeugt, Sternau zu fangen oder zu töten und also den versprochenen Lohn zu erhalten.
Erst jetzt konnte Verdoja an seine eigene Pflege denken. Er war noch unverheiratet, hatte aber eine entfernte Verwandte auf der Hazienda, die als Dame des Hauses figurierte. Sie empfing ihn mit Überraschung. Sie wußte nichts anderes, als daß er sich bei Juarez im Süden Mexikos befinde, und war daher erstaunt, ihn bei Nacht und Nebel ankommen zu sehen. Ihr Staunen aber verwandelte sich in Schreck, als sie bemerkte, daß ihm die rechte Hand fehlte. Sie wollte eine große Beileidsrede beginnen, er aber schnitt dieselbe barsch ab und befahl, ein Abendbrot zu bringen.
Während des Essens teilte er ihr mit, daß noch ein Gast komme, ein Señor Pardero, den der Wächter bringen werde. Auch für diesen sei ein Zimmer und ein Nachtmahl bereitzuhalten. Dann begab er sich, ermüdet wie er war, zur Ruhe.
Als er erwachte, war der Morgen bereits vorgeschritten, und die alte Señora stand mit der Schokolade bereit. Während er dieselbe wortlos verzehrte, sagte sie ihm, wie gut es sei, daß er auf der Hazienda eingetroffen war. Die Revolution hatte auch die Bevölkerung des sonst so ruhigen Staates Chihuahua ergriffen, und der Gouverneur hatte daher um militärische Unterstützung nach Mexiko geschrieben. Infolge dieses Berichts waren mehrere Schwadronen Reiter nach Chihuahua detachiert worden, die nun die Gegend durchzogen und alle Feinde der gegenwärtigen Regierung ihre Oberhand fühlen ließen.
Nun war es zur Genüge bekannt, daß Verdoja zu diesen Feinden gehöre, er diente ja unter Juarez, und darum hatte man auf der Hazienda bereits längst einen Besuch der Truppen erwartet und gefürchtet.
Verdoja hörte schweigsam zu und äußerte kein Wort darüber, ob diese Nachricht ihm Sorge bereite oder nicht. Endlich aber fragte er, die leere Tasse fortschiebend:
»Ist Señor Pardero bereits munter?« – »Señor Pardero?« – »Nun ja, der Señor, den ich gestern noch erwartete.« – »Ah, dieser? Der ist noch gar nicht da.« – »Noch nicht?« rief Verdoja erstaunt. »Und der Wächter, der ihn bringen sollte?« – »Den habe ich auch nicht gesehen.« – »Du hast es verschlafen, und man wird sich geholfen haben, wie man konnte.«
Sie machte ein sehr erzürntes Gesicht und erwiderte:
»Man kann sich hier gar nicht helfen, wie man will. Wenn Gäste kommen, so bin ich es, die zu befehlen hat, und ist es nachts, so werde ich sicherlich geweckt. Ich habe aber bis zum Anbruch des Morgens gewacht und vergebens gewartet.«
Er sagte weiter nichts, erhob sich, schritt nach dem Hof und befahl, ihm ein Pferd zu satteln. Noch während man damit beschäftigt war, kam einer der Vaqueros herbeigesprengt und meldete, daß eine sehr bedeutende Schar Dragoner im Anzug sei. Er hatte diese Meldung kaum gemacht, so sah man auch bereits die Reiter dahergesprengt kommen. Jetzt war also keine Zeit, nach der Opferstätte zu reiten.
Verdoja wartete die Ankunft der Dragoner ruhig ab, die vor dem Wohnhaus haltmachten. Dann stiegen die Offiziere ab, und der Befehlshaber, ein Rittmeister, trat mit leichtem, militärischem Gruß herzu und fragte:
»Dies ist die Hacienda Verdoja, Señor?« – »Ja«, antwortete der Besitzer. – »Sie gehört einem Señor gleichen Namens?« – »Ja.« – »Der als Rittmeister unter Juarez dient?« – »Nein.«
Der Offizier blickte Verdoja überrascht an und sagte pikiert:
»Señor, wir sind sehr gut unterrichtet!« – »Ich bezweifle dies«, antwortete Verdoja kühl. – »Señor«, meinte der Rittmeister fast drohend, »ich weiß sehr genau, daß Verdoja sich gegenwärtig in Potosi bei Juarez befindet!« – »Ha! Wenn Sie wirklich so gut unterrichtet sind, so bin ich es desto schlechter.« – »Ohne allen Zweifel. Sie sehen also ein, daß die Regierung alle Veranlassung hat, diese Hazienda zu berücksichtigen. Ich habe den Befehl erhalten, mein Quartier hier aufzuschlagen.« – »Mit der ganzen Schwadron?« – »Gewiß.« – »Auf Kosten der Hazienda?« – »Ja.« – »Gegen diese Maßregel muß ich protestieren.« – »Mit welchem Recht?« – »Mit dem Recht, das dem Besitzer zusteht. Mein Name ist Verdoja, Señor.« – »Ah, Sie sind ein Verwandter des Besitzers?« – »Nein, ich bin der Besitzer selbst. Ich befinde mich hier, aber nicht in Potosi. Sie sehen also, wer von uns beiden am besten unterrichtet ist.« – »So beruht die Sache auf einem Irrtum?« – »Wahrscheinlich. Ich stehe im Begriff, meine Vaqueros zu inspizieren; dies ist ein Ritt, der sich nicht aufschieben läßt. Quartieren Sie sich nach Belieben ein, aber denken Sie daran, daß ich nicht verantwortlich bin für das, was Sie tun. Adieu!«
Verdoja schwang sich auf sein Pferd und ritt davon, ohne einen der Dragoner eines Blickes zu würdigen. Niemand folgte ihm, und er erreichte die Pyramide unbemerkt und unbeobachtet. Rasch stieg er ab, führte sein Pferd in das Gebüsch und band es an.
An dieses Gebüsch stieß ein zersprungener Felsen, in dessen Rissen sich eine kleine Moosart angesiedelt hatte. Da, wo der Felsen auf dem Boden ruhte, schienen einige Risse tief einzuschneiden. Verdoja kniete nieder und legte die eine Schulter an den Felsen, drückte dagegen, und ein Stück dieses Felsens, das von vier Rissen eingefaßt war, wich nach innen. Jetzt wurde ein großes Loch sichtbar und auf dem Boden desselben einige harte Steinrollen, auf denen sich das Felsenstück bewegt hatte. Das Loch hatte einen Umfang, um einem Mann in gebückter Stellung Eingang zu gestatten.
Verdoja trat ein, wandte sich einer seitlichen Vertiefung zu und schob den Felsen wieder in sein früheres Lager zurück.
In dieser Vertiefung standen einige Blendlaternen von derselben Art, wie der Wächter eine getragen hatte. Verdoja brannte eine an und schritt nach einem Gang, der abwärts in den Felsen lief. Nach einer Weile ging es einige Stufen aufwärts, dann wieder abwärts, bald geradeaus, bald in einem Bogen. Er gelangte durch Felsenkammern, er kam an Zellen vorüber. Er öffnete Türen und schloß sie wieder nur durch einen leichten Druck mit der Hand, wobei ein scharfes, metallisches Klingen sich hören ließ. Und überall waren die Wände feucht, der Fußboden noch feuchter.
Endlich ging es eine Treppe aufwärts. Nachdem er auf dieselbe geheimnisvolle Weise wie vorhin noch einige Türen geöffnet hatte, kam er durch mehrere Gänge und endlich auch an die Tür, vor der die vier Gefangenen sich vergeblich angestrengt hatten. Sie wich seinem leisen Druck, obgleich sie auf der anderen Seite mit zwei Riegeln befestigt war. Er hatte noch die Tür zu passieren, die der Wächter offengelassen hatte, und trat nun in den Gang, wo die beiden Zellen lagen, in denen Mariano und Helmers angefesselt gewesen waren.
Er hatte alle diese Türen hinter sich verschlossen. Er ahnte ja nicht, daß man in diesem Gang auf ihn warte. Er glaubte, daß Pardero sich immer noch bei der Indianerin befinde und dem Wächter nicht gefolgt sei, und war der Meinung, daß dieser durch irgendeinen zufälligen Umstand verhindert worden sei, nach der Hazienda zurückzukommen.
So schritt er langsam vorwärts und bog endlich in den Gang ein, in dem die beiden Gefängnisse der Mädchen lagen. Da fiel das Licht der Laterne auf Mariano. Doch kaum hatte er ihn erkannt, so wurde er von hinten gefaßt, und Helmers rief:
»Halt! Ich habe ihn!« – »Noch nicht!« brüllte Verdoja, riß sich los und versetzte Mariano, der ihn gleichfalls packen wollte, einen Fußtritt in den Unterleib, daß der Getroffene zu Boden stürzte. Dann sprang er in langen Sätzen, die Laterne in der Hand, vorwärts.
Er ahnte im Augenblick, wie die Sache stand. Pardero und der Wärter waren getötet worden, sonst konnten die Gefangenen ja nicht frei sein. Es galt, ihnen zu entkommen und dafür zu sorgen, daß sie den Ausweg nicht fanden. Darum setzte er den Kampf nicht fort, sondern zog die Flucht vor.
»Ihm nach!« rief Helmers.
Mariano hatte sich augenblicklich wieder erhoben.
»Ohne die Damen?« fragte er. – »Ja«, antwortete Helmers. – »Aber wenn wir sie verlieren! Ich hole sie!« – »So laufe ich voran.«
Helmers sprang dem Fliehenden nach, während Mariano die Mädchen holen wollte. Es war nicht nötig; sie standen bereits hinter ihm, mit der brennenden Laterne in der Hand. Karja war sogar so vorsichtig gewesen, die Ölflasche zu ergreifen.
»Kommen Sie, schnell, schnell!« rief Mariano und eilte Helmers nach, dem es unterdessen fast gelungen war, Verdoja einzuholen. Dieser hatte die Tür erreicht. Sie sprang vor ihm auf, ohne daß er den Riegel berührte. Hinter ihr wurde ein dunkler Raum sichtbar, in dessen Mitte ein schwarzes Loch im Boden gähnte. Ein Brett führte darüber.
Verdoja betrat dasselbe in dem Augenblick, als Helmers unter der Tür erschien, sprang in eiligem Lauf über das Brett, daß es zitterte und knirschte, und hatte nur noch zwei Schritte zu tun, um den jenseitigen Rand des Schlundes zu erreichen, da – prasselte und knackte es auseinander, und er stürzte mit dem gellend ausgestoßenen Schrei: »O Dios!«, die Hände emporschlagend, in die gähnende Tiefe hinab. Man hörte seinen Körper unten aufschlagen.
»Herr Gott!« rief Helmers, unter der Tür stehenbleibend. »Er ist zerschmettert!« – »Wo, wo?« fragte Mariano, der hinter ihm angekommen war. – »Hier unten!«
Auch die beiden Mädchen kamen herbei, und Emma wollte, an den Schlund tretend, die Tür hinter sich zufallen lassen, aber Mariano erfaßte dieselbe noch zur rechten Zeit.
»Um Gottes willen, Señorita, wir dürfen die Tür nicht zufallen lassen, denn wir können sie nicht wieder öffnen und ständen dann vor diesem Abgrund, könnten nicht hinüber und hätten hier kaum so viel Platz, um bequem stehen zu können.«
Und es war so. Der Raum, vor dessen geöffneter Tür sie standen, war viereckig, aber im Boden klaffte ein wohl fünf Meter breiter Spalt in die Tiefe, der von der rechten bis zur linken Wand ging und nur mittels eines Bretts überschritten werden konnte. Diesseits des Lochs hatte der Fußboden eine Breite von nur zwei Fuß, so daß kaum Platz zum Stehen war.
Beim Schein der Laterne sahen sie, daß in der Decke ein großes Loch war, das in die Höhe ging.
»Es ist ein Brunnen gewesen«, sagte Helmers. – »Jedenfalls«, antwortete Mariano. »Horcht!«
Aus der Tiefe klangen dumpfe Laute. Helmers kniete nieder und rief hinab:
»Verdoja!«
Ein gräßliches Wimmern antwortete.
»Sind Sie bei Besinnung?« fragte der Deutsche.
Man hörte dasselbe Wimmern, aber man vernahm, daß es eine Antwort sein sollte. Einen artikulierten Laut konnte man nicht unterscheiden.
»Können wir helfen?« fragte Helmers abermals.
Aus dem auch jetzt erfolgenden Wimmern ließ sich nichts entnehmen.
»Er ist verloren; es ist wenigstens dreißig Meter tief, meinte Mariano. – »Er hat seine Strafe«, setzte Karja finster hinzu. »Aber was wird mit uns?« – »Die Tür ist offen«, antwortete Emma. »Vielleicht entdecken wir jetzt die geheimnisvolle Einrichtung.«
Sie beleuchteten den Eingang und sahen nun zu ihrem Erstaunen, daß die Seitenteile des Türgewandes sich mit der Tür geöffnet hatten. Im oberen Teil aber und in der Schwelle waren tiefe Riegellöcher zu bemerken, die in ganz gleiche Vertiefungen führten und sich in der oberen und unteren Kante der Tür befanden. Wie aber die darinnen steckenden Riegel geöffnet und geschlossen werden konnten, das war nicht zu ersehen.
Die vier Personen gaben sich die erdenklichste Mühe, dieses Geheimnis zu ergründen, aber es gelang ihnen nicht. Über den Abgrund hinüber war nicht zu entkommen; das Wimmern des Verunglückten wurde immer gräßlicher und schneidender, und so kehrten sie wieder nach dem Gang zurück, in dem sie sich vorher befunden hatten. Die Tür zu dem Brunnengemach aber ließen sie offen, indem sie das Verschließen durch dazwischen gestecktes Stroh, das sie aus der Zelle holten, verhinderten.